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Judith C. Enders · Mandy Schulze · Bianca Ely (Hg.)

Wie war das für euch?

Judith C. ENDERS

Mandy SCHULZE

Bianca ELY(Hg.)

WIE

war das für

EUCH?

Die Dritte Generation Ost
im Gespräch mit
ihren Eltern

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Editorische Notiz

Wo es erforderlich war, die Anonymität eines Gesprächspartners, seiner Angehörigen oder Freunde zu wahren, wurde ein Pseudonym verwendet. Autorinnen und Autoren, die unter einem Pseudonym schreiben, sind mit einem * gekennzeichnet.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, September 2016

eISBN 978-3-86284-354-1

Für unsere Kinder und unsere Eltern

Inhalt

Vom Sprechen und Schweigen

»Wir sollten reden!«

Mutter, Vater, Staat, Kind

Ein Gespräch zwischen Hans-Joachim Maaz und Lydia Heller

Ein ostdeutsches 68?

Anja Staemmler über die Voraussetzungen für ein offenes Gespräch mit den eigenen Eltern

Von der Ohrfeige, die ich mir verdiente

Thomas Schubert über die Suche nach den richtigen Worten

»Wie war das damals?«

»Ihr stellt die Fragen der Westdeutschen«

Ein Briefwechsel zwischen Ingrid Miethe und Bianca Ely – zwei Generationen

Blitzlicht von Andreas Wolf

Blitzlicht von Kathrin Bahr

Über den Arbeitsalltag

Claudia Liebenberg spricht mit ihrem Vater Wolfgang Neumann

Blitzlicht von Daniel Kubiak

Am Küchentisch

Axel Watzke redet mit seinen Eltern über sozialen Zusammenhalt und was davon bleibt

Blitzlicht von Marie G.

Die Tochter mit dem anderen Blick

Amanda Groschke im Gespräch mit ihrer Mutter über Arbeit und Alltag

Linientreu im Chaos

Franziska Olm über Erinnerungen und ostdeutsche Erfahrungen heute

Der kleine Kommandeur

Jakob Prings* über Identität und das Sprechen mit dem Vater

Worüber wir noch nicht sprechen können

Blitzlicht von Anja M.

Das Foto

Maike Nedo über die Suche nach Antworten

Schatten – Vater – Kind

Kathi Geiger* über den Umgang mit Sprachlosigkeit in ihrer Familie

Es bleibt nichts als Schweigen

Stefan Kretschmann* über das Schweigen in der Familie

Blitzlicht von Isabel Gebel

Was für Eltern wollen wir sein?

Ein Ost-West-Trialog

Judith C. Enders, Franziska Roggenbuck und Mandy Schulze über deutsch-deutsche Erziehung und Muttersein

Warum es sich lohnt zu reden

Die Schichten der Erinnerung

Jana Scheuring und Bianca Ely über Erinnerungskultur

Zwei Generationen – acht Begriffe

Stellungnahmen von Ines Geipel, Michael Hacker, Anne Langer, Stephanie Maiwald, Tobias Sachsenweger und Henrik Schober

Kocht Kaffee und backt Kuchen – statt eines Schlusswortes

Judith C. Enders, Mandy Schulze und Bianca Ely

Anhang

Dank

Autorinnen und Autoren

Vom Sprechen und Schweigen

Wie war das Leben für euch in der DDR? Wie habt ihr den Alltag erlebt? Welche Einschränkungen ergaben sich für euch und welche Freiräume habt ihr gehabt? Was vermisst ihr heute und was ist wirklich besser geworden? Diese und viele weitere Fragen stehen im Raum, wenn die Wendekinder mit ihren Eltern oder mit Angehörigen ihrer Elterngeneration ins Gespräch kommen.

Vor fast fünf Jahren lud die damalige Initiative Dritte Generation Ost zu einer Konferenz nach Berlin ein, die den Dialog mit den Eltern sowie der Elterngeneration in den Mittelpunkt stellte. Der Zulauf, der Gesprächsbedarf und der Wunsch, sich auszutauschen waren damals sehr groß. Seitdem ist viel Zeit vergangenen. Für viele, die ihre Kindheit in der DDR verbracht, die Wende und die Nachwendezeit als Jugendliche erlebt haben, ist die Dritte Generation Ost zu einem wichtigen Streitraum und Bezugsrahmen geworden, um die eigene Herkunft zu reflektieren. Dabei bewegte sich die Initiative immer schon in einem Spannungsfeld: Während die Bezeichnung nahelegt, es handele sich um eine Generation im soziologischen Sinne, gab es von Beginn an ein Bewusstsein dafür, dass die Initiative weder für eine gesamte Generation sprechen kann – noch will. Sie schuf vielmehr einen Ort zur Selbstvergewisserung, die Möglichkeit, Fragen zu geteilten Erfahrungen der Wende und Nachwendezeit zu stellen, die für viele bis heute von Bedeutung sind. Weil sie gar nicht wissen, wie ihre Eltern den Alltag in der DDR, die politische Wende und Nachwendezeit tatsächlich erlebt haben. Aber auch weil diese Fragen Teil des eigenen Selbstverständnisses sind und das Gefühl besteht, dass vieles unausgesprochen blieb oder verdrängt wurde.

Konflikte und Sprachlosigkeit zwischen den Generationen und gegenseitiges Unverständnis für die jeweiligen Sicht- und Lebensweisen sind gewiss keine Phänomene, die die Dritte Generation Ost allein betreffen. Der Dialog mit ihrer Elterngeneration ist jedoch in einer spezifischen Weise von den Erfahrungen in der DDR, während der Wende und der sich anschließenden Umbruchsphase geprägt. Aus vielen Gesprächen wissen wir, dass der Austausch mit den eigenen Eltern über diese Zeitspanne fruchtbar und spannend ist, aber auch in einer Sackgasse enden kann. Oft werden die Fragen der Jungen als Konfrontation oder Vorwurf aufgefasst. Das ist im Austausch innerhalb der Dritten Generation Ost deutlich geworden.

