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Walter Hewer Christine Thomas Lutz M. Drach

Delir beim alten Menschen

Grundlagen – Diagnostik – Therapie – Prävention

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2016

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-021617-4

 

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-023855-8

epub:    ISBN 978-3-17-032165-6

mobi:    ISBN 978-3-17-032166-3

 

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Inhalt

 

 

 

 

  1. Vorwort
  2. 1 Nichts Neues unter der Sonne? Geschichte des Begriffs »Delir«
  3. Lutz M. Drach
  4. 2 Symptomatologie und Epidemiologie
  5. 2.1 Symptome und Syndrome des Delirs
  6. Friedel M. Reischies
  7. 2.1.1 Gruppen von Symptomen – von verschiedenen kausalen Faktoren verursacht
  8. 2.1.2 Kernsymptome des Delirsyndroms
  9. 2.1.3 Verlauf der Symptomatik
  10. 2.1.4 Hinweis auf die Art der schädigenden Einwirkung auf das ZNS
  11. 2.1.5 Akzessorische Symptome
  12. 2.1.6 Subsyndrome
  13. 2.1.7 Zusammenfassung
  14. 2.2 Diagnostik und Klassifikation des Delirs
  15. Friedel M. Reischies
  16. 2.2.1 Diagnostik
  17. 2.2.2 Klassifikation
  18. 2.2.3 Zusammenfassung
  19. 2.3 Epidemiologie
  20. Christine Thomas
  21. 2.3.1 Die Delirprävalenz ist alters- und kontextabhängig
  22. 2.3.2 Delirien führen zu erhöhten Komplikations- und Mortalitätsraten
  23. 2.3.3 Delirien können lange anhalten
  24. 2.3.4 Delirfolgen können schwerwiegend und kostenintensiv sein
  25. 3 Ursachen, Auslöser und Risikofaktoren
  26. 3.1 Ursachen und Auslöser
  27. Walter Hewer, Christine Thomas
  28. 3.1.1 Entstehungsmechanismen – Pathophysiologie
  29. 3.1.2 Grunderkrankungen
  30. 3.2 Risikofaktoren für ein Delir im Alter
  31. Christine Thomas
  32. 3.2.1 Höheres Lebensalter
  33. 3.2.2 Neurodegenerative Erkrankungen – Demenzen
  34. 3.2.3 Psychiatrische Erkrankungen
  35. 3.2.4 Chronische Erkrankungen und Multimorbidität
  36. 3.2.5 Geriatrische Syndrome
  37. 3.2.6 Medikation und Polypharmazie
  38. 4 Diagnostik
  39. 4.1 Diagnostische Strategien
  40. Walter Hewer, Hermann S.Füeßl
  41. 4.2 Syndromale Diagnostik
  42. Christine Thomas
  43. 4.2.1 Untertypen des Delirs
  44. 4.2.2 Delirsymptome und ihre Erfassung
  45. 4.2.3 Delirdiagnostik
  46. 4.3 Ätiologische Diagnostik
  47. 4.3.1 Neurologische Erkrankungen
  48. Stefan Kreisel, Christine Thomas
  49. 4.3.2 Internistische Erkrankungen
  50. Walter Hewer, Hermann S.Füeßl
  51. 4.3.3 Toxische Ursachen inklusive unerwünschter Arzneimittelwirkungen
  52. Christine Thomas, Walter Hewer
  53. 5 Therapie
  54. 5.1 Therapeutische Strategien
  55. Walter Hewer, Hermann S.Füeßl
  56. 5.1.1 Notfallbehandlung
  57. 5.1.2 Behandlungssetting
  58. 5.1.3 Rechtliche und ethische Aspekte
  59. 5.2 Kausaltherapie
  60. Walter Hewer, Hermann S.Füeßl
  61. 5.2.1 Behandlung von Vitalfunktionsstörungen
  62. 5.2.2 Behandlung ausgewählter Grunderkrankungen
  63. 5.3 Basismaßnahmen – Beachtung allgemeiner geriatrischer Therapieprinzipien
  64. Walter Hewer, Hermann S.Füeßl
  65. 5.4 Nicht-pharmakologische Maßnahmen beim Delir
  66. Lutz M. Drach
  67. 5.5 Symptomatische Psychopharmakotherapie des Delirs
  68. Lutz M. Drach
  69. 5.5.1 Indikationsstellung
  70. 5.5.2 Antipsychotika
  71. 5.5.3 Cholinesterasehemmer
  72. 5.5.4 Andere Pharmaka
  73. 5.5.5 Zusammenfassung
  74. 6 Entzugssyndrome und Entzugsdelirien
  75. Dirk K. Wolter
  76. 6.1 Pathophysiologie
  77. 6.2 Epidemiologie
  78. 6.3 Klinik
  79. 6.3.1 Alkohol
  80. 6.3.2 Benzodiazepine und andere Substanzen
  81. 6.4 Risikofaktoren und Prädiktoren
  82. 6.4.1 Alkohol
  83. 6.4.2 Benzodiazepine und andere Substanzen
  84. 6.5 Komplikationen
  85. 6.5.1 Alkohol
  86. 6.5.2 Benzodiazepine und andere Substanzen
  87. 6.6 Prophylaxe und Therapie
  88. 6.6.1 Alkohol
  89. 6.6.2 Benzodiazepine und andere Substanzen
  90. 6.7 Standardisiertes Assessment und symptomgetriggerte Behandlung
  91. 6.7.1 Alkohol
  92. 6.7.2 Benzodiazepine und andere Substanzen
  93. 6.8 Zusammenfassung
  94. 7 Prävention
  95. Christine Thomas, Sarah Weller
  96. 7.1 Notwendigkeit nicht-medikamentöser Präventionsmaßnahmen
  97. 7.2 Bausteine systematischer Ansätze
  98. 7.2.1 Erkennung und Dokumentation von Risikofaktoren
  99. 7.2.2 Schulung aller Berufsgruppen
  100. 7.2.3 Umgebungsgestaltung
  101. 7.2.4 Ausgleich sensorischer Einschränkungen
  102. 7.2.5 Mobilisation und Vermeidung von Bewegungseinschränkung
  103. 7.2.6 Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme
  104. 7.2.7 Kognitive Aktivierung und emotionale Entlastung
  105. 7.2.8 Tagesstrukturierung und Bedürfnisorientierung
  106. 7.2.9 Förderung eines gesunden Schlafverhaltens
  107. 7.2.10 (Re-)Orientierungsmaßnahmen und Raumgestaltung
  108. 7.2.11 Schmerzerfassung und Schmerzmonitoring
  109. 7.2.12 Einbezug von Angehörigen
  110. 7.3 Medikamentöse Delirprophylaxe
  111. 7.3.1 Cholinergika
  112. 7.3.2 Antipsychotika
  113. 7.3.3 Melatonin
  114. 7.3.4 Alpha-2-Agonisten
  115. 7.4 Multifaktorielle Delirpräventionsansätze im deutschen Sprachraum
  116. 7.4.1 St. Franziskus Hospital in Münster: »OP-Begleitung« durch ein Geriatrieteam
  117. 7.4.2 Evangelisches Krankenhaus Bielefeld: Delirpräventionsprogramm help+
  118. 7.4.3 Universitätsspital Basel: Forschungs- und Praxisentwicklungsprogramm zur Delirfrüherkennung
  119. 7.4.4 Delirprävention auf der Intensivstation
  120. 7.5 Implementierung eines multifaktoriellen Delirpräventionskonzeptes
  121. 8 Übergreifende Aspekte
  122. 8.1 Delir als interdisziplinäre, multiprofessionelle und sektorübergreifende Herausforderung
  123. Walter Hewer, Christine Thomas
  124. 8.1.1 Herausforderungen
  125. 8.1.2 Lösungsansätze
  126. 8.1.3 Zukünftiger Entwicklungsbedarf
  127. 8.2 Delir im psychiatrischen Konsiliardienst
  128. Lutz M. Drach
  129. 8.2.1 Diskrepanz zwischen der Häufigkeit von Delirien und der Zahl der Konsilanforderungen
  130. 8.2.2 Diagnostische Probleme im Konsiliardienst
  131. 8.2.3 Besonderheiten des Auftrages für den Konsiliarius beim Delir
  132. 8.3 Rechtliche Aspekte beim Delir
  133. Lutz M. Drach
  134. 8.3.1 Geschäftsfähigkeit
  135. 8.3.2 Einwilligungsfähigkeit
  136. 8.3.3 Einwilligung in klinische Studien
  137. 8.3.4 Gesetzliche Betreuung und Vorsorgevollmacht
  138. 8.3.5 Testierfähigkeit
  139. 8.3.6 Patientenverfügung
  140. 8.3.7 Rechtfertigender Notstand
  141. 9 Ausblick
  142. Christine Thomas, Walter Hewer
  143. 9.1 Aktuelle Entwicklungen und zukünftige Perspektiven – Grundlagen
  144. 9.1.1 Pathophysiologie
  145. 9.1.2 Diagnosekriterien, Klassifikation
  146. 9.2 Aktuelle Entwicklungen und zukünftige Perspektiven – Versorgung
  147. 9.2.1 Epidemiologische Trends
  148. 9.2.2 Aktuelle Leitlinien und Stellungnahmen verschiedener Gesellschaften
  149. 9.2.3 Delirprävention und -behandlung in einem sich rasch verändernden Gesundheitssystem
  150. 9.3 »Take Home Message«
  151. Autorenverzeichnis
  152. Literatur
  153. Stichwortverzeichnis
  154. Personenverzeichnis

