Das Buch

Charlotte ist alles andere als begeistert, als sie erfährt, dass ihre ehemals beste Freundin Doro mit in den Urlaub nach Noirmoutier fahren soll. Schließlich haben sie seit Monaten kein Wort mehr miteinander gewechselt. Nach einer Versöhnung im letzten Moment wirkt jedoch der Zauber der französischen Insel: traumhafte Ausritte am Strand und durch die Salzsümpfe – es könnte nicht herrlicher sein! Doch als Charlotte ein Pferd vor dem Schlachter rettet, verhält Doro sich merkwürdig. Es kommt zum Streit, und Charlotte muss sich fragen, ob ihre Freundschaft überhaupt noch zu retten ist. Glücklicherweise gibt es Simon und Katie – und Cody, das goldene Pferd mit den schönen Augen …

Die Autorin

© Felix Bruegemann

Nele Neuhaus, geboren in Münster/Westfalen, lebt heute im Taunus. Sie reitet seit ihrer Kindheit und schreibt bereits ebenso lange. Nach ihrem Jurastudium arbeitete sie zunächst in einer Werbeagentur, bevor sie begann, Erwachsenenkrimis zu schreiben. Mit diesen schaffte sie es auf die Bestsellerlisten und verbindet nun ihre zwei größten Leidenschaften: Schreiben und Pferde. Ihre eigenen Pferde Fritzi und Won Da Pie standen dabei Pate für die gleichnamigen vierbeinigen Romanfiguren.

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Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

»Bein lang, Absatz tief!«, rief ich zum wiederholten Mal und schnickte mit der Longierpeitsche in die Luft, um Sporty daran zu hindern, in Schritt zu verfallen. »Nicht die Knie hochziehen! Kopf hoch und Schultern zurück! Und treiben! Weiter! Mit den Schenkeln treiben!«

Der alte Apaloosawallach war das bravste Schulpferd aus dem Stall, aber wie alle altgedienten Schulpferde war er ziemlich schlau und wusste genau, wann er sich anstrengen musste und wann nicht. Das dünne dunkelhaarige Mädchen auf seinem Rücken, dessen Beine kaum bis unters Sattelblatt reichten, nötigte ihm keinen Respekt ab, und wenn ich nicht schnalzend und peitscheschwingend hinter ihm durch die Reitbahn laufen würde, wäre er wahrscheinlich längst einfach stehen geblieben. Ich war nass geschwitzt und hatte das Gefühl, mindestens dreimal so viel gelaufen zu sein wie das Pferd.

»Ich hab Seitenstechen!«, piepste das Mädchen, dessen Namen ich vergessen hatte.

»Oh Mann«, murmelte ich. »Scheeeritt, Sporty!«

Das Mädchen presste die Hand in die Seite und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Auf der Bank hinter der Bande saß die Mutter und sprang sofort hoch.

»Willst du lieber aufhören?«, erkundigte sie sich besorgt.

»Nee. Ich muss ja noch zehn Minuten«, antwortete das Mädchen nach einem kurzen Blick auf die verstaubte Uhr, die über den Fenstern des Casinos hing. Und ich glaubte zuerst, mich verhört zu haben.

»Willst du etwas trinken, Mäuschen?«, rief die Mutter und wedelte mit einer Plastiktrinkflasche.

»Darf ich?«, fragte mich die Kleine unsicher.

»Wenn du am Verdursten bist und sonst ohnmächtig wirst – bitte sehr«, antwortete ich schulterzuckend.

»Ach nee, ich hab keinen Durst«, sagte das Mädchen zu ihrer Mutter. Deren Handy klingelte, und sie begann lautstark zu telefonieren, obwohl überall Schilder hingen, dass Handys in der Reithalle unerwünscht waren.

»Sag mal, wie hast du das denn eben gemeint: Du musst noch zehn Minuten?«, fragte ich die Kleine, noch immer etwas ungläubig. »Macht dir das Reiten denn keinen Spaß?«

»Na ja.« Sie zuckte die Schultern. Wieder saß sie ganz krumm im Sattel und zog die Absätze hoch. »Irgendwie hab ich mir das anders vorgestellt. Nicht so anstrengend.«

»Äh, okay.« Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Ich konnte nicht glauben, dass jemand beim Reiten dauernd auf die Uhr guckte, um zu sehen, wann die Stunde endlich vorbei war! Bei mir war das immer anders gewesen, früher, als ich selbst noch auf Schulpferden geritten und die eine Reitstunde das Highlight meiner Woche gewesen war. Selbst wenn ich eins von den Schulpferden zugeteilt bekommen hatte, mit denen ich nicht so gut zurechtkam oder vor denen ich sogar Angst gehabt hatte, wie Flocki, Hanko, Douglas oder Farina, so hatte ich niemals das Ende der Reitstunde herbeigesehnt.