Politische Verortung, gesellschaftlicher Auftrag – zu all diesen Fragen gab und gibt es kontroverse und auch spaltende Ansichten. Weitgehende Einigkeit besteht hingegen in einem wesentlichen Punkt: Die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft und Familiengeschichte hat bei vielen zu einer neuen Selbstwahrnehmung geführt und ist eine wichtige Voraussetzung dafür, die eigene Identität verorten zu können. Das daraus resultierende Selbstbewusstsein ist nicht nur für die zukünftige Entwicklung in den ostdeutschen Bundesländern von Bedeutung. Mit welchem Selbstbild wird die junge Generation im Osten gesellschaftliche Gestaltungsaufgaben und Partizipationsprozesse mittragen und prägen sowie zukünftige Herausforderungen vom demographischen Wandel bis zur sozial-ökologischen Krise meistern?

Dieses Buch zeigt den gelungenen und weniger gelungenen Austausch mit der ostdeutschen Elterngeneration in seiner individuellen Bandbreite auf und möchte dazu ermutigen, auf ein Neues den Dialog mit den eigenen Eltern oder der Elterngeneration zu suchen.

Dieser dialogische Prozess als Brücke zur eigenen Selbstverortung ist seit Neuestem auch im privaten Umfeld auf eine aktuelle Weise relevant geworden. Rechtskonservative Strömungen finden dieser Tage großen Zulauf. Nicht nur in Ostdeutschland, aber eben auch dort, befindet sich die demokratische Kultur vielerorts in der Krise. Rassistische Hetze und Angriffe gegen Unterkünfte von Geflüchteten rufen die Welle der rassistischen Gewalt Anfang der 1990er Jahre schmerzlich ins Gedächtnis. Diese Entwicklungen werfen neben vielen anderen auch Fragen nach dem Erbe der DDR und der Nachwendezeit auf, nach den Versäumnissen und Sprachlosigkeiten angesichts von Gewalt und Ausgrenzung. Insbesondere vor diesem Hintergrund betont die Dritte Generation Ost die Notwendigkeit, den Dialog mit den Eltern zu suchen und zivilgesellschaftliches, an Menschenrechten orientiertes Handeln zu unterstützen.

Der vorliegende Band will bisherige Erfahrungen mit dem herausfordernden Gespräch zwischen der Dritten Generation Ost und der Elterngeneration in seiner Vielfalt darstellen. In Briefen, Interviews, Erinnerungen, Reflexionen, Erzählungen und Blitzlichtern, die einen kurzen Einblick in den möglichen Dialog geben, kommen beide Seiten zu Wort. Die Verschiedenheit der Texte soll inspirieren und unterhalten, aber vor allen Dingen eins: zum Dialog ermutigen!

Judith C. Enders, Mandy Schulze und Bianca Ely

Berlin, im Frühjahr 2016

»Wir sollten reden!«

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© Johanna Enders

Warum und wozu soll ein Dialog zwischen Kindern und Eltern über die DDR-Vergangenheit gut sein? In diesem Kapitel werden der gesellschaftspolitische Rahmen und die Herangehensweise an einen Generationendialog beschrieben. Ausgangspunkt ist ein Gespräch zwischen Lydia Heller und Hans-Joachim Maaz darüber, warum noch eine ganze Menge DDR in der Dritten Generation Ost steckt, und warum es sich lohnt, danach zu suchen.

Die Chancen und Schwierigkeiten eines gemeinsamen Dialogs reflektiert Anja Staemmler und fordert zum Generationsgespräch auf. Dies setzt die Beantwortung der Frage voraus, worum es in einem solchen Gespräch überhaupt gehen kann. Thomas Schubert geht in seinem Beitrag Konflikten aufgrund widerstreitender Loyalitäten nach. Das Gespräch mit den Eltern und eigene Kindheitserlebnisse stehen dabei im Mittelpunkt.

Mutter, Vater, Staat, Kind

Ein Gespräch zwischen Hans-Joachim Maaz, 1943 in Niedereinsiedel/Böhmen geboren, und Lydia Heller, 1973 in Schwerin geboren

Ich sitze im Auto, auf dem Weg nach Halle. In zwei Stunden bin ich dort mit Hans-Joachim Maaz, dem Psychoanalytiker und Kenner ostdeutscher Befindlichkeiten, zu einem Interview verabredet. Worin sieht er das Potenzial meiner Generation, also derer, die zwischen Anfang der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre in der DDR geboren worden sind? Darüber möchte ich mit ihm sprechen. Auch darüber, inwiefern dafür ein Blick in die eigene Biografie und die der Eltern notwendig ist. Ich bin Journalistin, ich bin vorbereitet. Hinter mir liegt ein halbes Jahr großer Erschöpfung, unbefriedigend erfüllter Aufträge, finanzieller Schwierigkeiten und nur gelegentlicher Telefonate mit meiner Mutter. Eine Trennung vom Vater meines Sohnes und Streit über dessen Erziehung. Ich will jetzt nicht hören, dass das vielleicht alles zusammenhängt. Ich werde ein Interview mit professioneller Distanz führen. Gerade allerdings stehe ich im Stau. Ich werde zu spät kommen.

Hans-Joachim Maaz begrüßt mich in einem großen, hellen Praxisraum in einer Villa in Halle-Giebichenstein. Mit festem Händedruck und so freundlich, als wären wir jetzt und nicht schon vor einer Stunde verabredet gewesen. Wir setzen uns an einen Tisch, holen unsere Notizen hervor, ich stelle das Aufnahmegerät an.

Vor Ihnen sitzt eine Vertreterin der Dritten Generation Ost, in die Sie in den letzten Jahren immer wieder große Hoffnungen gesetzt haben. Warum eigentlich?

Ich hatte die Hoffnung, dass diese Generation eine Auseinandersetzung führen wird, die ich für wichtig halte. Ich hab mal den Vergleich mit den 68ern gewagt: Es hat diese Studentenrevolte von 1968 gebraucht, um die autoritären Verhältnisse, die noch aus dem Dritten Reich wirkten, aufzubrechen und kritisch zu hinterfragen. Ich hab immer damit gerechnet, dass es etwas Ähnliches auch nach der Wende geben muss.

Bisher kommen aber noch nicht so viele kritische Impulse aus dem Osten Deutschlands, oder?

