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Für Andreia

Ihr rosa Kleid verstört mich. Es hindert mich am Sterben.
Juan O’Gorman

In einem anderen Leben werde ich vielleicht verstehen,
in diesem fantasiere ich nur.

Daniel Sada

Und wenn die Hunde, die Ihr ihnen zu essen gabt, zu neuem
Leben erwachten und in ihren Mägen bellten!

Francisco de Quevedo

ÄSTHETISCHE THEORIE

Wenn ich damals am Morgen meine Wohnung verließ, die 3-C, stieß ich jedes Mal auf meine Nachbarin aus der 3-D, die steif und fest behauptete, ich würde einen Roman schreiben. Die Nachbarin hieß Francesca, aber man musste es Franscheska aussprechen, damit es ordinärer klang. Und ich schrieb keinen Roman, so weit kommt’s noch. Nachdem wir uns mit einem Stirnrunzeln gegrüßt hatten, warteten wir schweigend auf den Fahrstuhl, der das Gebäude in zwei Hälften teilte wie ein Reißverschluss eine Hose. Wegen solcher Vergleiche erzählte sie überall im Haus herum, ich würde mich an sie heranmachen. Und weil ich sie Francesca nannte, wie sie in Wahrheit gar nicht hieß. Es war nur der Name, den ich ihr in meinem angeblichen Roman gegeben hatte.

Manchmal dauerte es Stunden, bis der Aufzug kam, als wüsste er nicht ganz genau, dass im Haus nur alte Leute wohnten. Als hätten wir alle Zeit der Welt noch vor und nicht längst hinter uns. Aber vielleicht wusste er das auch und es interessierte ihn nur einfach nicht die Bohne. Als endlich die Türen aufgingen, stiegen wir ein und fuhren gemächlich nach unten. Das Gefährt bewegte sich in einem solchen Schneckentempo, dass es so schien, als würden die Hände eines Schlitzohrs den Reißverschluss besonders langsam öffnen, um die Erregung zu steigern und die Befriedigung hinauszuzögern. Die Kakerlaken nutzten die Gelegenheit und fuhren in aller Ruhe nach unten, um den Kollegen im Hausflur einen Besuch abzustatten. Ich wiederum nutzte die Zeit, um ein paar von ihnen plattzumachen. Im Fahrstuhl war die Jagd deutlich leichter als in der Wohnung, im Treppenhaus oder im Hausflur, allerdings auch viel riskanter. Man musste sie mit sicheren Tritten ins Jenseits befördern, durfte es aber auch nicht übertreiben, nicht, dass der Fahrstuhl dabei noch in die Tiefe stürzte. Ich warnte Francesca, sich ja nicht zu rühren. Einmal war ich ihr aus Versehen auf den Fuß getreten, und sie hatte mich gezwungen, ihr das Taxi zum Podologen zu bezahlen.

Im Hausflur warteten schon die Speichellecker vom Literaturzirkel auf sie. Die Armen, Francesca zwang sie, einen Roman nach dem anderen durchzuackern. Stundenlang saßen sie im Hausflur, montags bis sonntags. Auf dem Markt hatten sie sich batteriebetriebene Lämpchen besorgt, die man sich mit einer Lupe zum Lesen an die Stirn klemmte. Made in China. Sie hüteten sie wie ihre Augäpfel, als wären sie die größte Erfindung seit dem Schießpulver oder dem Maoismus. Ich schlich mich an den Stühlen vorbei, die wie bei einer Selbsthilfegruppe oder satanischen Sekte im Kreis angeordnet waren, und als ich endlich an der Haustür war und schon die Nähe der Straße mit ihren Schlaglöchern und ihrem Gestank nach Frittiertem spürte, rief ich ihnen zum Abschied zu:

»Wenn ihr mit den Büchern durch seid, könnt ihr sie mir gerne geben! Mein Wohnzimmertisch wackelt!«

Und Francesca antwortete:

»Franscheska heißen nur italienische Nutten, Sie alter Lustgreis!«

Der Literaturzirkel bestand aus zehn Leuten, plus der Chefin. Ab und zu verstarb einer oder konnte nicht länger alleine wohnen und landete im Heim, doch Francesca schaffte es immer wieder, den neuen Mieter zu umgarnen. Das Haus hatte zwölf Wohnungen, verteilt auf drei Stockwerke, vier pro Etage, und die Bewohner waren ausnahmslos Witwer und alte Junggesellen, oder besser gesagt Witwen und alte Jungfern, denn das weibliche Geschlecht war eindeutig in der Überzahl. Das Haus mit der Nr. 78 stand in der Calle Basilia Franco, einer Straße wie jede andere in Mexiko-Stadt, was so viel heißt wie: genauso dreckig und heruntergekommen wie jede andere. Das einzig Besondere war unser kleines Rentnerghetto, so alt und hinfällig wie seine Bewohner, die Greisenburg, wie die Leute in der Straße das Gebäude nannten. Die Hausnummer entsprach übrigens meinem Alter, nur dass sie nicht mit jedem Jahr zunahm.