»Ich hab gedacht, ich könnte einfach so losreiten«, gab das Mädchen zu. »Aber jetzt hab ich schon die dritte Longenstunde und kann immer noch nichts. Im Kino ist das anders. Da sieht Reiten voll einfach aus.«

Na spitze! Noch so ein Ostwind-Opfer! Immer wenn irgendein Pferdefilm im Kino lief, kamen ein paar neue Reitschülerinnen in den Stall, die unbedingt sofort reiten können wollten und schon die erste Enttäuschung erlebten, wenn sie – statt auf einem schwarzen Hengst – auf dem treuen alten Sporty an der Longe reiten sollten. Die meisten von ihnen gaben nach den ersten Versuchen wieder auf und verschwanden auf Nimmerwiedersehen.

»Hör mal«, sagte ich. »Reiten lernt man nicht in zwei Wochen. Das ist schon ganz schön mühsam, bis man es so gut kann wie die Schauspielerin von dieser Mika, und die hat …«

»Oh, du hast Ostwind auch gesehen!«, unterbrach mich das Mädchen und seine Augen leuchteten auf. »War das nicht cool, wie die Mika ohne Sattel über die Wiesen galoppiert ist?«

»Lass mich mal ausreden«, erwiderte ich. »Es ist totaler Schwachsinn zu glauben, man kann Reiten so schnell lernen wie das in Filmen immer gezeigt wird. Ich hab vor vier Jahren angefangen und … setz dich mal gerade hin! … würde nicht von mir behaupten, dass ich super reiten kann.«

»Wie?« Die Kleine sah entsetzt aus. »Du kannst nach vier Jahren immer noch nicht reiten?«

»Doch, schon.« Verflixt, wie konnte ich ihr begreiflich machen, was ich meinte? War es überhaupt die Mühe wert? Wenn man nicht total verrückt danach war, reiten zu lernen, dann würde man nie mit den Rückschlägen und Niederlagen, die man immer wieder einstecken musste, klarkommen. Reiten war mehr als nur ein Hobby, da waren meine Freundinnen und ich uns einig. Wenn andere im Sommer im Freibad oder in der Eisdiele herumgammelten, waren wir im Stall. Wir schwitzten in der Reithalle, schluckten auf dem Reitplatz Staub, schleppten bei 35 Grad Hitze Heu- und Strohballen auf den Heuboden, wo es locker noch zwanzig Grad wärmer war, wir wurden von Fliegen und Kriebelmücken fast aufgefressen, hatten schwarze Fingernägel und unsere Klamotten waren immer schmutzig. Im Winter fror man im Stall, bei Regen stand der Reitplatz unter Wasser und man musste Pferd und Sattelzeug jedes Mal nach dem Reiten mühsam trocken reiben und sauber machen, aber niemand von uns wollte es anders haben. Die Pferde waren unser Leben und dafür nahmen wir alles in Kauf.

Die lustlose Kleine, die in Sportys Sattel hing wie ein Schluck Wasser in der Kurve, machte auf mich nicht unbedingt den Eindruck, als ob sie freiwillig die Bande mit einem Besen abkehren, den Hufschlag in der Reithalle schaufeln oder Pferdeäpfel vom Reitplatz lesen würde und dabei auch noch Spaß hätte. Ganz zu schweigen davon, was ihre aufgetakelte Mutter mit den künstlichen Fingernägeln und ihrem mit Strasssteinchen verzierten Smartphone dazu sagen würde!

»Wie jetzt?«, fragte das Mädchen kritisch. »Kannst du nun reiten oder nicht?«

»Ja, das kann ich«, erwiderte ich. »Ich habe ein eigenes Pferd, das nicht so leicht zu reiten ist, und ich habe schon Springen gewonnen. Aber trotzdem ist jedes Pferd anders, und nur weil ich mit meinem Pferd gut zurechtkomme, bedeutet das nicht automatisch, dass ich jedes andere Pferd genauso gut reiten kann. Um zum Beispiel so gut zu sein wie Herr Weyer, unser Reitlehrer, braucht man wahnsinnig viel Übung und auch Talent. Reiten lernt man nur durch reiten.«

»Aha.« Die Kleine seufzte entmutigt. »Ach, am besten lass ich’s wohl gleich. Das schaff ich ja eh nie.«

Beinahe hätte ich ihr zugestimmt, aber dann fiel mir siedend heiß ein, dass Herr Weyer mich wohl kaum weiterhin Anfängerunterricht geben lassen würde, wenn ich neue Reitschüler schon während der ersten Longenstunden vergraulte. Ich überlegte fieberhaft, was ich Aufmunterndes sagen konnte, damit das Mädchen wiederkam. Dann hatte ich eine Idee.