Vorwort

 

 

 

 

 

Das Delir stellt ein psychopathologisches Syndrom dar, das bereits im Altertum als solches wahrgenommen wurde. Der damals schon erkannte Zusammenhang mit körperlichen Faktoren wurde im deutschen Sprachraum maßgeblich von Karl Bonhoeffer am Anfang des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt und in ein im Grundsatz bis heute geltendes Konzept gefasst.

Parallel zu der demografischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts mit einem stetig wachsenden Anteil älterer und hochaltriger Menschen hat in den zurückliegenden Jahrzehnten das Interesse an psychischen Erkrankungen im Alter stark zugenommen. Dies betraf zunächst insbesondere die Demenzerkrankungen, aber dann in zunehmendem Maße auch das Delir im Alter. Dass das Delir vor allem in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren verstärkte Aufmerksamkeit in verschiedenen medizinischen Fachgebieten und darüber hinaus erfuhr, ist im Wesentlichen seiner weiten Verbreitung geschuldet, verbunden mit dem Umstand, dass hohes Lebensalter und Vorliegen einer Demenzerkrankung (und ihrer Vorstufen) ebenso wie die mit dem Alter zunehmende Multimorbidität zu den wesentlichen Risikofaktoren gehören.

Vor diesem Hintergrund lag es nahe, für den deutschsprachigen Leserkreis ein an den Bedürfnissen der Praxis orientiertes Buch vorzulegen. Dabei war es uns wichtig, nach einem kurzen geschichtlichen Abriss die für das Verständnis des Krankheitsbildes erforderlichen Grundlagen zu erarbeiten, die neben der Psychopathologie und Epidemiologie die Ätiologie des Syndroms betreffen. Es folgen die aus klinischer Sicht besonders wichtigen Kapitel zur Diagnostik und Therapie des Delirs, ergänzt durch einen Beitrag über das Entzugsdelir, das auch im Alter ein sehr relevantes Thema darstellt. Da gerade auf dem Gebiet der Prävention in den letzten Jahren wesentliche neue Erkenntnisse gewonnen wurden, die eine verbesserte Prognose bei einem signifikanten Anteil der betroffenen Patienten erwarten lassen, war es uns wichtig, diesem Thema gebührenden Raum zu geben. Den Abschluss bilden Kapitel zu fachübergreifenden Aspekten mit einem Ausblick auf wichtige offene Fragen und sich abzeichnende künftige Entwicklungen. Zahlreiche Fallvignetten sind in die Kapitel einbezogen und sollen eine möglichst anschauliche Vermittlung der theoretischen Inhalte unterstützen.

Ausgangspunkt für dieses Buch war ein über Jahre von den Verfassern durchgeführter Workshop bei den Jahreskongressen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Die Autorinnen und Autoren sind sämtlich fachärztlich in der Gerontopsychiatrie tätig, wobei sie auch zusätzliche Expertise in anderen Gebieten einbringen (Neurologie, Geriatrie, Innere Medizin). Der fachlichen Ausrichtung des Autorenteams entsprechend resultiert naturgemäß eine inhaltliche Ausrichtung an den aus gerontopsychiatrischer Sicht besonders relevanten Belangen. Gleichwohl wurde großer Wert darauf gelegt, über unsere Fachgrenzen hinaus das Syndrom Delir aus interdisziplinärer und multiprofessioneller Perspektive zu betrachten. Damit tragen wir dem Rechnung, dass für uns im klinischen Alltag bei der Versorgung deliranter Patienten die enge Zusammenarbeit mit anderen Fachgebieten (Innere Medizin, Geriatrie, Neurologie, Radiologie, operative Fächer etc.) ebenso wie mit anderen Professionen (Pflege, Ergo-/Physiotherapie, Sozialdienst etc.) unverzichtbar ist.

Dieses Buch fußt wesentlich auf der tagtäglichen Arbeit in unseren Kliniken. Deshalb ist es uns ein großes Bedürfnis, unseren (ehemaligen) Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Göppingen, Stuttgart, Schwerin, Rottweil, Bielefeld, Münster, Wasserburg a. Inn, Haderslev/Aabenraa, Berlin, München für ihre stets qualifizierte und zuverlässige Unterstützung zu danken. Da der Dank sehr vielen Personen gelten muss, ist es uns leider nicht möglich, die vielen, die es betrifft, namentlich zu nennen. Dem Kohlhammer Verlag – Herrn Dr. Ruprecht Poensgen, Frau Daniela Bach und Frau Ulrike Döring – sind wir zu großem Dank verpflichtet für die Anregung des Projekts ebenso wie für seine hoch kompetente und geduldige Begleitung – über einen längeren Zeitraum als ursprünglich geplant. Schließlich und nicht zuletzt gilt der Dank auch unseren Familien, die damit einverstanden waren, dass wir zahlreiche Stunden am Abend und an Wochenenden für dieses Buch aufgewandt haben.