Dass der Literaturzirkel in Wahrheit eine Sekte war, zeigte sich schon daran, dass sie es derart lange auf diesen unbequemen Stühlen aushielten, Aluminiumklappstühlen von Modelo Bier. Ich spreche hier von literarischen Fundamentalisten, Leuten, die skrupellos genug waren, so lange auf den Marketingchef einer Brauerei einzureden, bis der die Stühle herausrückte, was sich dann Kultursponsoring nannte. Aber so lächerlich es klingt, die Schleichwerbung wirkte – ich ging schnurstracks zur nächsten Kneipe und gönnte mir das erste Bier des Tages.

Der Literaturzirkel war jedoch nicht das einzige Übel im Haus. Hipólita aus der 2-C veranstaltete jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag einen Salzteigmodellierkurs. Montags und freitags kam ein Trainer, um mit den Alten im Epikur-Park Aerobic zu machen, einem unkrautüberwucherten Grünstreifen, wo man mehr Kohlenmonoxid und Schwefeloxid als Sauerstoff einatmete. Francesca, die früher Lehrerin gewesen war, gab privaten Englischunterricht. Außerdem gab es Yoga-, Computer- und Makrameekurse. Alles selbst organisiert von den Hausbewohnern, für die Ruhestand nur ein anderes Wort für Vorschulunterricht zu sein schien. Das alles und den erbärmlichen Zustand des Gebäudes musste man ertragen, aber dafür waren die Mieten seit Urzeiten nicht erhöht worden.

Und dann waren da noch die Ausflüge zu allen möglichen Museen und historischen Sehenswürdigkeiten. Jedes Mal, wenn jemand einen Zettel mit der Ankündigung eines Museumsbesuchs in den Hausflur hängte, fragte ich:

»Weiß einer, was das Bier in diesem Schuppen kostet?«

Die Frage war nicht ganz abwegig, schließlich hatte ich in einem Museumscafé einmal glatte fünfzig Pesos für ein Bier hinlegen müssen. Eine komplette Monatsrente! So einen Luxus konnte ich mir nicht leisten, ich musste mit meinen Ersparnissen haushalten, und bei meinem Rhythmus dürften diese Ersparnisse meinen Berechnungen nach etwa acht Jahre reichen, Zeit genug für den Sensenmann, mir bis dahin Guten Tag zu sagen. Mit »meinem Rhythmus« meine ich das, was die Leute immer so elegant genügsames Leben nennen, obwohl ich es eher mieses Leben nennen würde. Um mein Budget nicht zu überziehen, musste ich sogar die täglichen Gläser Bier zählen! Und genau das tat ich, akribisch, das Problem war nur, dass ich bis zum Abend alles wieder vergessen hatte. Das mit den acht Jahren konnte also genauso gut falsch sein, vielleicht waren es eher sieben oder sechs. Oder fünf. Der Gedanke, dass sich die Summe der täglichen Biere eines Tages umkehren und sich das Ganze in eine Art Countdown verwandeln könnte, machte mich ziemlich nervös. Und je nervöser ich wurde, desto schwerer fiel mir das Zählen.

Manchmal erteilte Francesca mir im Fahrstuhl kluge Ratschläge, wie man einen Roman schreibt, was ich, wie gesagt, überhaupt nicht tat. Beim Tempo des Aufzugs reichten ihr drei Stockwerke für zwei Jahrhunderte Literaturtheorie. Meinen Figuren fehle es an Tiefe, sagte sie, als spreche sie von Löchern. Und mein Stil brauche mehr Struktur, als würde sie Gardinenstoff kaufen. Ihre Aussprache war erstaunlich klar, und sie betonte jede Silbe derart deutlich, dass ihre Gedanken, so abstrus sie auch waren, völlig logisch klangen. Als wäre gute Aussprache ein Garant für Wahrheit. Oder eine Hypnosetechnik. Und es funktionierte! Auf die gleiche Weise war sie Diktatorin des Literaturzirkels, Sprecherin der Hausversammlung und oberste Autorität in Sachen Tratsch und boshafter Verleumdung geworden. Ich hörte nicht länger zu, schloss die Augen und konzentrierte mich auf das langsame Öffnen des Reißverschlusses. Dann gab es einen Ruck, wir waren angekommen, und Francesca spulte einen letzten Satz ab, den ich, da ich längst den Faden ihrer Predigt verloren hatte, nur mit einem Ohr aufschnappte:

»Ihnen wird es gehen wie den Yukateken, die suchen und suchen und nicht suchen.«

Und ich erwiderte:

»Wer nicht sucht, der findet nicht.«

Der Satz war von Schönberg und erinnerte mich an meine Mutter vor siebzig Jahren, als ich einmal einen Strumpf verloren hatte. Damals suchte und suchte ich, und dann stellte sich heraus, dass der Hund den Strumpf gefressen hatte. Meine Mutter starb 1985 bei dem großen Erdbeben. Der Hund kam ihr mehr als vierzig Jahre zuvor und verpasste aus lauter Schusseligkeit den Ausgang des Zweiten Weltkriegs: Er verschluckte eine Nylonstrumpfhose, eine superlange, so lang wie die Beine von Vaters Sekretärin.

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Mit einem Koffer voller Kleidung, zwei Kartons mit meinen Habseligkeiten und einem Bild und einer Staffelei unter dem Arm war ich an einem Sommernachmittag vor anderthalb Jahren in das Haus gezogen. Die Möbel und einige Haushaltsgeräte hatte die Umzugsfirma schon am Vormittag gebracht. Während ich mich im Hausflur an den Gestalten vom Literaturzirkel vorbeiquetschte, murmelte ich in einem fort:

»Nicht stören lassen, nur nicht stören lassen.«

Natürlich störte sich keiner an mir, alle taten so, als wären sie in ihre Lektüre vertieft, obwohl sie in Wahrheit jede meiner Bewegungen aus dem Augenwinkel verfolgten. Als ich endlich vor dem Aufzug stand, hörte ich das Getuschel, das von Francesca ausging und wie bei der Stillen Post die Runde machte:

»Das ist ein Maler!«

»Das ist ein Prahler!«

»Das ist ein Fahrer!«

»Das ist ein Radikaler!«

Ich stopfte so viel in den Aufzug wie möglich, und als ich zehn Minuten später wieder unten war, um wie ein besonders lahmarschiger Sisyphos den Rest zu holen, hatte der Literaturzirkel zu meinen Ehren einen Begrüßungsempfang mit Champagner aus Zacatecas und Salzkräckern mit Thunfischpastete und Mayonnaise vorbereitet.

»Willkommen!«, brüllte Hipólita, während sie mir eine Spraydose mit DDT in die Hand drückte. »Es ist nur eine Kleinigkeit, aber Sie werden es brauchen.«

»Entschuldigen Sie«, sagte Francesca. »Hätten wir gewusst, dass Sie Künstler sind, hätten wir den Champagner kaltgestellt.«

Als ich meinen bis zum Rand mit lauwarmem Champagner gefüllten Plastikbecher hochhielt, um mit ihnen anzustoßen, rief Francesca freudig aus:

»Auf die Kunst!«

Ich hatte meinen Arm etwas zu horizontal ausgestreckt, so dass es aussah, als wollte ich den Becher unangetastet zurückgeben, statt mit ihnen anzustoßen – was nicht ganz falsch war. Man bat mich um eine kurze Ansprache, ein paar Worte auf die Kunst, und mit einem resignierten Blick auf die Bläschen in meinem Becher hob ich zu folgender Rede an:

»Ein Bier wäre mir lieber.«

Francesca zog einen verknitterten Zwanzig-Peso-Schein aus ihrem Portemonnaie und befahl einem der Teilnehmer des Literaturzirkels:

»Kauf dem Künstler im Laden an der Ecke ein Bier.«

Leicht benommen von dem Stimmengewirr um mich herum hörte ich eine Frage nach der anderen auf mich einprasseln:

»Wie alt sind Sie eigentlich?«

»Sind Sie Witwer?«

»Ist das Ihre richtige Nase?«

»Wo haben Sie vorher gewohnt?« »Sind Sie Single?«

»Warum kämmen Sie sich nicht?«

Ich stand wie versteinert da, in der rechten Hand den vollen Becher Champagner, in der linken das DDT-Spray, und lächelte verlegen, bis plötzlich Stille eintrat und alle mich erwartungsvoll anstarrten.

»Und?«, fragte Francesca.

»Ich glaube, das ist ein Missverständnis«, sagte ich, leider bevor der Mann, der das Bier holen sollte, überhaupt die Haustür erreicht hatte. »Ich bin kein Künstler.«

»Ha! Hab ich’s doch gewusst! Er ist Fahrer«, stieß Hipólita triumphierend aus, während mir ein dunkler Flaum über ihrer Oberlippe auffiel.

»Eigentlich bin ich Rentner«, fuhr ich fort.