»Pass mal auf, äh … wie heißt du noch mal?«

»Thea.«

»Danke. Also, Thea. Was hast du so für Hobbys?«

»Ballett, Volleyball, Geige, Schwimmen«, zählte die Kleine ohne große Begeisterung auf, während ihre Mutter hemmungslos laut telefonierte.

»Und was machst du am liebsten?«, erkundigte ich mich.

»Hm … Weiß nicht.« Thea warf einen raschen Blick zu ihrer Mutter hinüber. »Es ist alles ganz okay.«

»Hast du schon mal was von Voltigieren gehört?«, fragte ich.

»Das ist so Turnen auf dem Pferd, oder?«, erwiderte sie.

»Stimmt. Vivien, unsere Voltigierlehrerin, war Deutsche Meisterin und Weltmeisterin und hat total viele Pokale gewonnen.«

»Echt?« Thea riss beeindruckt die Augen auf.

»Ja. Vielleicht wäre es gut, wenn du erst mal voltigierst, bevor du reiten lernst. Beim Voltigieren braucht man keinen Sattel, das ist also fast ein bisschen wie in Ostwind

»Cool!«

»Und da du ja schon Ballett kannst, wird dir das wahrscheinlich leichter fallen als das Reiten selbst«, fuhr ich fort. »Wenn man eine Weile voltigiert hat, geht alles viel einfacher. Man hat ein besseres Balancegefühl und kennt schon den Rhythmus der Gangarten.«

»Hast du auch voltigiert, bevor du angefangen hast zu reiten?«, wollte Thea wissen.

»Ja.« Das Thema musste ich allerdings nicht unbedingt weiter vertiefen. Ich hatte null Talent zum Voltigieren gehabt und mir war es nie gelungen, allein aufs Pferd zu kommen. Total peinlich, eigentlich. »Also, wenn du willst, können wir gleich mal zu Vivien hingehen und sie fragen. Aber bevor du heute absitzt, musst du unbedingt wenigstens einmal galoppieren.«

»Oh, lieber nicht.« Thea bekam einen ängstlichen Gesichtsausdruck. Wieder guckte sie zu ihrer Mutter hinüber, aber die war so vertieft in ihr Telefonat, dass sie nicht mitbekam, über was wir redeten.

»Bist du schon mal galoppiert?«, fragte ich. »Galopp ist nämlich die schönste Gangart von allen!«

»Und was, wenn ich runterfalle?«

»Niemand fällt von Sporty runter«, versicherte ich. »Er galoppiert wie ein Schaukelpferd. Halt dich einfach vorne an dem Lederriemen am Sattel fest, okay?«

»Ooooookay …«

»Bist du bereit?«

»Ich weiß nicht …«

»Na komm! Einmal Galopp, ja? Bein lang, Steigbügel fest austreten, damit die Absätze nach unten zeigen und du nicht mit dem Fuß durch den Bügel rutschst.« Ich gab Sporty einen Wink mit der Longierpeitsche und schnalzte. »Im Arbeitstempo Galopp, Marsch!«

Der alte Wallach setzte sich gehorsam in Bewegung und galoppierte in Zeitlupe um mich herum.

Mein Freund Simon spottete immer etwas boshaft, Sporty habe außer den üblichen drei Gangarten Schritt, Trab und Galopp außerdem die Gänge Schrab, eine Art Zuckeltrab, und Tralopp, eine Mischung aus Trab und Galopp, im Repertoire, womit er nicht ganz unrecht hatte. Wirklichen Schwung aus der Hinterhand entwickelte der alte Apaloosawallach nicht mehr und manche Leute, die ihn »traloppieren« sahen, glaubten, er würde lahmen. Für die Anfänger auf seinem Rücken war sein »Tralopp« auf jeden Fall extrem bequem.

»Und?«, rief ich. »Gefällt’s dir?«

»Oh, wow! Ja!«, rief Thea atemlos. »Das ist viel besser, als Trab zu reiten!«

»Jetzt lass mal die linke Hand los und leg sie auf deinen Oberschenkel!«

Sie gehorchte und strahlte plötzlich.

»Brrrr! Scheeeritt!«, sagte ich und Sporty fiel sofort in den Schritt. Er war wirklich ein Goldstück: geduldig, gehorsam und durch nichts zu erschüttern.

»Boah, das war megacool!« Thea klopfte dem Wallach den Hals und strahlte über das ganze Gesicht. »Bei Herrn Weyer hab ich mich nicht getraut zu galoppieren!«

»Man fängt ja auch erst mit Schritt und Trab an. Aber jetzt weißt du, wie sich Galopp anfühlt.« Ich freute mich, dass sie endlich Spaß hatte. Und ich erinnerte mich an etwas, was mir Herr Weyer mal gesagt hatte, als ich mit Won Da Pie fliegende Galoppwechsel geübt hatte: Man soll immer mit einem Erfolgserlebnis aufhören.