Vielleicht ist es noch nicht so weit. Aber – das war jedenfalls immer meine Erwartung – die Auseinandersetzung, die die Dritte Generation Ost in die Öffentlichkeit bringen kann, könnte dazu beitragen. Im Grunde genommen ist es für mich auch die Frage nach einem potenziellen dritten Weg. Der ist ja in der Wendezeit sofort grundsätzlich abgeschmettert worden. Aber heute stehen wir wieder vor der Frage, ob es nicht einen dritten Weg geben muss, angesichts der Umwelt- und Finanzprobleme und einer zunehmenden Spaltung von Arm und Reich, angesichts neuer Kriege und so weiter. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und mit der der Eltern kann dazu anregen oder ermutigen, sich auch solchen großen Fragen zu stellen.

Warum soll ausgerechnet die Beschäftigung mit der privaten Familiengeschichte dabei hilfreich sein können?

Weil der Erziehungs- oder der Beziehungseinfluss der Eltern prägende Wirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung hat, die für unser Verhalten als Erwachsene die Grundlage bildet. Erwachsene sollten daher schon fragen, was sie von ihren Eltern mitbekommen haben. Was davon taugt für die Ewigkeit? Was taugt nur situativ und vorübergehend? Und was taugt auch nicht mehr, weil ich eine neue Generation und ein anderer Mensch bin als meine Eltern. Eltern haben ja oft eine Vorstellung davon, wie ihre Kinder sein sollten und gehen entsprechend mit ihnen um. Aber das muss nicht immer mit den Möglichkeiten und Wünschen der Kinder übereinstimmen. Also diese Auseinandersetzung mit der Frage, was man Gutes und Schlechtes von den Eltern mitbekommen hat und welche Lasten man mit sich herumträgt, die braucht eigentlich jeder Mensch, wenn er erwachsen geworden ist und sein Leben leben will.

Und bei den Leuten, die ungefähr zwischen 1975 und 1989 in der DDR geboren und aufgewachsen sind, kommt jetzt noch eine politische Dimension dazu?

Diese Generation hat zwei grundsätzlich verschiedene Sozialisationsformen miterlebt. Anders als meine Generation, ich bin Jahrgang 1943. Oder die Generation Ihrer Eltern, die waren zur Wendezeit 40 oder 50 Jahre alt, die waren in ihrer Entwicklung im Wesentlichen festgelegt, da gab es keine großen Chancen mehr für Veränderungen. Die Dritte Generation Ost ist in der DDR aufgewachsen und wurde dort nach den damaligen Werten und Normen sozialisiert. Ihre Generation muss sich mit dem auseinandersetzen, was damals von den Eltern in der DDR vermittelt worden ist und was heute gar keine Gültigkeit mehr hat. Oder was gefehlt hat. Oder aber auch, was besonders wertvoll und erhaltenswert ist. Das ist ja im Vereinigungsprozess vernachlässigt oder zumindest ziemlich einseitig abgehandelt worden nach dem Motto: Im Westen alles besser, im Osten alles schlechter. Das war ein Fehler. Und im Dialog, in der Auseinandersetzung mit den Eltern könnte man erörtern, was das Leben in der DDR uns mitgegeben hat, Gutes und Schlechtes. Und was das Leben im Westen, im Kapitalismus, an Vorteilen und Schwierigkeiten mit sich bringt. Denn die Einseitigkeit verhindert ja eine differenzierte, kritische Sicht auf die Verhältnisse.

Der Dritten Generation Ost trauen Sie diese kritische Sicht in besonderem Maße zu?

Ich habe die Hoffnung, dass sie diese Auseinandersetzung führt. Und auch in einer besonderen Weise kritisch, denn man kann von ehemaligen DDR-Bürgern eher erwarten, dass sie aufgrund ihrer anderen Lebenserfahrung auch manches im Westen kritischer sehen, was der Westdeutsche betriebsblind als gegeben hinnimmt. Und wir leben heute nun mal in diesem vereinten Deutschland, in diesem vereinten Europa und stehen ganz erheblichen Problemen gegenüber: Klimawandel, Umweltzerstörung, Finanzkrise, Migration, zunehmende Armut und so weiter. Wir müssen uns darüber verständigen, wie wir weiterleben wollen. Nach welchen Regeln? Nach welchem Gesellschaftsmodell? Denn das jetzige stößt ja offenbar an seine Grenzen, steuert auf eine Krise zu.

An welche Erfahrungen denken Sie da zum Beispiel?

Ich meine, dass wir unter anderem soziale Werte, die in der DDR wichtig waren, im Zuge des Vereinigungsprozesses von Ost und West voreilig aufgegeben haben. Oder missachtet oder schlecht bewertet haben, in der naiven Vorstellung, dass jetzt alles nur besser werden kann. Dann mussten wir feststellen, dass vieles nicht nur anders, sondern manches auch schlechter geworden ist. Gerade was menschliche, soziale Beziehungen betrifft. Mit diesem Konflikt ist die Dritte Generation Ost zwangsläufig belastet und daher muss sie sich geradezu mit den Werten auseinandersetzen, die von Eltern und Schule damals vermittelt worden sind. Sie muss fragen, was davon noch Gültigkeit hat oder was verworfen werden sollte. Außerdem ist sie die Generation, von der man einen kritischen Blick auf das Leben im Westen, auf die Sozialisationsbedingungen hier und jetzt erwarten kann. Weil sie ja hier zurechtkommen muss mit den alten Erfahrungen.

Was hat man als in der DDR sozialisiertes Kind an Erfahrungen und Werten mitbekommen, die jetzt nicht mehr passen?

Ich fange mal mit dem Negativen an, weil das ja in den Medien am meisten diskutiert wird. Die DDR-Verhältnisse waren so, dass man eingeschüchtert wurde, dass man in seiner Entwicklung oft gehemmt oder in eine bestimmte Richtung gepresst wurde. Dass man möglichst viel im Kollektiv leben sollte, wenig Individualität entwickeln konnte. Und vor allen Dingen: man durfte nicht wirklich kritisch sein, keine Fragen stellen, die die Ideologie des Systems in Zweifel gezogen hätten. Die Einengung, die Einschüchterung, die Unterdrückung, die einseitige ideologische Orientierung – das sind alles sehr negative Wirkungen, die oft eben auch den unsicheren, gehemmten Menschen hervorgebracht haben, der wenig Selbstvertrauen hat, der sich schlecht selbst vertreten und behaupten kann.