»Ein Künstler im Ruhestand!«, frohlockte Francesca. »Sie müssen sich nicht rechtfertigen, wir sind hier alle im Ruhestand. Bis auf die wenigen Faulpelze, die nie gearbeitet haben.«

»Ich mag zwar nur Hausfrau gewesen sein, aber auch ich bin jetzt im Ruhestand«, beeilte sich Hipólita zu sagen.

»Nein, verdammt, ich war nie Künstler«, entfuhr es mir so vehement, dass es sogar mir selbst verdächtig vorkam.

Ein Teilnehmer des Literaturzirkels, der mir gerade ein paar Kräcker hatte anbieten wollen, drehte sich abrupt um und stellte den Teller auf einem Stuhl ab.

»Soll ich jetzt das Bier holen oder nicht?«, fragte der Mann an der Haustür.

»Warte«, befahl ihm Francesca, bevor sie sich wieder an mich wandte:

»Und was ist mit der Staffelei und dem Bild?«

»Von meinem Vater. Er hat leidenschaftlich gern gemalt. Genau wie ich, aber das ist lange her.«

»Das hat uns gerade noch gefehlt, ein gescheiterter Künstler!«, rief Francesca. »Darf man erfahren, womit Sie Ihr Geld verdient haben?«

»Ich war Tacoverkäufer.«

»Tacoverkäufer?!«

»Ja, ich hatte einen Tacostand in der Candelaria de los Patos.«

Sofort fingen die Teilnehmer des Literaturzirkels an, den Champagner zurück in die Flasche zu kippen, aber weil sie so zitterten, ging die Hälfte daneben. Francesca warf dem Mann an der Tür, der geduldig auf den Ausgang der Szene gewartet hatte, einen zornigen Blick zu.

»Mach schon, gib mir das Geld zurück.«

Während ich das Gewicht des Bechers aus meiner rechten Hand verschwinden spürte, riss Hipólita mir das DDT-Spray aus der linken, gab der Mann Francesca den zerknüllten Schein zurück und erklärte der gesamte Literaturzirkel den Begrüßungstrunk für beendet, indem sie die Kräcker unter sich aufteilten, den Korken zurück in die Flasche drückten und sich unmittelbar darauf wieder der Lektüre widmeten. Nur Francesca musterte mich weiter von oben bis unten und unten bis oben, als wollte sie sich meine gebrechliche Gestalt für den Rest ihrer Tage einprägen.

»Betrüger!«

Auch ich starrte sie lange an, ließ meinen Blick über ihren gertenschlanken Körper gleiten, bemerkte, dass sie sich während meiner Abwesenheit, als ich zur Wohnung hinauf- und wieder heruntergefahren war, das Haar gelöst und ein wenig den Ausschnitt ihres Kleides aufgeknöpft hatte, spürte dieses selten gewordene Kribbeln im Schritt und knallte ihr, da ich schnell begriffen hatte, wie sie tickte, den ersten von vielen Sätzen an den Kopf, die von diesem Tag an zu unserer täglichen Routine werden sollten:

»Ich bitte vielmals um Verzeihung, dass ich Tacoverkäufer war, Madame

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Meine Mutter wollte unbedingt eine Autopsie an dem Hund vornehmen, während Papa sie vergeblich daran zu hindern suchte:

»Was haben wir denn davon, wenn wir wissen, woran der Hund gestorben ist?«

»Ich will wissen, was passiert ist«, erwiderte meine Mutter.

»Es gibt für alles eine Erklärung.«

Der Köter hatte in der Nacht zu kotzen versucht, es aber nicht geschafft. Mama zählte die Socken im Haus, es waren alle da. Und weil Papa nach dem Abendessen immer mit dem Hund spazieren ging, kam ihr ein Verdacht. Sie bezahlte den Fleischer, damit er die Töle aufschlitzte. Wir trugen den Kadaver in den kleinen Hof, wo wir die Wäsche zum Trocknen aufhängten. Meine Mutter hatte ihn vorher sorgfältig mit Zeitungspapier ausgelegt. Während der Schlachter die Autopsie vorbereitete, stand Papa die ganze Zeit hinter ihr und fragte wieder und wieder:

»Ist das denn wirklich nötig? Das ist doch grausam, das arme Tier.«

»Keine Sorge, Papa, der spürt nichts mehr«, beruhigte ich ihn.

Ich war damals knapp acht Jahre alt. Die Vorbereitungen gingen weiter, und mein Vater versprach, dass er, sollten wir auf die Obduktion verzichten, im Gegenzug ein Porträt des Hundes malen würde, damit meine Mutter sich immer an ihn erinnern könne.