»Kann ich wohl noch mal galoppieren?«

Ich warf einen Blick zur Uhr.

»Eigentlich ist deine Stunde rum«, sagte ich bedauernd.

»Waaas? Echt?« Thea schaute ganz entsetzt drein. »Ach, bitte, nur noch ein Mal Galopp! Bitte, bitte, bitte!«

»Na gut.« Ich musste insgeheim grinsen. So schnell wurde aus müssen wollen. »Komm, Sporty! Galopp!«

»Na, Frau Reitlehrerin, macht’s noch Spaß, talentfreien Kindern zu erklären, wie Leichttraben funktioniert?«

Meine Freundin Katharina von Richter, die nur Katie genannt wurde, war gerade damit beschäftigt, eine Trense zu putzen, als ich mit Sportys Sattelzeug in die Sattelkammer kam. Ich überhörte den Spott in ihrer Stimme.

»Ja, mir macht’s Spaß.« Ich wuchtete Sportys Sattel auf den Sattelhalter und hängte seine Trense weg. »Und wir haben ja alle mal angefangen.«

Katie hatte sich in den vergangenen Monaten sehr zu ihrem Vorteil verändert und ich mochte sie, aber hin und wieder blitzte noch ihre alte Überheblichkeit auf. Ihre Eltern waren nicht gerade arm und Katie hatte in ihrem Leben nie auf Schulpferden reiten müssen. Als sie fünf Jahre alt gewesen war, hatte sie ein kleines Pony bekommen, später ein größeres, dann ihr erstes Pferd. Immer hatte sie Einzelunterricht gehabt und ihre Mutter hatte sie und ihren Bruder Sven mit ihren Pferden zu Lehrgängen und berühmten Springtrainern gefahren. Katie wusste nicht, wie schwierig es war, mit einer Reitstunde pro Woche reiten lernen zu wollen.

»Stimmt«, grinste sie nun. »Aber manchen Leuten sollte man echt gleich sagen, dass sie’s nie lernen werden, bevor sie viel Kohle ausgeben und dann frustriert sind.«

Dieser Satz versetzte mir einen Stich. Mehr als einmal hatte Alex, der Sohn unseres ersten Vorsitzenden, der gelegentlich als Reitlehrer einsprang, mir genau das nahegelegt. »Steinberg, lass es lieber mit dem Reiten, du lernst es nie!«, hatte er ein paarmal gesagt. »Erspar es den Pferden und schone den Geldbeutel deiner Eltern

Alex besaß das zweifelhafte Talent, Schwächen auf den ersten Blick zu erkennen, und er genoss es regelrecht, andere Menschen zu schikanieren. Nur um mich zu ärgern, hatte er mir immer genau die Pferde zugeteilt, vor denen ich höllische Angst hatte, und dann hatte er sich vor allen Leuten über mich lustig gemacht. Sein Zynismus traf jeden, nicht nur mich, aber das war kein großer Trost, wenn er einen auf dem Kieker hatte. In der Zeit, in der er den Reitunterricht gegeben hatte, weil sich unser alter Reitlehrer Herr Kessler das Bein gebrochen hatte, waren immer mehr Schulreiter weggeblieben, weil sie keine Lust hatten, sich von Alex bloßstellen zu lassen. Seine Reitstunden waren nämlich nur dann lustig, wenn man sicher auf der Tribüne saß und nicht direkt betroffen war. Ein paarmal war ich nahe davor gewesen, das Reiten tatsächlich aufzugeben. Vor den Springstunden hatte ich immer Magenschmerzen gehabt und nichts mehr essen können, und wäre Dorothee, meine ehemals allerbeste Freundin, nicht gewesen, dann hätte ich’s wohl auch getan. Vor ihr hatte ich aber nicht blöd dastehen wollen, nur deshalb hatte ich immer wieder die Zähne zusammengebissen und durchgehalten. Von Anfang an hatte ich in Doros Schatten gestanden: Sie war selbstbewusst und hatte eine große Klappe, beim Reiten war sie die Mutigere und die Bessere von uns beiden gewesen, das hatte ich neidlos anerkannt.

Aber dann, ja, dann war im letzten Sommer Won Da Pie in mein Leben gekommen und damit hatte sich alles komplett verändert.