Und im Gegenteil dazu: Welche Eigenschaften, die aus der Sozialisation Ost herrühren, finden Sie erhaltenswert?

Entscheidend finde ich zum Beispiel, dass die Menschen in der DDR mit viel weniger zurechtgekommen sind. Wir haben auch gelitten darunter, wenn es mal wieder etwas nicht gab, wenn man sich klar gemacht hat, was man unter diesen Bedingungen nicht erreichen konnte und so weiter. Aber wir haben damit gelebt und das subjektiv mitunter auch sehr gut. Mangel erzeugt ja auch die Kraft zu improvisieren und Beziehungen höher zu schätzen als materielles Wachstum. Beziehungskultur ist für mich der höhere Wert. Wenn Menschen beziehungsmäßig in guten Verhältnissen leben, wenn sie sich verstanden fühlen, sich austauschen können, Hilfe erfahren, selbst helfen können, dann hat das einen subjektiv höheren Wert, als wenn man sich wieder etwas Neues kaufen kann. Davon bin ich überzeugt. Außerdem hat ja auch die ideologische Enge des Systems nahezu gefordert, dass man Bereiche findet, in denen man anders leben kann als vorgeschrieben. Das waren die Freundeskreise, die Nachbarschaften, in denen man sich geholfen hat und natürlich auch zusammen geschimpft und geklagt hat. Allgemein gab es ein Interesse, mit Menschen persönlicher vertraut zu sein und sich mitzuteilen.

Aber dieses »Freiräumesuchen«, das »Sicheinrichten mit dem Mangel und in der Enge« – ist das nicht oft schlicht Opportunismus gewesen?

Natürlich konnte man Karriere machen, als Mitläufer, wenn man die Einstellung oder die Lebensweise übernommen hat, die die Partei vorgeschrieben hatte. Aber das war für viele ja auch ein Druck, eine Belastung. Man spürte die Entfremdung. Und deshalb hat man nach Lebensformen gesucht, die nicht vorgeschrieben waren. Die Leute haben sich gefragt, wie sie trotz der Beschränkungen in der DDR gut leben können. Und so etwas zu finden und zu gestalten halte ich für etwas sehr Wertvolles. Denn man musste sich ja immer auch bewähren! Es wurde viel und mit Recht darüber geschimpft, dass ungefähr drei Prozent der DDR-Bürger in irgendeiner Form etwas mit der Stasi zu tun hatten. Aber man muss auch sagen: 97 Prozent der Bevölkerung hatten nichts damit zu tun. Viele, und das würde ich auch für mich in Anspruch nehmen, haben der Versuchung widerstanden, sich der Partei oder der Stasi anzudienen. Und diese Würde zu wahren ist ein Wert! Dafür bin ich nahezu froh, in der DDR gelebt zu haben. Weil ich mich da bewähren musste. Weil ich um meine Würde kämpfen musste.

Und die Beschäftigung mit unserer Biografie und der unserer Eltern schärft den Blick für die Unterschiede?

Das kann dazu beitragen. Denn entscheidend sind die Fragen nach den inneren Werten der Menschen. Also: Wie sehr ist jemand davon abhängig, all das zu machen, was man machen soll? Wie groß ist der innere Freiraum eines Menschen, eigene Wege zu gehen, eigene Positionen zu haben, sich selbst gut verstehen und vertreten zu können? Und da wage ich kein Urteil darüber, ob es in der Hinsicht im Westen besser war als im Osten. Es war nur anders. Aber die Freiheit, die ein Mensch durch seine frühen Erziehungs- oder besser Beziehungsverhältnisse bekommt, die ist ganz wesentlich. Die Frage, wie sehr sich jemand angenommen, verstanden, bestätigt gefühlt hat. Wie gut er sagen kann: So bin ich. Das bin ich. Das bin ich nicht. Das will ich auch nicht. Wie sehr jemand gelernt hat, so etwas vielleicht auch zu verbergen. Wobei wichtig ist: Man muss nicht immer und überall zeigen, was man denkt. Aber man muss verantworten, was man zeigt und sagt und was man nicht zeigt und sagt. Je nachdem wie die jeweiligen politischen oder sozialen Verhältnisse sind.

Welche Fragen sollte man stellen, um diese Antworten zu bekommen?

Es ist hinreichend wissenschaftlich belegt, dass die frühen Erfahrungen in den ersten Lebensjahren entscheidend sind für die Prägung der Persönlichkeit, vor allem die Qualität der ersten Beziehungserfahrungen. Wir wissen auch, dass eine frühe Prägung nicht so einfach abgelegt werden kann, und wer mit einer spezifischen Prägung später in Verhältnissen leben muss, die andere Fähigkeiten und Eigenschaften erfordern, der kommt unweigerlich in Konflikte. Fragen müsste man also Mutter und Vater oder eben die nächsten Beziehungspersonen unter anderem: War ich wirklich gewollt? Wurde ich ausreichend geliebt? In welchen Bereichen und wie sehr musste ich mich anpassen? Durfte ich mich entfalten? Wurde ich hinreichend gefördert? Wurde ich in meinen Begrenzungen und Unfähigkeiten akzeptiert? Wichtig ist, nicht gleich umfassende und befriedigende Antworten zu erwarten. Viele Eltern sagen natürlich, dass sie ihre Kinder lieben und sind überzeugt, immer das Beste getan zu haben. Aber das muss beim Kind nicht unbedingt immer so angekommen sein.

Das sind jetzt alles sehr persönliche Fragen. Inwiefern können die Antworten darauf auch ein Licht auf gesellschaftliche Verhältnisse und Prägungen werfen?