»Ein gegenständliches Bild«, präzisierte er. »Nichts Avantgardistisches.«

Meine Mutter ging mit keinem Wort auf seinen Vorschlag ein. Zwischen den beiden schwelte ein ewiger Streit wegen eines kubistischen Porträts, das mein Vater während der Verlobungszeit von ihr gemalt und ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Sie hasste das Bild und meinte, dass sie darauf wie ein Clown, ein Monster oder eine fette Wachtel aussah, je nach Tageslaune.

»Ist das denn wirklich nötig?«, insistierte mein Vater.

»Ich will nicht, dass so etwas noch einmal passiert, und dazu müssen wir wissen, was eigentlich passiert ist«, erklärte meine Mutter.

Selbst ein knapp achtjähriger Junge begriff, worum es bei der Sache wirklich ging, der Hund konnte schließlich nicht noch einmal sterben. Meine Schwester, die nur ein Jahr älter war als ich, aber mit dem Tempo einer Papaya reifte, zog mich in die Ecke und sagte:

»Schau dir mal Papas Gesicht an, man könnte denken, sie wollen ihn ausweiden.«

Sein Gesicht hatte die Farbe unserer Bettlaken angenommen, die zwar ziemlich abgenutzt – dank der vielen Liter Chlor, die meine Mama zum Waschen benutzte –, aber immer noch recht weiß waren. Der Schlachter wollte wissen, ob mein Vater Probleme mit dem vielen Blut habe und in Ohnmacht fallen würde. Es sei ein heißer Tag, sie sollten sich besser beeilen, bevor der Hund zu stinken anfing. In feierlichem Ton, mit der kaltblütigen Art, mit der sie Familienstreit zu schlichten pflegte, antwortete meine Mutter:

»Sie können weitermachen.«

Der Schlachter schlitzte den Hund von der Schnauze bis zum Bauch auf. Das Blut lief über ein Foto mit dem Präsidenten Ávila Camacho, der die Arme hob, als würde er überfallen, obwohl er sich wahrscheinlich nur bejubeln ließ. Mama beugte sich vor und nahm die Eingeweide des Hundes unter die Lupe, wie ein etruskischer Hellseher, der die Zukunft sehen will, und sie sah sie, im wahrsten Sinne des Wortes, ist doch die Zukunft immer eine unheilvolle Konsequenz aus der Vergangenheit: Ein endlos langer Nylonstrumpf hatte sich in voller Länge in den Eingeweiden des Hundes verheddert. Es war wie bei dem Satz von Schönberg, nur umgekehrt, was letztlich auf dasselbe hinauslief: Meine Mutter hatte ihre Erklärung gefunden. Papa versuchte sich damit herauszureden, dass der Hund auf der Alameda herumgeschnüffelt und dort alles Mögliche gefressen habe.

»Wer’s glaubt, wird selig«, sagte Mama.

Ich lachte, und mein Vater gab mir eine Ohrfeige. Meine Schwester lachte, und meine Mutter kniff ihr in den Arm. Beide fingen wir an zu weinen. Beim Abendessen hielt es Papa nicht mehr länger aus. Da er keine Ausrede fand, um einen Moment hinauszugehen, ging er einfach so und kehrte nie wieder zurück. Der Schlachter packte den Hundekadaver ein und versprach ihn zu entsorgen. Meine Schwester folgte ihm heimlich und erzählte später, sie habe gesehen, wie er mit dem Tacoverkäufer an der Ecke verhandelt habe. Ich dürfe aber Mama nichts davon erzählen, weil sie den Hund so gern gehabt hätte. Das war Mamas Leben – Hunde gern haben.

Am nächsten Tag machte Mama kein Essen, so traurig war sie. Um sich nichts anmerken zu lassen, ging sie mit uns zum Tacostand. Dies sei der Beginn eines neuen Lebens, erklärte sie Wenn das so sei, hätte sie lieber einen Maiseintopf, sagte meine Schwester. Und ich Enchiladas. Es half alles nichts, die Tacos waren billiger. Als uns der Tacoverkäufer kommen sah, schüttelte er entsetzt den Kopf, als wären wir pervers. Aber so seltsam war das auch wieder nicht: Gab es nicht viele Menschen, die ihre Hühner über alles liebten und sie dann eines Tages – oder, schlimmer noch, an ihrem Geburtstag – mit Chilisoße aßen?

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Ich hatte alle möglichen Theorien über den Ursprung meines Romans entwickelt. Ich meine Theorien, warum sich Francesca in den Kopf gesetzt hatte, dass ich einen Roman schrieb. Eine logische Erklärung könnten die lächerlich dünnen, fast schon fiktiven Wände im Haus sein, die das Belauschen der Nachbarn zu einem beliebten Freizeitvergnügen machten. Darüber hinaus schien Francesca aber auch eine talentierte Märchentante zu sein und irgendwelche geheimen Absichten zu verfolgen. Warum sollte sie sonst behaupten, dass ich einen Roman schrieb, wenn ich das überhaupt nicht tat?