»Herr Weyer und der Vorstand würden mich killen, wenn ich der Kleinen das sagen würde«, antwortete ich Katie. »Außerdem lernen es die meisten doch irgendwann. Oder sie geben es von selbst auf.«

Vor ein paar Wochen hatte mich unser Reitlehrer gebeten, eine Longenstunde zu übernehmen, weil seine Freundin Vivien, die das üblicherweise machte, ein Pferd in die Tierklinik fahren musste. Offenbar waren er und die Reitschülerin mit mir zufrieden gewesen, denn seitdem durfte ich regelmäßig Anfängerunterricht geben, was mir riesigen Spaß machte. Ich hatte nicht vergessen, wie oft ich früher mit schlotternden Knien den kurzen Weg zum Reitstall gelaufen war, weil ich befürchtete, Hanko, Farina oder Flocki reiten zu müssen. Ja, ich wusste nur zu gut, was es bedeutete, auf der einen Seite Angst zu haben und jedes Mal seinen inneren Schweinehund überwinden zu müssen, auf der anderen Seite aber nichts lieber zu wollen, als reiten zu lernen. Vielleicht konnte ich mich genau deshalb so gut in die Anfänger hineinversetzen. Niemals würde ich so gemein sein wie Alex oder so gleichgültig, wie es Herr Kessler zum Schluss gewesen war.

»Wie auch immer.« Katie schnallte geschickt die Trense wieder zusammen. »Deine Geduld hätte ich nie. Ich glaub, ich würd durchdrehen, wenn die Kinder permanent rumjammern, weil sie Seitenstechen haben, die Steigbügel verlieren und auf dem falschen Fuß leichttraben.«

Meine Freundin rollte die Augen und ich schmunzelte. Das war typisch Katie! Mit Pferden hatte sie eine Engelsgeduld, mit Menschen jedoch nicht. Jeder, der nicht so gut reiten konnte wie sie oder gar besser war, war in ihren Augen ein Loser.

»Die Kinder sind nicht so schlimm«, verteidigte ich meine kleinen Reitschülerinnen. »Was mich nervt, sind die Mütter, die dauernd dazwischenrufen.«

Katies Handy klingelte und sie ging dran.

»Ja, klar. Lotte und ich sind fertig«, hörte ich sie sagen. »Holst du uns hier ab? Okay. Jo, bis gleich.«

»Wer war das?«, erkundigte ich mich.

»Meine Mom«, erwiderte Katie. »Sie hat sich mit Jens und Herrn Schäfer auf der Baustelle verabredet, weil sie ein paar Sachen wegen dem Reiterstübchen besprechen will, und fragt, ob wir mit hinfahren wollen.«

»Oh cool!«, rief ich begeistert. »Ja, klar! Ich sag schnell Wondy Tschüss und komme dann.«

»Supi.« Katie nickte. »Treffen wir uns oben vor dem Casino?«

»Jepp!« Ich verließ die Sattelkammer und den Stall und ging um den Misthaufen herum zu den drei Außenboxen. In der vordersten Box, die früher einmal meinem Pflegepferd Gento gehört hatte, stand seit dem letzten Sommer mein Won Da Pie. Er streckte seinen Kopf über die Halbtür, spitzte die Ohren und wieherte laut, als er mich kommen sah.

Wie immer, wenn ich zu meinem Pferd ging, überkam mich ein wehmütiges Gefühl. Nach der turbulenten Stadtverordnetenversammlung Anfang März war plötzlich alles ganz schnell gegangen, und mittlerweile wurde auf der anderen Seite der Stadt eine topmoderne neue Reitanlage gebaut, die im Herbst fertig sein sollte. Spätestens an Weihnachten würden dann alle Pferde umziehen und unser Stall, den wir liebten, auch wenn er unmodern und viel zu klein war, würde nur noch Geschichte sein.

»Na, mein Süßer«, sagte ich zu meinem Pferd und betrat seine Box. »Bald hast du Urlaub und kannst mal richtig schön faulenzen. Das wird dir guttun.«

Der braune Wallach sah mich aus seinen großen dunklen Augen aufmerksam an, dann fuhr er mit seiner weichen Nase über mein Gesicht und blies mir seinen warmen Atem in den Nacken. Ich streichelte seine Stirn und glättete seine widerspenstige Stirnlocke. Die Vorstellung, ihn vier endlos lange Wochen nicht zu sehen war schmerzlich, aber heute hatten die Sommerferien begonnen und ich musste mit meiner Familie wieder nach Frankreich auf die Atlantikinsel Noirmoutier fahren, so wie jedes Jahr, seitdem ich denken konnte. Und natürlich konnten wir kein Pferd mitnehmen. Deshalb sollte Wondy für vier Wochen nach Heftrich gebracht werden, wo er gemeinsam mit Gento den lieben langen Tag auf der Koppel herumlungern und saftiges Gras fressen konnte. Ein glücklicher Zufall hatte nämlich dazu geführt, dass ich meinen geliebten Gento wiedergefunden hatte. Sein damaliger Besitzer, Herr Lauterbach, hatte ihn an Jens Wagner verkauft, und dieser Jens war ausgerechnet der Architekt, der die neue Reitanlage geplant hatte. Und das Schönste daran war, dass er Gento im Herbst von Heftrich in den neuen Stall stellen würde und ich den braunen Wallach dann regelmäßig reiten durfte.