Es ist ein für uns äußerst bedrückender Umstand, dass einer der Herausgeber, Herr Dr. Lutz Michael Drach, das Erscheinen dieses Buches nicht mehr erleben durfte. Herr Dr. Drach, der am 24.12.2015 nach schwerer Krankheit viel zu früh verstarb, repräsentierte als Gerontopsychiater, Geriater und Neuropathologe die ganze Bandbreite unseres Faches. Ebenso umsichtig wie streitbar kämpfte er – mit großen Erfolgen – zeitlebens für eine moderne Versorgung von älteren Menschen mit psychischen Erkrankungen. Mit seiner Fähigkeit, Sachverhalte prägnant und didaktisch einprägsam zu vermitteln, hat er über die von ihm selbst geschriebenen Kapitel hinaus Entscheidendes sowohl zu unseren Workshops als auch zu diesem Buch beigetragen. Gemeinsam mit allen anderen Autorinnen und Autoren dieses Buches, von denen mehrere Dr. Lutz Michael Drach schon seit vielen Jahren persönlich in guter Freundschaft verbunden waren, möchten wir ihm in Anerkennung seiner großen Verdienste für die Gerontopsychiatrie das vorliegende Werk widmen.

Wir hoffen, dass dieses Buch bei einer breiten Leserschaft Anklang findet, und freuen uns über Rückmeldungen und Kritik.

 

Walter Hewer

Christine Thomas

1          Nichts Neues unter der Sonne? Geschichte des Begriffs »Delir«

Lutz M. Drach

 

Verwirrtheitszustände bei akuten schweren Erkrankungen sind seit Jahrtausenden immer wieder in der medizinischen Literatur beschrieben und als schlechtes prognostisches Zeichen gewertet worden. Viele immer noch gültige klinische Beobachtungen, pathophysiologische Vorstellungen und Behandlungsprinzipien sind bereits in der Antike formuliert worden.

Schon im »Corpus Hippocraticum«, einer dem Hippokrates von Kos (geb. ca. 460 v. Chr.) zugeschriebenen Sammlung antiker medizinischer Traktate verschiedener Autoren, werden die prognostisch ungünstigen Krankheitsbilder »Phrenitis« und »Lethargos« beschrieben. Dabei ist »Phrenitis« durch hohes Fieber und Verwirrtheit (Morb. I 30) und »Lethargos« durch Schläfrigkeit, Zittern, Schwitzen und Inkontinenz (Morb. II 65, Morb. III 5) gekennzeichnet. Es dürfte sich dabei um die ersten Beschreibungen des hyper- und hypoaktiven Delirs handeln.

Der Begriff »Delir« stammt von dem römischen Arzt und Enzyklopädisten Aulus Cornelius Celsus (ca. 25 v. Chr. bis 50 n. Chr.). Der Begriff »Delirium« leitet sich von »de lira ire« ab, was »aus der Furche« oder »aus der Spur gehen« bedeutet. Celsus beschrieb Delirien insbesondere im Zusammenhang mit hohem Fieber oder Kopfverletzungen. Im Übrigen war das psychiatrische Klassifikationssystem damals noch recht übersichtlich: die übrigen Entitäten waren »Mania«, »Hysteria« und »Melancholia«.

Der griechische Arzt Galen von Pergamon (Claudius Aelius Galenus) (129–199 n. Chr.) blieb bis zur Renaissance die führende medizinische Autorität des Abendlandes. Er unterschied Delirien ohne Fieber, die er »Paraphrosyne« nannte und die mit Halluzinationen, Denkstörungen, Verfolgungswahn und Verhaltensstörungen einhergingen, von Fieberdelirien, die er »Phrenitis« nannte und auf eine Vergiftung des Gehirnes durch die Toxine des Fiebers zurückführte. Bei letzterer Form des Delirs sah er die Behandlung des Fiebers als wichtigste therapeutische Maßnahme an.

Die arabischen Ärzte des Mittelalters, insbesondere Avicenna (980–1037), orientierten sich in ihrer Lehre über die psychischen Störungen, »Quwwat-e-nafsaniya«, an den antiken Autoren und beschrieben ebenfalls das Delirium, neben den übrigen psychischen Störungen Melancholia, Hysteria, Mania und Insomnia (Ghazala et al. 2009).

Antonio Guainerio betonte 1481 in seinem Hauptwerk »Opera medica« die Wichtigkeit einer sorgfältigen körperlichen Untersuchung des deliranten Patienten.

Giovanni Battista Morgagni (1682–1771) ersetzte 1761 den antiken Begriff »Phrenitis« durch »Fieberdelir« (delirium febrile).

Thomas Sutton (1767–1835) führte 1813 den Begriff »Delirium tremens« für die Form des Delirs ein, »die sich unter dem Aderlass verschlechtert, aber unter Opium bessert«. Andere Autoren wie Pierre Francois Olive Rayer (1793–1867) erkannten schon kurz danach den Zusammenhang zwischen Delirium tremens und der Alkoholabhängigkeit.

Der Delirbegriff der klassischen deutschen Psychiatrie wurde maßgeblich von Karl Ludwig Bonhoeffer (1868–1948) geprägt (Neumärker 2001). Nach Vorarbeiten über »die akuten Geisteskrankheiten von Gewohnheitstrinkern« (1901) und die »symptomatischen Psychosen im Gefolge von akuten Infektionen und inneren Erkrankungen« (1910) erschien 1917 »Die akuten exogenen Reaktionstypen«. Hierin sieht Bonhoeffer die akuten, körperlich begründeten Psychosen als Epiphänomene einer fassbaren Körperkrankheit. Klinisches Leitsymptom ist eine Bewusstseinstrübung, die aber auch fehlen kann. Es wird eine Reihe von Zustandsbildern beschrieben, die einander auch im Verlauf der Erkrankung abwechseln können. Neben dem Delir sind vor allem Dämmerzustand, Halluzinose und die Amentia (Verwirrtheit) zu nennen. Auch organische katatone, paranoide und paranoid-halluzinatorische Bilder werden erwähnt. Nach dem »Gesetz der Unspezifität« sind die verschiedenartigen Zustände nicht an eine bestimmte Ätiologie gebunden. Eine kleine Zahl psychotischer Zustandsbilder kann somit von einer großen Zahl möglicher körperlicher Ursachen ausgelöst werden. Bonhoeffer nahm dabei an, dass die unterschiedlichen Reaktionstypen konstitutionell verankert seien.

Der von Nicht-Psychiatern häufig missverstandene Begriff »Durchgangssyndrom« geht auf eine Arbeit von Hans Heinrich Wieck (1918–1980) aus dem Jahr 1956 zurück. Er beschreibt damit ein eher leichteres Stadium von unspezifischer hirnorganischer Beeinträchtigung im Kontinuum der »Funktionspsychosen«. Bei Letzteren handelt es sich um »diejenigen körperlich begründeten Psychosen, die sich nach klinischer Erfahrung zurückbilden können« (aber nicht müssen!). Mit zunehmendem Schweregrad sind das: Durchgangssyndrom, Bewusstseinstrübung, Bewusstlosigkeit und Koma.

In einer bahnbrechenden Arbeit aus dem Jahr 1959 beschrieben George Libman Engel (1913–1999) und John Romano (1911–1994) erstmals den Zusammenhang von gestörter Stoffwechselaktivität, klinischer Symptomatik und den EEG-Veränderungen beim Delir.