Ich besaß ein paar Hefte, in denen ich gelegentlich zeichnete und mir Notizen machte, das schon, vor allem nach Mitternacht, wenn das letzte Bier des Tages meine Kehle erfrischte. Oder das vorletzte. Oder das vorvorletzte. Ich zeichnete und schrieb auf, was mir durch den Kopf ging. Ich zeichnete und schrieb und nickte langsam ein, bis mir der Bleistift aus der Hand glitt und ich ins Bett sackte. Doch zwischen so etwas und dem Verfassen eines Romans liegen Welten, eine gewaltige Kluft, die nur mit viel Willenskraft und Naivität zu überwinden ist.

Was ich aber wirklich gern gewusst hätte, war, wie sie wissen konnte, was in meinem Heft stand, denn sie wusste es, und zwar mit einer geradezu unheimlichen Detailkenntnis, und sie erzählte davon in ihrem Literaturzirkel, als handelte es sich um das neuste Kapitel eines Fortsetzungsromans. Also benutzte ich das Heft, um ihr Nachrichten zu hinterlassen, und unter die Zeichnung eines Hundes, der eine Hündin besteigt, schrieb ich mit meiner krakeligen Schrift: Francesca, ich erwarte Dich morgen Abend um neun Uhr in meiner Wohnung. Ich werde die blaue Pille um halb neun einnehmen, uns bleibt also genug Zeit für das Vorspiel und ein oder zwei Bierchen. Sag Bescheid, wenn Du etwas Stärkeres willst. Einen Tequila vielleicht? Einen Mezcal? Oder lieber einen Whisky? Ich habe einen erstklassigen Whisky aus Tlalnepantla. Zieh was Hübsches an, einen Minirock aus Leder, oder dieses Kleid, das Du getragen hast, als wir das Colegio de San Ildefonso besichtigt haben.

Am nächsten Morgen wartete im Hausflur schon der komplette Literaturzirkel mit gewetzten Messern auf mich. Kaum hatten sie mich erblickt, bewarfen sie mich mit faulen Tomaten aus dem Gemüseladen nebenan und brüllten:

»So schreibt man keinen Roman!«

»Alter Lustmolch!«

»Das ist kein Roman!«

Und ich rief zurück:

»Ich hab’s euch doch gesagt!«

Ein anderes Mal schrieb ich ganze Absätze aus Adornos Ästhetischer Theorie in mein Heft ab, nur um sie noch mehr zur Weißglut zu treiben: Die Forderung vollständiger Verantwortung der Kunstwerke vergrößert die Last ihrer Schuld; darum ist sie zu kontrapunktieren mit der antithetischen nach Unverantwortlichkeit. Diese erinnert ans Ingrediens von Spiel, ohne das Kunst so wenig kann gedacht werden wie Theorie. Feierlicher Ton würde Kunstwerke ebenso zur Lächerlichkeit verurteilen wie die Gebärde von Macht und Herrlichkeit. Vorbehaltlose Preisgabe von Würde kann im Kunstwerk zum Organon seiner Stärke werden. Alle Dämme brachen: Jeder kaufte ein ganzes Kilo Tomaten.

Ich hatte es mir angewöhnt, unangenehme Situationen zu beenden, indem ich Absätze aus der Ästhetischen Theorie vorlas. Auf diese Weise hatte ich schon zahlreiche aufdringliche Anrufer, den einen oder anderen Hausierer, Dutzende von Versicherungsvertretern und einen Typ, der mir ein Luxusbegräbnis andrehen wollte, abgewimmelt. Das Exemplar der Ästhetischen Theorie hatte ich in einer von einer Bankstiftung finanzierten Bibliothek vier Blocks von zu Hause entfernt entdeckt. Ich hatte mir das Buch einfach in die Hose gesteckt, unters Hemd, und dabei ein Gesicht wie ein ambulanter Dialysepatient gemacht. Dieb, der einen Dieb bestiehlt. Die erste Seite trug den Stempel der Philosophischen Fakultät der Autonomen Universität von Mexiko. Dieb, der einen Dieb bestiehlt, der einen Dieb bestiehlt. Auf Seite 40 entdeckte ich zufällig den Satz von Schönberg, der mich an meine Mutter erinnerte: Wer nicht sucht, der findet nicht. Die Ästhetische Theorie hatte zwischen den Erinnerungen von Salvador Novo und denen des Bruders Servando geklemmt, in der Geschichtsabteilung. So etwas hätte weder Schönberg noch Adorno noch Mama gefallen: Wer nicht sucht, der findet trotzdem.