»Weißt du, ich freu mich eigentlich auf Noirmoutier«, verriet ich meinem Pferd. »Ich werde sie alle wiedersehen: Thierry, Sophie, Nicolas, Véronique und Rémy. Und natürlich die Pferde! Aber du wirst mir fehlen, mein Süßer.«

Won Da Pie schnaubte und wandte sich dem Berg Heu zu, der unter seinem Futtertrog lag. Pferde waren auf eine tröstliche Weise völlig unsentimental. Wenn sie nur genug zu fressen hatten, waren sie im Allgemeinen zufrieden. Wondy würde nicht vier Wochen lang am Koppelgatter stehen, sehnsüchtig auf meine Rückkehr warten und vor Kummer abmagern. Ihm würde es gut gehen und ruckzuck war die Zeit der Trennung vorbei. Im Spätsommer und Herbst fanden einige Turniere statt, an denen ich teilnehmen wollte, und ich hatte die Aussicht, vom hessischen Jugendtrainer Jürgen Bergmann in den E-Kader berufen zu werden. Dann stand der Umzug in die neue Reitanlage bevor, die Prüfung zum großen Reitabzeichen und …

»Lotte?« Ein dünnes Stimmchen riss mich aus meinen Gedanken. Ich warf einen Blick über die Halbtür der Box und erkannte meine kleine dunkelhaarige Reitschülerin.

»Hey, Thea«, sagte ich überrascht. »Was gibt’s?«

»Ich wollte dir nur Tschüss sagen«, erwiderte das Mädchen schüchtern. »Und danke für die tolle Reitstunde. Es hat mir voll Spaß gemacht zu galoppieren.« Ihre Augen glänzten. »Ich mache auf jeden Fall weiter mit dem Reiten. Aber das Voltigieren probiere ich auch aus, gleich nächste Woche.«

»Ach, das ist ja toll.« Ich verließ Wondys Box. »Freut mich echt!«

»Ist das dein Pferd?«

»Ja, das ist Won Da Pie.« Ich hielt die Boxentür auf. »Du kannst ruhig herkommen, wenn du magst.«

Thea näherte sich respektvoll und spähte in die Box.

»Oh, der ist ja schön!«, sagte sie andächtig. »Ich hab gehört, dass er voll wild ist.«

»Er ist nicht wirklich wild«, antwortete ich. »Aber er ist noch jung und ziemlich temperamentvoll.«

»Die anderen haben erzählt, dass du total gut reiten kannst.« Sie flüsterte fast. »Neulich, bei der Springstunde, bist du über die ganzen hohen Hindernisse gesprungen.«

Die Kleine blickte zu mir auf und ich las so etwas wie Bewunderung, ja, beinahe Ehrfurcht in ihren Augen. Eine Gänsehaut rieselte mir über den Rücken. Genau so hatte ich als kleine Reitschülerin früher Isa, Nicole oder Merle angesehen! Die anderen! Wen meinte sie damit? Doch bevor ich fragen konnte, rief Thea: »Ich muss los! Danke für die Reitstunde, Lotte!«

Sie hüpfte davon, und ich schaute ihr nach. Vorne, an der Reithalle, warteten zwei andere Mädchen auf sie. Alle drei steckten nun die Köpfe zusammen, kicherten aufgeregt und blickten sich zu mir um. Thea winkte mir zum Abschied und ich winkte zurück, dann verschwand sie im Stall.

In diesem Moment durchzuckte mich ein seltsames Gefühl. War es Wehmut? Ohne dass ich es richtig bemerkt hatte, hatte sich eine Clique von Jüngeren im Reitstall zusammengefunden: Mädchen, die so waren wie Doro, Inga, Beate, Bille und ich vor drei Jahren. Wie schnell doch die Zeit verging! Im Mai war ich fünfzehn geworden und es war ein Jahr her, seitdem ich Gento verloren hatte und todunglücklich mit meiner Familie nach Noirmoutier gefahren war. Ich hatte niemals mehr in meinem Leben reiten wollen, aber dann hatte ich die Pferde am Strand gesehen und meine Sehnsucht war wieder erwacht.

»Ich muss los. Bis morgen, Süßer!«, sagte ich zum Abschied zu Wondy, drückte ihm einen Kuss auf den rosa Knutschfleck an seiner Nase, schloss seine Box hinter mir und lief zum Stall.

Seitdem die Bagger Anfang April die Wiesen hinter dem Neubaugebiet oberhalb der B8 in eine riesige kahle Fläche verwandelt hatten, hatte sich unglaublich viel getan. Als Simon und ich damals beim feierlichen ersten Spatenstich dabei sein durften, hatte ich mir überhaupt nicht vorstellen können, wie alles eines Tages aussehen würde. Das Architekturbüro von Jens Wagner hatte ein maßstabsgetreues Miniaturmodell der neuen Reitanlage gebastelt und Simon hatte es am Tag des ersten Spatenstichs dem Architekten abgeschwätzt. Seitdem stand es auf einem Tisch im Casino, damit es sich jeder anschauen konnte.