Es ist schon so, dass in der DDR die Frage, ob ein Kind sich hinreichend geliebt gefühlt hat, durch die oft zu frühe Trennung von der Mutter belastet ist. Dass das Kind das Gefühl hatte, nicht so viel Liebe und Bestätigung bekommen zu haben, wie es gebraucht hätte. Und es gab einen sehr starken autoritären Einfluss durch die Vorgabe, eine bestimmte Persönlichkeit werden zu sollen, etwas Bestimmtes denken und wollen zu sollen. Für die westliche Erziehung dagegen ist der Leistungsanspruch typisch: Du musst dich entfalten! Du musst etwas Besonderes sein! Also diese individuelle und leistungsbetonte Herausforderung, bei der Grenzen eines Kindes oft nicht akzeptiert wurden. Auch da spielt mangelhafte Liebe eine Rolle, allerdings in anderer Ausprägung. Während zu DDR-Zeiten die zu frühe Trennung von Mutter und Kind oft ein Problem gewesen ist, sind im Westen die Mütter zu Hause geblieben, was nicht heißt, dass das automatisch gut für ihre Kinder war. Viele Frauen waren unglücklich, frustriert oder fühlten sich in ihrer Rolle nicht wohl. Und das überträgt sich auch auf das Kind. Nicht die reale Anwesenheit der Mutter ist entscheidend, sondern die Qualität ihrer Anwesenheit. Wie sehr sie selbst mit sich zufrieden ist, das geht auf das Kind über, das erlebt das Kind.

Die Tür geht auf, eine Frau weist uns freundlich darauf hin, dass dieser Raum gleich für eine Gruppensitzung gebraucht wird. Wir wechseln in ein Zimmer nebenan, nehmen Platz auf einer opulenten Couch, eine Box mit Kleenextüchern zu meinen Füßen. »Wie passend«, denke ich, belustigt und verärgert zugleich, »jetzt sitzt du also wirklich auf der Couch, jetzt gehts ans Eingemachte«. Wir haben eine knappe halbe Stunde geredet, und ich habe mich zunehmend persönlich angesprochen gefühlt. Ich bin angestrengt und angespannt, ich spüre, dass ich den Faden verliere, dass ich das Interview nicht entlang meiner Vorbereitungen weiterdenke, sondern in private Gedanken abdrifte: Das Kinderbetreuungsthema, meine Güte, wie sehr mich das nervt! Es gehörte zu den ersten Dingen, über die ich überhaupt in Streit geraten bin, kurz nach der Wende, mit meinen West-Mitschülern in der Berufsschule, in die ich damals ging. Noch vor den Reizthema-Dauerbrennern Charakterschwäche, Freiheit und FKK. Wie konsterniert war ich, von gleichaltrigen Frauen zu hören, dass ich mich später entscheiden müsse zwischen Kind und Karriere. Diese Ansicht hatte ich bis dahin der Generation meiner Oma zugeordnet. Wie wütend war ich über einen Ausbilder, der mir – ohne mich zu kennen, dafür umso leidenschaftlicher – erläuterte, wie ich vom Staat erzogen worden sei. Dass mein Sohn früh in eine Kita gehen wird und ich natürlich arbeiten werde, das war für mich klar, noch bevor er geboren wurde. Es hat mir schließlich auch nicht geschadet! Oder war es, denke ich jetzt, gar keine nach bestem Wissen und Gewissen abgewogene Entscheidung? Ich sitze hier auf der Couch. Ich erzähle. Und frage.

War der Entschluss, meinen Sohn früh in eine Kita zu geben, vielleicht eine Art Trotzreaktion von mir gegenüber einem Umfeld, in dem so eine frühe Kita-Erziehung lange Zeit als Ost-Erbe diskreditiert war? Weil ich eher meine Kindheit und Entwicklung in der DDR und mich selbst als deren Ergebnis bestätigen wollte, als danach zu fragen, was für mein Kind heute das Beste ist? Gibt man Erfahrungen weiter, aber aus den falschen Gründen? Ist es deshalb gut, das Gespräch mit den Eltern zu suchen?

Nun gut, zunächst einmal wissen wir: Es sollte keinen Streit geben, ob Familien- oder Fremdbetreuung, sondern es geht um die Qualität der Betreuung. Es gibt schlechte Eltern, und es gibt gute Krippen, so kann man es auch sagen. Aber auf jeden Fall muss man wissen, dass diese erste Lebensphase für ein Kind entscheidend ist dafür, welche Beziehungserfahrungen es mitbekommt. Ich bin schon einigermaßen erschrocken darüber, wie selbstverständlich inzwischen die Fremdbetreuung auch in der Krippe ist, wie wir uns da in ganz Deutschland praktisch immer mehr an DDR-Verhältnisse annähern. Für meine Begriffe wird da nicht ausreichend diskutiert, was für das Wohl eines Kindes wichtig ist. Die Frage darf nicht lauten: Familie oder Karriere?, sondern: Was braucht ein Kind, damit es sich gut entwickeln kann? Und das ist in erster Linie: echte Elternliebe! Was das ist, sollte vermittelt und geklärt werden, und wenn diese Liebe, aus welchen Gründen auch immer, nicht möglich ist, muss die Fremdbetreuung optimal auf das Wohl des Kindes abgestimmt werden.

Und was ist mit dem Trotz?

Natürlich verteidigt man trotzig etwas Belastendes, ebenso eigene Fehler und Schwächen, um sich vor unangenehmen Erkenntnissen und Gefühlen zu schützen. Dabei wird übersehen, dass man einen Schaden subjektiv gar nicht gleich erleben muss. Aber die Art und Weise, in der man sein Leben gestaltet, führt oft doch nach vielen Jahren in eine Krise. Man hat mit Depressionen oder Ängsten zu kämpfen, bekommt psychosomatische Beschwerden oder Burn-out. Deshalb gehen Erwachsene in Behandlung. Weil die Ursachen oft in diesen frühen Bedingungen liegen.

Vielleicht habe ich auch einfach – und damals ganz unbewusst – eine Ansicht von vornherein abgelehnt, weil ich sie als Bevormundung oder Besserwisserei empfunden habe?

Ja, aber das will ich auch noch einmal betonen: Es gibt auch einen berechtigten Trotz gegen eine westliche, westdeutsche Vormundschaft oder Abwertung. Die kenne ich auch, bei mir persönlich und bei vielen anderen. Diese Abwehrreaktion auf das Gönnerhafte »Wie könnt Ihr da nur gelebt haben?«, auf das Unverständnis, das einem oft begegnet, wenn man darauf hinweist, dass man auch in der DDR gut gelebt haben kann. Gerade indem man bemüht war, Werte zu leben, die nicht ideologisiert und politisiert waren. Also, so einer allgemeinen, nicht um Verstehen bemühten Abwertung des ostdeutschen Lebens muss man schon etwas entgegen halten. Trotz ist da vielleicht nicht die allerbeste Reaktion, aber man muss dagegen halten.