Andere medizinische Fächer hatten, wohl auch weil die akuten organisch begründeten Psychosen schon länger nicht mehr im Fokus des Interesses der Psychiatrie stehen, unabhängig von psychiatrischer Expertise entdeckt, dass viele ihrer Patienten delirant sind. Da in Allgemeinkrankenhäusern ein erheblicher Teil der intensivmedizinisch behandelten Patienten betroffen ist, wurde in der anästhesiologischen Literatur seit den 1970er Jahren das »ICU-Syndrom« (»Intensive Care Unit Syndrome«) beschrieben (Holland et al. 1973). Hierbei handelt es sich aber um typische Delirien. Die neuere intensivmedizinische Literatur (z. B. Tonner et al. 2007) hat den Delirbegriff deshalb wieder aufgegriffen. In jüngerer Zeit wurde, ebenfalls von anästhesiologischer Seite, das Konzept der »postoperative cognitive dysfunction« (POCD) formuliert, das Überschneidungen mit dem Syndrom Delir aufweist, andererseits jedoch einen besonderen Fokus auf länger anhaltende Beeinträchtigungen setzt (Moller et al. 1998).

Nachhaltige Verwirrung zum Delir ist in den deutschsprachigen Ländern durch die deutsche Übersetzung der ICD-10, Kapitel V (F) Psychische Störungen, durch Dilling et al. (1991) entstanden. Es wird hier beim »Delir, nicht durch Alkohol oder psychotrope Substanzen bedingt« zwischen F05.0 »Delir ohne Demenz« und F05.1 »Delir bei Demenz« unterschieden. Im üblichen medizinischen Sprachgebrauch wird aber »bei« als kausale Beziehung verstanden, etwa wie »obere gastrointestinale Blutung bei Ulcus ventriculi«. Das englische Original spricht von »delirium, not superimposed on dementia« und »delirium, superimposed on dementia«. Aus der deutschen Begriffserklärung wird zwar klar, dass auch die deutsche ICD-10 nur zwischen Delir ohne und bei vorbestehender Demenz unterscheidet, trotzdem induziert diese unglückliche Wortwahl immer wieder die falsche Vorstellung, das Delir sei durch die Demenz verursacht worden.

Dieser kurze medizingeschichtliche Abriss zeigt, dass das Thema Delir nichts von seiner Aktualität verloren hat. Das typische klinische Bild, die Verursachung durch körperliche Erkrankungen und die Verschlechterung von deren Prognose durch ein Delir sind schon seit der Antike bekannt (Adamis et al. 2007). Schon Galen betonte die zentrale Wichtigkeit der Behandlung der körperlichen Erkrankung und Guainerio die Wichtigkeit einer sorgfältigen körperlichen Untersuchung, beides wichtige Säulen im Management deliranter Patienten. Trotz einiger terminologischer Verwerfungen in letzter Zeit hat der Begriff des Delirs eine bemerkenswerte Beständigkeit gezeigt und wird neben dem DSM-5 sicherlich auch in der ICD-11 seinen Platz behaupten.

2          Symptomatologie und Epidemiologie

 

 

2.1       Symptome und Syndrome des Delirs1

Friedel M. Reischies

Die Krankheitszeichen, die im Zusammenhang mit dem Auftreten eines Delirs beobachtet werden, sind ausgesprochen vielfältig. Einige Patienten zeigen eine »bunte« Symptomatik mit Störungen in kognitiven Funktionen, in der Aufmerksamkeit und im Bewusstsein, aber auch in der Motorik, Wahrnehmung und Emotionalität – andere nur eine leichte Benommenheit und Aufmerksamkeitsstörungen. Die Symptome sollen in diesem Abschnitt einzeln beschrieben werden. Dabei wird der Versuch unternommen, sie in übersichtlichen Kategorien zu gliedern.

Die Spezifität der Symptomatik des Delirsyndroms liegt nicht in den Symptomen – es gibt keine delirspezifischen, keine pathognomonischen Symptome des Delirs. Jedes einzelne Symptom des Delirs kommt auch bei anderen neuropsychiatrischen Krankheitsbildern vor. Die Delirspezifität liegt im Muster der Symptome, dem Syndrom, und im Verlauf: 1. einem plötzlichen Auftreten der Symptome, 2. einem fluktuierenden Verlauf und 3. einem raschen Abflauen der Symptome (jedenfalls in der Regel, wenn die Ursache des Delirs behoben ist). Für den Diagnostiker ist also die Kenntnis der möglichen und häufigen Symptome des Delirs unverzichtbar, damit er darauf achten kann, denn nach einigen Stunden könnten sie schon nicht mehr erhebbar sein.

Damit erfüllt das Delir die Charakteristik einer psychiatrischen Krankheitseinheit, eine Zustands-Verlaufs-Einheit zu bilden. Erst die Gestalt der Veränderung der komplexen Symptomatik im Laufe der Zeit erlaubt, die Diagnose des Delirs mit Sicherheit zu stellen.

2.1.1     Gruppen von Symptomen – von verschiedenen kausalen Faktoren verursacht

Ein Delir ist ein neuropsychiatrisches Hirnschädigungssyndrom bzw. ein psychiatrisches Syndrom bei einer Hirnfunktionsstörung. Es gibt nicht nur neurologische, sondern auch psychiatrische Krankheitsbilder, die auf eine Schädigung spezifischer Anteile oder Subsysteme des Gehirns zurückzuführen sind. Im Delir entsteht die Symptomatik durch eine akute Störung von Hirnfunktionssystemen der Aufmerksamkeit, Wachheit, des Gedächtnisses etc. Der Leser sollte sich nicht verwirren lassen dadurch, dass bestimmte wohldefinierte Krankheitsbilder mit einer spezifischen Hirnfunktionsstörung, wie eine Transiente Globale Amnesie (TGA), eine temporäre Störung des episodischen Gedächtnisses verursachen, die aber nicht als Delir aufgefasst wird. Hier tritt keine Störung der Aufmerksamkeitsfunktionen auf, die zu den Kernsymptomen des Delirs gezählt wird (s. u.).

Das Delir ist ein Krankheitsbild, das durch viele sehr unterschiedliche Ursachen ausgelöst werden kann (image Kap. 4) und zwar in der Regel auf der Grundlage einer Risikokonstellation von z. B. hohem Lebensalter und vorbestehenden Krankheiten: Beispielsweise tritt ein Delir bei einem Demenzpatienten auf, der zusätzlich einen urogenitalen Infekt erleidet (image Kap. 3.2). Die Symptomatik ist daher zu gliedern in

1.  Symptome des Delirs: beispielsweise Aufmerksamkeitsverminderung;

2.  Symptome der aktuell verursachenden Störung, der ätiologisch verantwortlichen Krankheit: z. B. bei einem Schlaganfall mit Delir die neuropsychologische Beeinträchtigung durch die direkte Hirnschädigung, z. B. eine Wortfindungsstörung, oder beim Alkoholentzugsdelir Schwitzen und eine Kreislaufentgleisung;

3.  und gegebenenfalls Symptome einer weiteren Erkrankung, die ein Risiko für eine Delirentstehung darstellt: wie z. B. eine vorbestehende Demenz mit einer Störung des episodischen Gedächtnisses.