Frau von Richter, der Doro heimlich den Spitznamen »Dragon-Mum« verpasst hatte, parkte hinter einer Reihe von anderen Autos und wir stiegen aus. Ich traute meinen Augen kaum, als ich sah, was sich seit meinem letzten Besuch auf der Baustelle verändert hatte.

»Wahnsinn!«, staunte ich. »Ich hätte nie gedacht, dass das so schnell geht!«

»Die Rohbauten sind immer ziemlich zügig fertig«, erwiderte Dragon-Mum, die irgendwie von allem Ahnung hatte. »Der Innenausbau dauert aber viel länger. Na kommt, Mädchen. Gucken wir mal, wo wir Jens finden.«

Vor sechs Wochen hatte man nur Betonfundamente und Rohre sehen können, doch nun standen beide Reithallen und das Hauptgebäude, und auch die vier verschiedenen Stalltrakte, die sternförmig auf eine Putzhalle zuliefen, waren im Rohbau fertig. Natürlich herrschte ringsum das totale Baustellen-Chaos, Bagger und Lkws standen herum, ein großer Kran überragte alles und dort, wo einmal der große Reitplatz mit Galoppierbahn und der Dressurplatz entstehen sollten, türmten sich Gebirge aus Sand, Erde und Schotter.

Katie und ich trabten hinter Frau von Richter her, die zielstrebig quer durch die Baustelle marschierte.

Der Architekt und ein paar andere Männer warteten bereits vor dem Gebäude, in dem später Reiterstübchen, Duschen, Umkleide- und Schulungsräume sowie Büros entstehen sollten. Vor ein paar Wochen hatte Herr Boshof, der langjährige Pächter des Reiterstübchens im Reitstall, einfach aufgehört, ohne vorher zu kündigen oder jemandem Bescheid zu geben. Katies Mutter hatte kurzerhand die Bewirtschaftung übernommen, damit die Reiter weiterhin die Möglichkeit hatten, nach dem Reiten etwas zusammenzusitzen. Diese vorübergehende Notlösung hatte Frau von Richter so viel Spaß gemacht, dass sie sich dazu entschlossen hatte, das Reiterstübchen auf der neuen Reitanlage zu pachten, deshalb musste sie mit den Handwerkern ein paar wichtige Details besprechen.

»Ihr könnt euch ja ein bisschen umsehen und überlegen, in welchem Stall ihr gerne eure Pferde stehen hättet«, sagte Jens Wagner zu Katie und mir.

»Aber verletzt euch nicht und macht nichts kaputt«, fügte Dragon-Mum hinzu.

»Mom, echt! Wir sind keine Kleinkinder mehr!«, erwiderte Katie genervt.

»Eltern haften für ihre Kinder«, entgegnete ihre Mutter und zwinkerte uns gut gelaunt zu. Dann verschwand sie mit den Männern im Innern des Rohbaus.

»Sie ist voll happy«, bemerkte Katie. »Endlich hat sie was, worauf sie sich richtig freut.«

»Ich finde deine Mom so cool«, sagte ich und das stimmte. Zuerst hatte ich sie nicht leiden können, aber mittlerweile bewunderte ich Frau von Richter grenzenlos. Sie fuhr den riesigen Pferdetransporter so routiniert wie ein Lkw-Fahrer, verlud problemlos die schwierigsten Pferde und war die schnellste Mähneneinflechterin, die ich jemals in meinem Leben gesehen hatte. Dazu wusste sie, wie man Lampen repariert, Heizungen entlüftet und konnte schneller Kopfrechnen, als ich die Zahlen in den Taschenrechner meines Smartphones überhaupt eintippen konnte.

»Wenn sie deine Mutter wäre, würdest du sicherlich anders denken«, antwortete Katie und stieß einen Seufzer aus. »Egal was ich auch mache, sie kann alles zehnmal besser und schneller.«

»Außer reiten.« Ich zwinkerte meiner Freundin zu. »Das kannst du besser.«

»Stimmt.« Katie grinste schief. »Wenigstens eine Sache.«

Nachdem Dragon-Mum die Regie im Reiterstübchen übernommen hatte, hatte sich für Katie alles zum Besseren gewendet und sie behauptete, ihre Mutter habe einfach eine richtige Aufgabe gebraucht. Jeder profitierte von diesem Arrangement, denn Frau von Richter hatte das heruntergekommene Reiterstübchen im Nullkommanichts auf Vordermann gebracht. Sie war sich für keine Arbeit zu fein, und das traute man ihr gar nicht zu, wenn man sie sah, so schick und gepflegt, wie sie immer war. Aber ich hatte sie schon die Toiletten im Damenumkleideraum putzen sehen, und als vor ein paar Monaten unser früherer Stallarbeiter Herr Schmidt vom Heuboden gefallen war und sich schlimm verletzt hatte, hatte sie sich ohne Rücksicht auf ihre sauberen Klamotten auf die Stallgasse gekniet und ihn versorgt. Dragon-Mum war immer voller Energie und hatte einfach vor nichts Angst.