Aber zurück zu den Eltern-Kind-Gesprächen. Bleiben wir bei der Kinderbetreuung : Ich frage also meine Mutter, ob ich gewollt und geliebt wurde und höre, dass sie mich nicht nur früh in eine Kinderkrippe gegeben hat, weil das in der DDR so üblich war, sondern auch, weil sie froh darüber war, sich nicht den ganzen Tag mit mir beschäftigen zu müssen. Hilft mir denn dieses Wissen irgendwie weiter?

Wenn es so ehrlich gesagt wird, wie Sie es jetzt sagen, dann ja. Und zwar aus folgendem Grund: Kinder können nicht immer nur das Beste erfahren. Selbst wenn wir das wollen als Eltern, es ist uns nicht möglich. Wir haben die Kraft dafür nicht oder die Bedingungen unseres Lebens sind nicht so, dass wir uns jederzeit gut auf die Kinder einstellen und deren Bedürfnisse immer erkennen können. Ein kleines Kind will seine Mutter 24 Stunden um sich haben, aber die Mutter ist eben auch Frau und Partnerin, ist an ihrer Beziehung, an Sexualität, an ihrem Beruf und so weiter interessiert. Das Kind kann also die Mutter gar nicht hundertprozentig in Anspruch nehmen.

Das heißt, es ist alles in Ordnung gewesen, und ich sollte es einfach akzeptieren?

Diese Situation, die Sie schildern, war in der DDR weit verbreitet. Die Kinder wurden in die Krippe gegeben und das war häufig ein Problem. Die Kinder haben geweint, fühlten sich doch irgendwie verlassen und den Müttern tat es oft weh. Aber die Frage ist, wie mit dieser Begrenzung der kindlichen Bedürfnisse umgegangen wurde. Wenn man dem Kind ehrlich gesagt hat, dass man gerade nicht kann oder nicht mag, dass man mit sich selbst beschäftigt ist oder etwas anderes vorhat, und dass einem das leid tut, wenn das Kind eine ehrliche Auskunft bekommen hat, weshalb die Mutter oder der Vater sich ihm jetzt nicht so zugewandt hat, wie es sich das gewünscht hat, dann hat das Kind etwas erfahren, das zum Leben dazu gehört: die prinzipielle Begrenzung. Und darüber kann es traurig sein. Es bekommt schon früh die Möglichkeit, Begrenzungen gefühlsmäßig zu verarbeiten. Es kann enttäuscht, traurig und auch wütend sein. Eine emotionale Abreaktion hilft einem Kind, gesund zu bleiben und ein wichtiges Lebensprinzip einzuüben, nämlich das der Begrenzung. Eltern, die diese, ihre Begrenzungen klar kommunizieren und erklären, die werden immer etwas Gutes tun, etwas Ehrliches. Und ihrem Kind helfen.

Inwiefern?

Dann weiß der Mensch, wenn er als Erwachsener manchmal seine Sehnsucht, seine innere Bedürftigkeit nach Zuwendung spürt, dass das auch die Folge eines frühen Mangels ist. Und man kann damit auch verantwortlicher, bewusster umgehen. Eine Störung entsteht ja daraus, dass man zwar dieses Bedürfnis nach Zuwendung und Bestätigung hat, das aber nicht so reflektiert, sondern anderen Menschen gegenüber mit dem Anspruch, mit der Erwartung auftritt, dass sie einem beides entgegenbringen müssen. Dem Partner gegenüber zum Beispiel. Da erwartet der Mann oder die Frau: »Du musst mich doch jetzt so lieben oder verstehen, wie ich es brauche!« Und dabei wird verwechselt, dass kein Partner das so vermag, wie ich es brauche. Eine gute Beziehung besteht darin, dass ich diesen Wunsch äußern und der Partner sagen kann: »Okay, das kann ich jetzt erfüllen oder eben leider nicht«. Weil das die Realität ist. Und ein Problem entsteht, wenn aus der frühen Geschichte wenig bekannt und reflektiert ist, dass man solche Bedürftigkeiten unreflektiert und unbewusst in die Partnerschaft trägt. Und dann vom Partner etwas erwartet, was der nicht erfüllen kann. Der kann keine Mutter ersetzen. Daraus können tragische Enttäuschungen entstehen, die nicht sein müssten, wenn man die Wahrheit, auch die bittere oder traurige Wahrheit auszuhalten lernt.

Ein solches Reflexionsniveau kann man aber wahrscheinlich gar nicht erwarten, wenn man seine Eltern mal beim Kaffee auf die frühen Jahre mit den Kindern anspricht? Wird da nicht viel verschwiegen, aus Scham oder aus Unvermögen?

Niemand hat die Antworten auf die Fragen, über die wir uns unterhalten, einfach so parat. Damit muss man sich wirklich befassen. Wenn wir bei Ihrem Beispiel mit der Mutter und der Kinderkrippe bleiben, kann es auch sein, dass sie erstmal antwortet: »Es war eben so, ich musste arbeiten gehen«. Das ist natürlich eine Wahrheit. Und man kann vielleicht auch noch dazu sagen: »Es tat mir leid, ich hab das bedauert, aber ich konnte nicht anders«. Aber die entscheidende Frage ist jetzt: Ist das denn wirklich schon die ganze Wahrheit? Musste die Frau wirklich schon wieder arbeiten gehen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen? Oder hätte sie vielleicht noch ein halbes Jahr zu Hause bleiben können? War die Mutter vielleicht, wie in Ihrem Beispiel, doch auch froh, das Kind mal für ein paar Stunden wegzugeben und dann nicht mehr in der Verantwortung zu sein? Was ja auch normal ist. Aber wenn das verborgen bleibt, wenn diese Ehrlichkeit verweigert wird, vielleicht eben aus Scham oder aus dem Unwillen heraus, sich damit zu befassen, dann kann das zu einem Problem werden.

Mit welchen Folgen?