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Am dritten Tag, als der Anstand über ihre Wut gesiegt hatte, klopfte Francesca an meine Wohnungstür. Obwohl es draußen sehr heiß war, machte mir der tiefe Ausschnitt ihres Kleides ungewohnte Hoffnung – als könnte man die Schlacht von Puebla gewinnen, ohne nach Puebla zu gehen. Sie trug das Haar offen, und an ihrem Hals baumelte ein filigranes Goldkettchen mit einem ebenso filigranen Schmuckstück. Offenbar ein Verlobungsring.

»Darf ich reinkommen?«, fragte sie.

Ich trat zur Seite und stammelte ganz automatisch die Floskel, sie solle sich wie zu Hause fühlen. Vielleicht hätte ich zur Apotheke gehen sollen. Im Kopf machte ich mir eine Notiz: Zur Apotheke gehen.

»Wie wär’s mit einem Bierchen?«

»Etwas anderes wäre mir lieber«, antwortete sie. »Einen Anis. Oder einen Mandellikör.«

»Ich habe nur Bier. Und Wasser.«

»Dann Wasser.«

»Nehmen Sie Platz.«

Während ich ein Glas Wasser holte, machte sie es sich in dem schmalen Sessel vor dem Fernseher bequem, meinem einzigen. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie sie die Wohnung inspizierte und jeweils kurz bei dem Bild an der Wand und dem Regal neben dem Eingang verweilte, wo sich meine Hefte und ein paar Bücher stapelten, darunter kein einziger Roman. Viel mehr gab es nicht zu sehen: den kleinen Esstisch, zwei Kartons, die ich immer noch nicht ausgepackt hatte, und, natürlich, Kakerlaken.

Ich reichte ihr das Glas und lehnte mich an das Tischchen, denn ich konnte mich ja nicht mehr setzen, und beobachtete im Stehen, wie sie einen winzigen Schluck trank. Tatsächlich, und ganz unabhängig von meinen Absichten, war der einzige Ort, wo wir es uns beide hätten bequem machen können, das Bett. Zum Zeichen, dass ich wartete, verschränkte ich die Arme. Sie ließ sich Zeit, als müsste sie erst den Satzbau ihrer Worte überdenken. Endlich machte sie den Mund auf:

»Ich möchte Sie ganz offiziell zu unserem Literaturzirkel einladen.«

Während Francesca wieder an ihrem Wasser nippte, hallte die Melodie in meinem Kopf nach: Ich möch-te Sie ganz of-fiziell zu un-se-rem Li-te-ra-tur-zir-kel ein-la-den. Die Pause davor schien einstudiert, damit der Satz seine volle Wirkung entfalten und ich in Ruhe die Schlussfolgerung ziehen konnte, ihre Einladung sei eine große Ehre. Eine unverdiente Ehre natürlich, und genau darin läge die Macht, die Francesca, sollte ich zusagen, von da an über mich ausüben würde.

»Vielen Dank«, antwortete ich, »aber ich habe kein Interesse. Ich lese keine Romane.«

Das Glas in ihrer Hand begann zu zittern, sie hatte so wenig getrunken, dass es fast überschwappte. Sie richtete den Blick auf das Regal neben der Tür.

»Das sind keine Romane«, beeilte ich mich zu sagen, um von vornherein jedes Missverständnis aus der Welt zu räumen.

Francesca sah mich an, holte tief Luft und ging wieder zum Angriff über.

»Aber Sie schreiben einen Roman, und wenn Sie einen Roman schreiben, müssen Sie lesen, viel lesen.«

»Wie bitte?!«, antwortete und fragte ich gleichzeitig.

»Man muss die literarische Tradition kennen, sonst …«

»Ich schreibe keinen Roman, wie kommen Sie darauf?«

»Lügen Sie mich nicht an, in diesem Haus weiß jeder über alles Bescheid, wir sind eine sehr enge Gemeinschaft.«

»Eine sehr penetrante Gemeinschaft, meinen Sie.«

Sie stieß ein Knurren aus und hielt mir das Glas hin.

»Haben Sie mir etwa verziehen, dass ich Tacoverkäufer war?«, flüchtete ich mich in Sarkasmus. »Kann ein Tacoverkäufer einen Roman schreiben?«

»Wenn er gut zuhören kann, ja. Sie müssen eine Menge interessanter Gespräche gehört haben. Aber vom Zuhören zum Schreiben ist es ein langer Weg, wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen, der Literaturzirkel kann Ihnen von großem Nutzen sein.«

»Vielen Dank, aber ich lese und schreibe keine Romane.«

»Alle machen beim Literaturzirkel mit.«

»Alle bis auf mich.«

»Ihr Vormieter hat auch mitgemacht.«

»Und das war sein Verderben! Glauben Sie, ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist?«

Mein Vormieter hatte mitten in der Lektüre von Carlos Fuentes’ letztem Roman einen Herzinfarkt bekommen und war noch im Hausflur gestorben. Zum Gedenken an ihn hatten sie ein kleines Holzkreuz unter den Briefkästen angebracht, als hätte Carlos Fuentes persönlich ihn mit seinem Sportwagen über den Haufen gefahren.