Demnach muss in der Diagnostik die Erkennung des Delirs an sich unterschieden werden von der Erkennung der das Delir auslösenden Faktoren – bzw. den Risikofaktoren, welche die Delirentstehung begünstigt haben. Veranschaulichen kann man sich den Sachverhalt, wenn man von einem Bündel von kausalen Faktoren und einer »Delirschwelle« ausgeht (image Kap. 3.1). Ein einziger sehr starker ätiologischer Faktor kann das Delir allein verursachen, aber auch ein Bündel von mehr oder weniger schwächeren ätiologischen Faktoren und Delirrisiken. Hier wird es im Vordergrund um die Symptome des Delirsyndroms gehen.

2.1.2     Kernsymptome des Delirsyndroms

Die wichtigsten Bereiche in der Symptomatik des Delirs sind jene der Aufmerksamkeit, des Bewusstseins und der kognitiven Leistungen (Cole 2004, Reischies et al. 2007). Es soll hier daher mit der Störung der verschiedenen Aufmerksamkeitsbereiche begonnen werden. Im Vergleich der ICD-10-Klassifikation der WHO (auf diese wird in den Kapiteln 2.2 und 4 noch näher eingegangen) und der amerikanischen DSM-5-Klassifikation psychiatrischer Krankheitsbilder (image Kap. 2.2) fällt auf, dass die ICD-10 das Delir wesentlich komplexer fasst, d. h. die ICD-10 listet mehr Symptome auf, während die DSM-5-Klassifikation die Betonung auf eine Kernsymptomatik legt (American Psychiatric Association 2013). Im Folgenden werden also zuerst die Kernsymptome beschrieben:

•  Aufmerksamkeitsstörungen

•  Bewusstseinsstörungen

•  Störungen kognitiver Leistungen

Aufmerksamkeit

Obwohl die Aufmerksamkeit im Alltag eine große Rolle spielt, bemerken wir sie kaum. Wir werden nur sehr selten auf sie selbst aufmerksam: Die Aufmerksamkeit ist ein Prototyp der unbewusst (implizit) ablaufenden Prozesse der Informationsverarbeitung des Gehirns.

Wie in einem Interview beobachten wir besonders in der psychiatrischen Diagnostik die Aufmerksamkeit und bilden uns (ebenfalls meist implizit) ein Bild über die Aufmerksamkeitsfunktionen des Gesprächspartners. Wir folgen seinen Aufmerksamkeitswendungen, beobachten seine Blicke und beachten die Abfolge seiner Gedanken, die er uns gegenüber äußert. Auch schaut man in der Regel gemeinsam auf bestimmte Objekte, beispielsweise wenn jemand in den Raum kommt (Konzept der »shared intentionality«). In der psychopathologischen Diagnostik müssen die Aufmerksamkeitsfunktionen dann explizit bewertet werden.

Das amerikanische Klassifikationssystem DSM-5 stellt die Aufmerksamkeitsstörung beim Delir ganz in den Vordergrund und spricht dabei von einer Störung der Aufmerksamkeit in vier Teilaspekten:

1.  Ausrichten und Leiten der Aufmerksamkeit: Hiermit ist die Wendung der Aufmerksamkeit gemeint, beispielsweise die Ausrichtung auf den Untersucher, wenn er an das Bett tritt, oder auf einen eintretenden Besucher oder das Hinsehen dorthin, wo der Untersucher hinblickt. Beim Fokussieren der Aufmerksamkeit auf eine Aufgabe, wie beispielsweise »die Monate rückwärts aufsagen«, wird ebenfalls die Aufmerksamkeit ausgerichtet – ein Patient könnte beispielsweise die Aufgabe nicht beginnen, sondern immer wieder ablenkende freie Assoziationen äußern.

2.  Fokussieren der Aufmerksamkeit: Hiermit ist die Intensität der Aufmerksamkeitsausrichtung auf eine Aufgabe gemeint, die auch kurzfristig (wie bei einem Golfschlag) erfolgen kann. Die Aufmerksamkeit wird z. B. auf die Aufgabe fokussiert, eine Zahlenfolge nachzusprechen.

3.  Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit: Bei längeren Aufgaben muss die Aufmerksamkeit auf die mentalen Operationen, die gefordert werden, fokussiert gehalten und ablenkende Einflüsse müssen ferngehalten werden. Hierbei ist beispielsweise das Sich-wehren-Können gegen Ablenkungen gemeint (vielfach wird der Begriff Konzentration für die Aufrechterhaltung und Fokussierung der Aufmerksamkeit gebraucht).

4.  Verändern/Lösen der Aufmerksamkeit: Das Abwenden der Aufmerksamkeit von einem Fokus. In dissoziativen oder oneiroiden – traumartigen – Zuständen beispielsweise kann die Aufmerksamkeit nicht von einem Objekt gelöst werden.

Es gibt viele Typen der Aufmerksamkeit und viele Systeme des Gehirns, welche diese Aufmerksamkeitsfunktionen vermitteln (Reischies 2007b). Wir können uns die Aufmerksamkeitslenkung vorstellen als ein Mischpult des Tontechnikers beim Konzert eines Orchesters. Der Tontechniker kann am Pult die Gesamtlautstärke verändern, ein Soloinstrument hervorheben, Gruppen von Instrumenten – wie beispielsweise die Bläser – prägnant hervorheben oder umgekehrt in den Hintergrund verschieben. In diesem Sinne sind Menschen erstens insgesamt mehr oder weniger wach. Sie können zweitens auf einen Sinneskanal achten, wenn sie beispielsweise aufmerksam zuhören. Sie können aber auch drittens die Aufmerksamkeit auf ein Wort, einen Gedanken oder auf eine Bewegung fokussieren.

Unfokussierte Aufmerksamkeit

Die bisher genannten Aspekte gehören zur fokussierten Aufmerksamkeit, d. h. die Aufmerksamkeit in Relation zu einem Ziel, dem Aufmerksamkeitsobjekt. Die unfokussierte Aufmerksamkeit ist dem entgegenzustellen und offenbar beim Delir besonders wichtig. Sie meint das Aufmerksamkeitsniveau ohne dass diese sich jeweils auf ein bestimmtes Objekt richtet – beispielsweise die allgemeine Wachheit.

Eines der charakteristischen Merkmale eines Delirs ist eine Verringerung der unfokussierten Aufmerksamkeit, die dem geübten Diagnostiker auch dann auffällt, wenn nur eine geringe Einschränkung besteht. In der Regel bemerkt sie auch der Lebenspartner des Patienten, sodass in diesem Punkt eine Fremdanamnese besonders wertvoll ist. Den Partnern fällt auf, dass die Person »nicht ganz da« ist, »benommen« oder »wie müde« erscheint etc. Dem Untersucher scheint der Patient nicht vollständig »wach« zu sein.

Man hat auch von einer gestörten Alertness/Attentiveness gesprochen (zusätzlich existiert das Konzept der »Vigilanz«). Auch der Begriff Arousal wird gelegentlich in diesem Zusammenhang verwendet. Er bezeichnet als phasisches Arousal beispielsweise die Weckreaktion, die durch einen Schmerzreiz ausgelöst wird. In einem schweren Delir kann es zum Übergang von Somnolenz über den Sopor zum Koma kommen. In diesem Fall muss die Arousal-Reaktion auf Weckreize geprüft werden (image Abb. 9.2).