Wenn zum Beispiel so was gesagt wird wie: »Das habe ich doch alles aus Liebe gemacht!« oder »Du musst doch dankbar sein!« oder »Ich habe dabei doch nur an dich gedacht!« Was so nicht stimmen kann. Oder wenn dem Kind etwas vorgeworfen wird: »Was du immer verlangst!«, »Wie kannst du dir nur so was wünschen?« oder »Du bist so anstrengend«. Wenn man als Mutter oder Vater etwas zu anstrengend findet, dann kann man sagen: »Mir ist das jetzt zu anstrengend«. Das ist etwas ganz anderes, als: »Du bist anstrengend«. Wenn man sagt: »Ich kann jetzt nicht, mir ist das gerade zu viel«, dann kann das Kind traurig sein. Und wenn es traurig ist, bleibt es gesund. Wenn es aber gesagt bekommt: »Du musst dich anders verhalten, du bist falsch mit dem, was du willst«, dann hat es das Gefühl, nicht richtig zu sein und fängt vielleicht an, alles besser machen zu wollen und das ist der erste Schritt in ein falsches Leben. Dann fängt man an, darauf zu achten, was von einem erwartet wird, wie man sein soll und damit beginnt im Grunde genommen das Unglück des Lebens.

Inwiefern aber ist eine solche Auseinandersetzung in Ost-Familien dringlicher?

Weil es, wie ich schon sagte, hier noch die Dimension der Anpassung gibt, die Frage danach, wie sehr jemand gelernt hat, sich anzupassen. Hinzu kommt die Frage nach der Schuld, nach Mitläufertum und Mittäterschaft. Wie war die Einstellung zum politischen System, wie sehr waren die Eltern, die Familien da involviert oder haben vielleicht doch Dinge mitgemacht, die real oder moralisch nicht in Ordnung waren? Das ist eine erneute Auflage der Auseinandersetzung, die auch nach 1945 nicht stattgefunden hat. Also bis vielleicht 1968, aber das ist ja dann auch rasch eher in Richtung Terrorismus abgeglitten. Gut, es waren nicht so viele aktiv politisch am DDR-System beteiligt, aber sehr viele waren doch Mitläufer. Oder haben bestimmte Ansichten mitvertreten.

Die Dritte Generation Ost sollte sich mit der Frage auseinandersetzen, wie sehr die Eltern mit dem politischen, ideologischen System der DDR verbunden waren. Waren sie Mitläufer, und wenn ja, aufgrund welcher eigenen Entwicklungsgeschichte sind sie zu Mitläufern geworden? Waren sie vielleicht sogar doch auch selbst an Verbrechen beteiligt, die in der DDR stattgefunden haben oder haben sie zumindest davon gewusst? Haben sie solche Dinge toleriert und wenn ja, warum? Und andersherum, wenn die Eltern nicht mit dem DDR-System verbunden waren, ist interessant zu erfahren, in welchen Bereichen sie sich wie herausgemogelt haben oder wie sie sich verhalten haben, um ihre Würde zu bewahren. Und damit in Zusammenhang steht schließlich auch die Frage, wie die Eltern zu den westlichen Verhältnissen standen. Eher verklärend und idealisierend? Oder besonders kritisch?

Und das zu erfahren, ist deshalb wichtig, weil es letztlich auch Spuren hinterlassen hat in unserem Verhalten hier und heute?

Mit Sicherheit hat sich das Verhalten, das unter DDR-Bedingungen bei den Eltern gefragt war, auch auf die Kinder übertragen. Ein Beispiel dafür ist, das habe ich tausendfach gehört, der Konflikt zwischen dem öffentlichen und dem privaten Leben in der DDR. Wie ist das gestaltet worden in der Familie? Wieviel Offenheit wurde zugelassen? Oft hieß es ja: Das hier sagen wir jetzt aber nur hier in der Familie, das darf nicht nach außen dringen oder nur zu bestimmten Leuten und so weiter. Und das ist einerseits eine Kunst, nämlich differenzieren zu können, birgt aber andererseits natürlich das Risiko, dass man diese Spannung gar nicht aushalten kann oder will. Und sich dann besonders vehement auf eine Seite schlägt und diese versucht zu verteidigen.

Hinter jeder Lebensweise finden sich oft tiefere, versteckte Motive. Und nach denen kann man fragen: Warum toleriere ich Dinge, die ich nicht richtig finde, warum schaue ich weg? Wann und warum sage ich nicht wirklich meine Meinung, obwohl ich weiß, dass es richtig wäre?

Was passiert eigentlich, wenn wir nicht über diese Dinge reden?

Das Gespräch mit den Eltern ist nicht zwingend. Es ist empfehlenswert für das Verständnis der eigenen Entwicklung, für die familiären Verhältnisse. Aber natürlich gibt es Eltern, die würden ein solches Gespräch niemals wünschen oder die leben schon nicht mehr, mit denen kann man gar nicht mehr reden. Entscheidend ist, dass ich die Antworten in mir finde. Wenn ich merke, dass ich nicht zufrieden bin, nicht zurechtkomme, Zweifel habe und Krankheitssymptome entwickle, dann muss ich mich fragen, wie ich da hingekommen bin. Welchen Einfluss hatten meine Eltern? Was haben sie mir Gutes und weniger Gutes mitgegeben? Was hat gefehlt? Welche anerzogenen Eigenschaften muss ich über Bord werfen und was kann ich übernehmen? Diese Fragen können wir uns unabhängig vom Gespräch mit den eigenen Eltern stellen.

Was steckt Ihrer Erfahrung nach dahinter, wenn sich Eltern einem solchen Gespräch verweigern?

Ein Riesenproblem kann sein, dass Eltern es ihren Kindern in gewisser Weise übelnehmen, wenn diese sich im heutigen System besser zurechtfinden als sie selbst. Einige Eltern fühlen sich dadurch abgewertet, gedemütigt. Es gab schon zu DDR-Zeiten ein spezifisches Konfliktfeld, das ich hin und wieder erlebt habe. Wenn etwa Pfarrerskinder in die SED eingetreten oder Kinder von offiziellen Stasi-Mitarbeitern zur Kirche gegangen sind. Da wurde schon deutlich, dass sie mit dieser Haltung etwas demonstrieren wollten, was sie als Protest gegen die Eltern vielleicht nicht anders zum Ausdruck bringen konnten. Die Elterngeneration, die in der DDR gelebt hat, ist entweder schuldig beteiligt oder eben stolz, in der DDR gut zurechtgekommen zu sein, ohne sich verkauft zu haben. Und jetzt kommt sozusagen der Westen über uns alle und wir stellen fest: Neben vielen guten Möglichkeiten bringt der auch ganz erhebliche, neue Schwierigkeiten mit sich. Und wenn nun die eigenen Kinder besonders hervorheben, wie glücklich und erfolgreich sie jetzt sind, was sie alles erreichen und tun können, kann das eine Kränkung für die Eltern sein. Eine solche Kränkung deutet jedoch auf einen bisher ungelösten Eltern-Kind-Konflikt. In einer guten Beziehung wären die Eltern froh, wenn die Kinder gut zurechtkommen.