»Ich weiß, dass unsere Bekanntschaft vom ersten Tag an unter keinem guten Stern stand«, sagte Francesca und beugte sich vor, so dass der Ring in ihrem Ausschnitt in der Luft baumelte und ihr Kleid sich einen Zentimeter mehr nach unten schob. »Der Literaturzirkel ist die Gelegenheit, um das in Ordnung zu bringen.«

Mir kam es vor, als würde der Ring sich drehen, und fürchtete schon, hypnotisiert zu werden.

»Es gibt nichts in Ordnung zu bringen.« Ich richtete den Blick auf ein Stück Himmel, das hinter dem Balkon zu sehen war. »Zwischen uns ist nichts kaputtgegangen.«

»Wie bitte?«

»Keine Sorge, ich bin nicht nachtragend.«

»Das heißt, Sie kommen morgen vorbei? Wir beginnen um zehn. Ich habe schon ein Exemplar von dem Buch für Sie besorgt, das wir gerade lesen. Wir sind erst beim zweiten Kapitel, das holen Sie ruckzuck auf. Und wenn Sie nicht abergläubisch sind, kann ich Ihnen die Leselampe des Vormieters schenken.«

»Vergessen Sie’s, ich komme nicht.«

Sie stand auf und strich sich ein paar imaginäre Krümel vom Kleid.

»Was nicht heißen soll, dass wir nicht Freunde sein können«, fuhr ich fort. »Ich lade Sie auf ein Gläschen in der Eckkneipe ein, dann kann ich nebenbei noch ein paar Pillen in der Apotheke kaufen, die ich vergessen habe. In Ordnung?«

»Sie können keine Romane schreiben, wenn Sie nicht lesen!«, sagte sie entschieden.

»Das trifft sich gut! Zwei Fliegen mit einer Klappe!«

Sie ging, ohne auf meine Einladung zu antworten. Bei meinen Nachforschungen, welches Interesse hinter ihrer Hartnäckigkeit stecken könnte – außer dass sie die komplette Kontrolle über das Haus anstrebte –, stieß ich auf einen etwas kindischen, aber garantiert entscheidenden Grund: In der Buchhandlung, wo sie die Romane für den Literaturzirkel bestellte, bekam sie beim Kauf von einem Dutzend Exemplaren Sonderrabatt.

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Gab es zu Hause Streit, brauchte meine Mutter nur zu sagen, Papa habe das Temperament eines Künstlers, und schon hatte sie gewonnen. In Anbetracht des Kontexts und der Stimme, mit der sie das sagte, schien das ein physischer Defekt zu sein. In Wirklichkeit war es eine Beleidigung, der mein Vater nie etwas entgegenzusetzen hatte. Er versuchte es mit Worten, aber seine Taten straften ihn Lügen, und die Beispiele, auf die sich die Diagnose meiner Mutter stützte, wurden immer zahlreicher.

Ein paar Monate bevor er uns verließ, war mein Vater auf die grandiose Idee gekommen, den Fäulnisprozess einer Papaya zu malen. Er hatte ein kleines, schon leicht überreifes Exemplar vom Markt mitgebracht, es halbiert und die beiden Hälften zusammen mit einem Glas Wasser und einer weißen Nelke auf einem Tisch neben seiner Staffelei arrangiert. Er veränderte noch ein paarmal die Position der Frucht und die Neigung der Blume, und als er mit seiner Komposition zufrieden war, warnte er uns:

»Wehe, einer berührt was. Und kommt ja nicht auf die Idee, die Papaya zu essen. Das Bild wird eine Studie über den Verfall, den Niedergang, die Vergänglichkeit des Lebens.«

Bevor die Papaya verfault war und um etwas gegen die von der Komposition faszinierten Fliegen zu unternehmen, schnitt meine Mutter am nächsten Tag, als Papa nicht zu Hause war, die Papaya in kleine Würfel und gab sie meiner Schwester und mir zu essen. Ich brachte die Papaya einfach nicht hinunter, versteckte sie und gab sie später meinem Vater zurück. Als er meine Mutter eine Verräterin schimpfte, sagte sie nur:

»Wenn du eine Papaya verschwenden willst, musst du erst das Geld für zwei haben.«