Die Vielzahl der Begriffe für diese psychopathologische Dimension entstammt experimentellen physiologischen Studien. Aber in der psychopathologischen Untersuchung des Einzelfalls, gerade des Delirs, sind diese Störungskonzepte nicht einfach zu diagnostizieren – es kann nicht gesagt werden, ob das Arousal, die Alertness, die Orientierungsreaktion etc. gestört ist, d. h. psychopathologisch können wir nicht sagen, welcher dieser Funktionsbereiche gestört ist. Pragmatisch kann nicht mehr als eine Einschränkung der unfokussierten Aufmerksamkeit konstatiert werden. Wichtig ist der Versuch, das höchste erreichbare Aufmerksamkeitsniveau des Delirpatienten durch Weckreize, ansprechende Fragen etc. zu erzielen, um die unfokussierte Aufmerksamkeit diagnostisch zu evaluieren. Wenn dem Untersucher auffällt, dass der Patient im Interview benommen wirkt, muss er den Versuch unternehmen, ihn auf irgendetwas aufmerksam werden zu lassen, was ihn interessieren könnte, oder beim Handschlag noch eine Arousal-Reaktion auszulösen.

Aktivierung der Aufmerksamkeit – Top-down- und Bottom-up-Prozesse

Am Beispiel des Arousals kann eine wichtige Unterscheidung in den Prozessabläufen der Aufmerksamkeitsaktivierung deutlich gemacht werden – sogenannte Top-down- und Bottom-up-Prozesse:

1.  Ein plötzlicher Schmerz im Fuß aktiviert die Aufmerksamkeit. Man spricht von Bottom-up-Aktivierung (oder auch von der Peripherie her), gewissermaßen »von unten nach oben«.

2.  Andererseits kann Erregung und Aufmerksamkeit auch »von oben nach unten« aktiviert werden (Top down): Wenn beispielsweise einer Person in einem Gesprächskreis im Nachhinein einfällt, dass die Äußerung eines Gesprächspartners als Beleidigung aufzufassen ist, wird plötzlich die Aufmerksamkeit auf die Person und die weiteren Äußerungen der Person gelenkt – d. h. in diesem Fall aktiviert die kognitive Verarbeitung die Aufmerksamkeit.

Beide Bereiche der Aufmerksamkeit, die fokussierte wie auch die unfokussierte, sind im Delir gestört. Bei ungestörter unfokussierter Aufmerksamkeit erscheint ein Patient wach, aber es kann die Fokussierung der Aufmerksamkeit z. B. auf eine Aufgabe (z. B. »100-7«) gestört sein – der Patient ist gegebenenfalls hyperaktiv und unkontrolliert. Bei gestörter unfokussierter Aufmerksamkeit wird z. B. der Versuch gelingen, den Patienten durch eine ihn interessierende Stimulation oder durch Hautreize anzuregen – zumindest vorübergehend. Bei einer Störung in beiden Aufmerksamkeitsdomänen wird der Patient weder durch ein ihn interessierendes Thema noch durch Hautreize auf ein höheres Aufmerksamkeitsniveau gelangen (image Tab. 2.1).

Tab. 2.1: Beziehung der Störung von fokussierter und unfokussierter Aufmerksamkeit im Delir

Images

Fokussierte Aufmerksamkeit

Bewusstsein

Seit Hughlings Jackson (Bhat und Rockwood 2007) und Bonhoeffer ist die Störung des Bewusstseins als charakteristisches Merkmal des Delirs bekannt, zumindest wenn sie plötzlich auftritt und reversibel ist. Bonhoeffers Konzept des exogenen Reaktionstyps Delir ist besonders wertvoll, weil er hervorhebt, dass das Gehirn bei einer Schädigung mit nur einer geringen Anzahl von psychiatrischen Krankheitsbildern, wie einem Delirsyndrom, antworten kann (neben einer differenzierten neuropsychologischen Symptomatik).

Das Bewusstsein ist jedoch noch nicht gut genug erforscht. Wir bezeichnen im Allgemeinen mit Bewusstsein das bewusste Wahrnehmen und Handeln und das bewusste Nachdenken, Planen und Entscheiden. Wir nehmen an, dass es einen psychischen Funktionsbereich der Ersten-Person-Perspektive gibt, der für alles, was mit dem »Ich« zu tun hat, zuständig ist.

Unter den Bewusstseinsfunktionen ist ein Monitoring für verschiedene Domänen zentral:

1.  Bewusstes Wahrnehmen der Sinnesqualitäten (»ich sehe den Doktor«, »ich höre die Glocke«) unter sensomotorischer Kontrolle der Person (hinblicken, zeigen, anfassen etc.) und Monitoring der Wahrnehmungen der gesamten Umgebung als Grundlage für eine Orientierung

2.  Monitoring der Gefühle (»ich habe Angst«), internen Zustände (»ich bin erschöpft«), oder

3.  Monitoring der Anforderungen oder Probleme (»ich habe zu hohe Schulden«), Überzeugungen (»so darf man das aber nicht machen!«), Vorstellungen und Erwartungen etc. Das Monitoring von Empfindungen, internen Zuständen oder Problemen führt zur Aktivierung der Aufmerksamkeit auf bestimmte Vorstellungen und/oder führt zu Aktionen.

Ein wichtiges weiteres Merkmal der Bewusstseinsfunktionen ist, dass die Person in der Regel über diese subjektive Erfahrung berichten kann und sich später daran erinnert. Diese Fähigkeit ist bei Patienten im Delir gestört. In der Regel können Personen im Delir nicht gut auf sich verändernde Anforderungen der Umgebung oder die Bedürfnisse ihres Körpers reagieren. Deswegen müssen sie als hilflose Personen stationär aufgenommen und überwacht werden.

Neben der Intaktheit dieser Bewusstseinsfunktionen muss der Patient überhaupt wach sein, wobei es eine Einschränkung der Wachheit in Richtung Schlaf und eine Einschränkung in Richtung Somnolenz, Sopor und Koma gibt. Diese zweite Dimension wird in der Regel als quantitative Bewusstseinsstörung bezeichnet und geht mit zunehmender Beeinträchtigung der oben genannten Bewusstseinsfunktionen einher.

Die neue Klassifikation der amerikanischen Psychiatrie, das DSM-5, verzichtet auf die Störung des Bewusstseins als Kriterium für das Vorliegen eines Delirsyndroms. Es betont besonders die Störung der Aufmerksamkeit. Dies steht im krassen Gegensatz zur in Deutschland herrschenden Lehrmeinung. Im deutschen Sprachraum steht seit Bonhoeffer die Bewusstseinsstörung an zentraler Stelle der Definition des Delirs. Jedoch ist seit Langem klar, dass die Bewusstseinsstörung zwar eine sehr spezifische Symptomatik des Delirs darstellt, allerdings als Hauptsymptom zu wenig sensitiv ist. Mit anderen Worten, wenn bei einem Patienten eine plötzlich neu aufgetretene Bewusstseinsstörung bemerkt wird, dürfte es sich mit einiger Sicherheit um ein Delir handeln, aber es gibt sehr viele Delirien ohne Bewusstseinsstörungen, beispielsweise flüchtige Verwirrtheitssyndrome bei Exsikkose. Diese Situation hat zur Einführung von neuen Terminologien, z. B. des »Durchgangssyndroms« geführt (Wieck), einem Delirsyndrom ohne Bewusstseinsstörung.