Das heißt, man sollte sich ehrlich fragen, warum und mit welchem Ziel man ein solches Gespräch mit den Eltern führen will? Und wenn die Eltern sich dem Gespräch verweigern, dann sollte man das akzeptieren?

Ja, ich würde nicht den Anspruch haben, dass so ein Gespräch unbedingt zustande kommen muss. Ich halte es für wesentlich wichtiger – und insofern bin ich auch ein Unterstützer der Dritten Generation Ost –, dass es eben solche Plattformen und Kontakte gibt, über die sich diese Generation untereinander austauschen und mitteilen kann. Es ist wichtig, dass über Eltern-Kind-Beziehungen in der DDR gesprochen wird, dass es Bücher, Filme und Berichte gibt. Sie regen Gespräche in den Familien an. Und hilfreich sind sie durchaus, auch für das Verständnis unserer gesamten gesellschaftlichen Entwicklung. Es ist ja immer ein Wechselspiel, die individuellen Verhältnisse wirken in die Gesellschaft und die gesellschaftlichen Verhältnisse beeinflussen wiederum die individuellen Möglichkeiten. Aber: wo ein Gespräch nicht ohne großen Konflikt möglich ist, da würde ich es auch nicht erzwingen wollen.

Eine gute Stunde ist vorbei, meine Zeit ist um. Ich schalte das Aufnahmegerät aus, wir verabschieden uns. Wie üblich lasse ich auf dem Weg zum Auto das Gespräch noch einmal Revue passieren: War ich aufmerksam genug? Habe ich alles gefragt, was ich fragen wollte? Habe ich alle Antworten bekommen? Und warum eigentlich interessiert mich genau das so sehr? Warum zweifle ich ständig an dem, was ich tue? Warum ist es mir so wichtig zu wissen, was andere über meine Arbeit denken? Warum wollte ich überhaupt so gern etwas beitragen zu diesem Buch, obwohl ich doch gerade so viele andere Dinge im Kopf habe? Ich sitze im Auto, auf dem Weg zurück nach Berlin. Die Straße ist frei. »Mutti, Papa«, denke ich, »ich glaube, wir müssen reden«.

Ein ostdeutsches 68?

Anja Staemmler, 1982 in Ost-Berlin geboren, über die Voraussetzungen für ein offenes Gespräch mit den eigenen Eltern

Jungen Ostdeutschen und ihren Eltern, so der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz, fehlt eine Auseinandersetzung über die DDR-Zeit, ein ausführliches Gespräch darüber, wie die ältere Generation in der DDR gelebt hat.1 In Anlehnung an die konfrontative Aufarbeitung der Nazizeit wäre ein ostdeutsches 68 nötig, das von Fragen nach der (Mit-)Verantwortung der Älteren für während der DDR-Zeit geschehenes Unrecht gekennzeichnet wäre. In einem solchen Gespräch würde ein kritischer Anfangsimpuls mitschwingen, die Vermutung nämlich, dass das Leben in der DDR mit größerer Anpassung, möglicherweise sogar Anbiederung, einherging, einhergehen musste als etwa in der BRD.

Auch mir leuchtet zunächst die Forderung nach einem konfrontativen Gespräch mit der Elterngeneration ein. Ich fühlte schmerzhaft eine Mauer zwischen Kindern und Eltern in Bezug auf die Bewertung der DDR-Zeit und der Nachwendezeit. Dass diese Mauer überwunden werden muss, glaube ich auch heute noch, und sei es nur, um die eigene Interpretation der historischen Ereignisse mit dem Wissen von Zeitzeugen abzugleichen. Ich zweifle jedoch mittlerweile daran, dass es bei dieser Auseinandersetzung diskursiv revolutionär zugehen muss. Kann ein Gespräch, das 25 Jahre lang vermieden wurde, wirklich gut begonnen werden mit Fragen nach Anpassung und Verheimlichung?

Sicher, das schablonenhafte Erinnern an das Leben in der DDR und das Wiederkäuen oft gehörter Anekdoten durch die Altvorderen nerven weiterhin. Es ist schwierig, von älteren Ostdeutschen etwas über das Leben in der DDR zu erfahren, ohne dass diese ihre Erzählung gleich einordnen, rechtfertigen, vorauseilend erklären. Ältere Ostdeutsche wirken häufig unzufrieden mit der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung und tendieren dazu, Fragen und Kritik an der DDR sofort mit Gegenfragen und Kritik an der heutigen Gesellschaft zu beantworten. Natürlich war die DDR nicht perfekt, sagen sie dann, aber heute ist es das ja auch nicht. Aus Sicht der Jüngeren geht das aber einen Schritt zu schnell: Wir wollen erst einmal verstehen, was war, bevor wir voreilige Vergleiche anstellen. Auch verwirrt die Unzufriedenheit mit dem heutigen System zumindest auf den ersten Blick. Gerade, da man sie auch bei jenen älteren Ostdeutschen beobachten kann, denen es eigentlich sehr gut zu gehen scheint.

Einen ausführlichen Blick auf das Leben unserer Eltern oder anderer älterer Ostdeutscher in der DDR zu erhalten ist mühsam. Nach einigen Anläufen resignieren die meisten Jungen und lassen die Dinge auf sich beruhen. Hier geht ein großes Potential der menschlichen Annäherung zwischen Kindern, Eltern und Großeltern verloren. Doch welche Eingangsfragen helfen, um den Austausch zu beginnen und nicht die Türen gleich zu verschließen? Ist die Frage nach der Stasi-Akte und SED-Mitgliedschaft wirklich geeignet, ein solches Gespräch zu beginnen? Muss unser Gegenüber dann nicht damit rechnen, einsortiert zu werden in vorgefertigte Schubkästen? Mit wie vielen Personen haben wir es wirklich versucht? Zwei, drei, vier?