Ein weiteres Problem ist hier nebenbei zu erwähnen: Im deutschen Sprachraum wird die Bewusstseinsstörung beim Delir als qualitative und quantitative Bewusstseinsstörung charakterisiert. International ist aber zur Grobcharakterisierung der Tiefe einer Bewusstseinsstörung die Glasgow Coma Scale (GCS) eingeführt, welche versucht, in dem Spektrum von Somnolenz zum Koma den Schweregrad einer Bewusstseinsstörung zu quantifizieren. Es wird also nur von einer einzigen, quantitativ abstufbaren Dimension »Bewusstsein« ausgegangen. Die internationale Psychiatrie geht bei der Bewusstseinstrübung im Delir nicht mit Jaspers von einer qualitativen Bewusstseinsstörung aus. Jaspers hatte beispielsweise eine Fragmentierung der Bewusstseinsinhalte beschrieben, welche die Qualität des Erlebens beeinträchtigt – diese wäre z. B. mit der begleitenden Störung kognitiver Funktionen zu erklären. Das Hauptargument ist, dass die Diagnostik dieser Charakteristik der Bewusstseinsveränderung im Delir jedoch in der Regel schwer beeinträchtigt oder unmöglich ist – wir können einfach nicht wissen, wie das Erleben des Delirpatienten ist. Wir haben mithin die Situation, dass die amerikanische Psychiatrie die Bewusstseinsstörung nicht mehr zu den Kriterien des Delirs zählt und die internationale Psychiatrie die Diagnostizierbarkeit der qualitativen Veränderung des Bewusstseins nach Jaspers nicht nachvollzieht (image Abb. 9.2).

Unabhängig davon muss betont werden, dass jedoch qualitative Bewusstseinsstörungen für die Delirsyndrome wichtig sind: Eines der Syndrome, die in den neuen Klassifikationssystemen unter dem Delir subsumiert wurden, der Dämmerzustand, geht mit dem Vorherrschen einer qualitativen Bewusstseinsstörung einher (s. u.).

Als Zwischenlösung war das Merkmal der Bewusstheit der Umgebung eingeführt worden – der Patient ist sich seiner Umgebung nicht klar bewusst, d. h. seine Umweltorientierung und situative Orientierung sind gestört (disorder of awareness of the environment – in DSM-5 ausgeführt als »reduced orientation to the environment«).

In der deutschen Psychiatrie ist als Stufe zwischen dem klaren Wachbewusstsein und einer Bewusstseinstrübung die »Benommenheit« beschrieben worden. Dieser Begriff ist für die Diagnostik des Delirs äußerst hilfreich, besonders für leichtere Formen. Patienten scheinen nicht voll wach, »nicht ganz anwesend«, »verhangen« etc.

Als Überleitung zu den Störungen kognitiver Leistungen soll hier beispielhaft die Kernsymptomatik prägnant herausgearbeitet werden: Ein Patient erscheint dem Untersucher

•  erstens nicht ganz wach und zudem unaufmerksam. Auch nach Bemühungen, ihn zu aktivieren, klart er nicht vollständig auf und wird nicht attenter.

•  Weiter weist er eine Beeinträchtigung kognitiver Leistungen auf, beispielsweise eine deutliche Störung der zeitlichen Orientierung, die vorher nicht vorgelegen hat.

Dieser Patient wird mit hoher Wahrscheinlichkeit an einem Delir leiden. Hierbei ist der Unterschied zu einem müden Menschen hervorzuheben: Wenn der schläfrige Mensch aufwacht, wird er z. B. die Orientierung sehr rasch wiedererlangen.

Störung kognitiver Leistungen

Neben der Störung der Aufmerksamkeit stellt die plötzlich auftretende Störung kognitiver Leistungen ein weiteres Kernmerkmal des Delirs dar. Die Störung der kognitiven Funktionen ist nicht spezifisch für das Delir. Im Gegenteil, bei einer Alzheimer-Demenz tritt eine in vielen Merkmalen ähnliche Störung kognitiver Leistungen auf – in der Mini-Mental-State-Examination (MMSE) finden sich vergleichbare Defizite (s. z. B. Morandi et al. 2012a). Aber die Störung kognitiver Leistungen entwickelt sich im Delir und in der Alzheimer-Demenz mit völlig verschiedenen Zeitverläufen. Aus Platzgründen können hier nicht die vielen neuropsychologischen Dimensionen, die jeweils differenziert bei einem Delir gestört gefunden werden, ausführlich besprochen werden. Auch wird im Kapitel 4 auf die für die Diagnostik wichtigen neuropsychologischen Funktionstests eingegangen.

Störung verschiedener Gedächtnisfunktionen

Das Gehirn verfügt über verschiedene Gedächtnisfunktionen, welche die alte Zweiteilung in Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis überholt erscheinen lassen.

Episodisches Gedächtnis

Nachdem herausgefunden wurde, dass Menschen sich kürzlich geschehene Ereignisse als Episoden merken, spricht man von episodischem Gedächtnis. Über das Abrufen der Episode fallen der Person viele Details der erlebten Situation wieder ein.

Personen mit einem Delir haben Probleme, Ereignisse zu erinnern, die in letzter Zeit geschehen sind. Im Delir kann der Patient sich vor allem nicht mehr an die Details der letzten Tage erinnern, während gesunde Personen aus den letzten Tagen normalerweise die meisten Informationen abrufen können. Beispielsweise kann sich der Patient nicht an die Aufnahmemodalität im Krankenhaus erinnern, z. B. wie er in den Untersuchungsraum gekommen ist oder den Transport zum Krankenhaus. Die Personen können im Gegensatz dazu lange Zeit zurückliegende Ereignisse berichten und das autobiografische Gedächtnis ist nicht speziell betroffen.

Üblicherweise werden klinisch zur Untersuchung Merklistentests verwendet. Dabei werden in einer Einspeicher-Episode Wörter zum Merken genannt und der Patient wird zunächst gebeten, diese nachzusprechen oder vorzulesen. Nach einer Ablenkung durch andere Tests wird der Patient dann gebeten, die Wörter, die er sich in der Einspeicher-Episode gemerkt hat, wiederzugeben. Schwer delirante Patienten können sich gar nicht erinnern, kürzlich eine Liste von Wörtern gelernt zu haben (d. h. sie haben die Einspeicher-Episode vergessen).

Die sogenannte »Tiefe« der Einspeicherung einerseits und die Art der Hilfestellung bei der Abfrage aus dem Gedächtnis andererseits ist für die Erinnerungsleistung entscheidend – d. h. wie viele mentale Operationen wurden von dem Patienten beispielsweise mit dem Merkwort durchgeführt und werden bei der Wiedergabe Hinweise auf die Einspeicher-Situation, Oberbegriffe etc. als Hilfsmittel zum Abruf aus dem Gedächtnis angeboten. Die Wiedergabe ist schwerer, wenn der Patient beispielsweise das Wort, das erinnert werden soll, nur lesen musste – leichter ist die Wiedergabe, wenn sich der Patient das Bezeichnete vorstellen oder eine Geschichte damit verbinden musste, was in Gedächtnistrainings vermittelt wird. Für die Abfrage ist wichtig, ob der Patient gebeten wird, ohne Hilfe wiederzugeben, was zu merken war, oder ob Hinweisreize zur Unterstützung der Abfrage gegeben werden. Noch leichter fällt das Wiedererkennen der Merkwörter aus einer Auswahlliste.

Orientierung

Fehler in der zeitlichen und örtlichen Orientierung sind wichtige und einfach zu prüfende Symptome eines Delirs. Für die Beurteilung der Orientierung ist die Einspeicherung/Enkodierung zu beachten: Hat der Patient in den letzten Tagen bzw. Wochen Zugang zu einem Kalender gehabt, die Zeitung gelesen oder Radio gehört etc.?

In der klinischen Routine wird nach dem aktuellen Datum gefragt (Tag im Monat, Monat, Jahr und Wochentag/Uhrzeit). Finden sich Fehler im Monat und/oder Jahr, dann weist dies mit einer Sensitivität von 95 % und einer Spezifität von 86,5 % auf eine Störung kognitiver Leistungen beim Delir (oder bei einer Demenz) hin (O’Keeffe et al. 2011). Nach unserer Erfahrung ist auch ein Verschätzen des aktuellen Tagesdatums um eine Woche oder mehr ein Indikator für eine Störung der zeitlichen Orientierung (Nano-Screening-Test, Reischies 2005, s. Kasten unten). Die Orientierung zum Ort ist ebenso häufig im Delir gestört.

Arbeitsgedächtnis

Die neuropsychologische Forschung hat herausgefunden, dass zum zwischenzeitlichen Speichern von Informationen, die später nicht mehr gebraucht werden, ein Arbeitsgedächtnis existiert, das vom episodischen Gedächtnis gesondert gestört sein kann. Dieses Arbeitsgedächtnis dient beispielsweise als Zwischenspeicher beim Rechnen (zum Speichern von Zwischenergebnissen). Es wird angenommen, dass Informationen für kurze Zeit im Gehirn aktiv aufrechterhalten werden und bei Ablenkung durch eine alternative Aktivität sofort verloren sind. Bei der Aufgabe der seriellen Subtraktion können speziell in diesem Bereich Fehler beobachtet werden (100-7, vom Ergebnis wieder 7 abziehen usw. – die Zahl 7 beispielsweise muss im Arbeitsgedächtnis gehalten werden).

Zum Arbeitsgedächtnis gehört z. B. auch das Nachsprechen einer Zahlensequenz (die sogenannte Zahlenspanne). Beim Delir kann die Zahlenspanne gestört sein. Der Befund kann differenzialdiagnostische Hinweise geben, denn bei eher fortgeschrittenen Demenzsyndromen ist die Zahlenspanne (vorwärts) vielfach noch ungestört.

Verlauf der Gedächtnisstörungen

Wie ist der Verlauf der Gedächtnisstörungen im Delir? Ein Delirpatient wird sich nicht an die Ereignisse der letzten Tage vor dem Ausbruch des Delirs erinnern. Wenn das Delir abgeklungen ist, kann er sich jedoch zumindest an prägnante Ereignisse aus dieser Zeit erinnern. Das Wiedererinnern von während des Delirs nicht abrufbaren Informationen ist typisch für dieses Syndrom. Offenbar ist im Delir nicht vorwiegend der Speicher betroffen, sondern der Abruf aus dem Gedächtnis (Reischies 2007b).

Im typischen Fall kann für die Zeit des Delirs eine amnestische Lücke exploriert werden: Der wieder gesundete Patient erinnert sich an die Ereignisse vor dem Delir, jedoch nur partiell an Ereignisse während des Delirs. Dies hängt offenbar damit zusammen, dass die Einspeicherung von Informationen während des Delirs nicht nachhaltig und durchgehend gelingt.

Störung der Sprache und des Denkens

Wortfindung: Die klinisch neuropsychologische Untersuchung der Wortflüssigkeit (Fluency, bei der die Person möglichst viele Wörter sagen soll, beispielsweise zu einem semantischen Oberbegriff) fördert regelhaft Defizite zu Tage (Reischies et al. 2007). Es sollen z. B. so viele Kleidungsstücke, wie möglich, genannt werden. Nicht nur, dass Patienten mit einem Delir nur wenige Wörter abrufen können, es kommt zusätzlich zu der Nennung falscher Wörter und dem Vergessen der semantischen Kategorie.

Denken: Bei manchen Formen des Delirs fallen ausgeprägte formale Denkstörungen auf. Die Patienten wirken »verworren« (verworrenes/amentielles Delir, image Kap. 2.1.6). Viele dieser Patienten können keinen klaren Gedankengang mehr darstellen, springen von einem Thema zum anderen, schweifen ab oder sind im Denken umständlich. Manche Patienten verlieren die Zielvorstellung aus den Augen, sie »verlieren den Faden«.

Visuell räumliche Störung und Störung der Wahrnehmung

Neuropsychologische Untersuchungsverfahren für visuell räumliche Störungen sind in Kapitel 2.2 aufgelistet. Das DSM-5 nennt visuell-räumliche Störungen und Störungen der Wahrnehmung explizit, sie werden jedoch in der Klinik seltener bei Delirpatienten untersucht.

Neuropsychologische Testung (s. a. Kap. 4)

Eine formale neuropsychologische Testung (CERAD-NP etc.) verbietet sich im Allgemeinen, weil die Testbarkeit im Delir deutlich eingeschränkt ist oder sogar nicht mehr besteht. Der Patient kann nicht die notwendige Aufmerksamkeit aufbringen, eine Untersuchung mittels einer langwierigen Testbatterie durchzustehen. Deshalb bewähren sich neuropsychologische Untersuchungsverfahren, die in der Regel nur für kurze Zeit die Aufmerksamkeit fordern und einzeln angewandt werden können. Sie werden z. T. an anderer Stelle erwähnt (image Tab. 4.4). Vorschläge für neuropsychologische Untersuchungsverfahren des DSM-5 zur Untersuchung neuropsychiatrischer Störungen finden sich in den Kapiteln 2.2 und 4.2 für die Bereiche, die im Delir betroffen sind. Für die fachärztliche Untersuchung, d. h. für trainierte Untersucher, wurde der Nano-Screening-Test entwickelt, der in wenigen Minuten einige zentrale neuropsychologische Untersuchungsverfahren zusammenträgt (Reischies 2005).

Die Aufgaben des Nano-Screening-Tests

 

•  Tag im Monat: Der wievielte ist gerade?

•  Wer ist gerade in der Position des Bundeskanzlers? Wer ist Bürgermeister?

•  Können Sie so viele verschiedene Wörter wie möglich von einer Sorte sagen? Können Sie so viele Möbel wie möglich nennen? (1 bis 2 Min.)

•  Eine Zahl nachsprechen (1 pro Sek.) »9 1 5 8 3 7«: Auswertung der richtig genannten Ziffern in richtiger Position

•  Hand-Faust-Sequenz wiederholen (Untersucher macht vor): 1. Faust, 2. Handkante, 3. Flachhand (Sequenz notieren)

•  Aufgaben erinnern: Welche Aufgaben für Konzentration und Gedächtnis habe ich Ihnen gerade gegeben?

•  Zusatzaufgabe: Welches waren das 1. und 2. Möbelstück, das Sie genannt hatten?

Im Delir ungestörte neuropsychologische Funktionen