Katie und ich schlenderten über die Baustelle. Noch immer brauchte man jede Menge Fantasie, um sich vorzustellen, wie alles eines Tages aussehen würde, wenn es fertig war, aber schon jetzt war deutlich zu erkennen, wie gewaltig groß der Unterschied zu unserem winzigen altmodischen Reitstall sein würde.

»Ist schon krass, wie viel Platz es hier gibt, oder?«, meinte Katie. Ihre Augen glänzten vor Begeisterung.

»Absolut«, pflichtete ich ihr bei. »Alleine diese beiden Reithallen sind voll der Luxus! Aber ob das wirklich alles bis Weihnachten fertig ist?« Ich blickte mich zweifelnd um.

»Klar!« Katie winkte ab. »Das sind ja noch sechs Monate bis dahin.«

Ich hatte mit Simon und meinen Freunden für diese neue Reitanlage gekämpft, aber plötzlich wurde mein Herz ganz schwer. In unserem alten gemütlichen Reitstall standen einunddreißig Pferde, hier würde es fünfundsechzig Boxen geben und das bedeutete, dass ziemlich viele neue Einsteller kommen würden, Fremde, die nichts über unseren alten Stall wussten. Schon immer hatte ich mich innerlich vor Veränderungen gefürchtet, und so ging es mir auch jetzt. Ich war daran gewöhnt, in weniger als einer Minute im Stall sein zu können, denn wir wohnten quasi direkt nebenan. Aus dem Badezimmerfenster konnte ich den Reitplatz sehen, und oft machte ich nach der Schule, wenn ich vom Bus kam, einen kleinen Umweg und schaute bei Won Da Pie vorbei. Das würde in Zukunft nicht mehr möglich sein. Außerdem würde sich unsere Stallgemeinschaft verändern. Isa war schon weg und auch Gaby, die Voltigierlehrerin. Unser Stallarbeiter Herr Schmidt war nicht mehr da. Der Eichwald würde mir fehlen, in dem man so schön reiten konnte. Und die herrlichen alten Bäume auf dem Reitplatz! Hier gab es keinen einzigen Baum weit und breit. Ja, alles würde ganz anders werden, und plötzlich kämpfte ich mit den Tränen, weil ich nicht wusste, ob mir das gefallen würde.

»Was ist los mit dir, Lotte?« Katie sah mich forschend an.

»Och, nichts«, erwiderte ich und drehte mich schnell um, damit sie nicht merkte, dass ich fast heulte. Aber so einfach ließ meine Freundin mich nicht davonkommen.

»Hey!« Sie legte ihre Hände auf meine Schultern. »Das wird so cool hier, Lotte! Wir können ganz anders trainieren. Und es gibt Paddocks und Koppeln und ein Solarium! Und die Boxen sind viel größer als im alten Stall!«

»Ich weiß ja«, flüsterte ich. »Es ist voll albern, aber ich hab jetzt schon irgendwie ein bisschen Heimweh nach unserem Reitstall.«

»Ja, das ist echt albern«, sagte Katie und schüttelte den Kopf. »Alles im Leben ist eben irgendwann vorbei. Du hattest im alten Stall eine superschöne Zeit, klar, aber hier wird’s auch toll. Wahrscheinlich noch viel besser! Und du kriegst mit Gento noch ein zweites Pferd zum Reiten dazu.«

Katie verstand nicht, warum ich traurig war. Sie war mit ihren Pferden schon in vielen verschiedenen Ställen gewesen und sah in erster Linie nur die Verbesserungen und die Vorteile, womit sie sicherlich recht hatte. Aber ich fürchtete eben um das, was unseren Reitstall so besonders gemacht hatte. So alt und eng und unmodern alles dort auch sein mochte, es besaß eine Seele, eine Geschichte, die diese moderne Anlage niemals haben würde. Für einen schmerzlichen Moment wünschte ich, Doro wäre jetzt hier. Sie hätte mich sofort verstanden. Zumindest früher hätte sie das getan. Heute war ich mir nicht mehr so sicher, denn meiner ehemals besten Freundin schien der Stall nichts mehr zu bedeuten. Unsere Freundschaft war vor ein paar Monaten zerbrochen, und sie kam kaum noch zum Reiten.

»Katie! Charlotte!« Dragon-Mums Stimme hallte durch die leeren Hallen. »Wir gehen!«

Ich fuhr mir rasch über die Augen und knipste ein Lächeln an. Niemand sollte mir anmerken, dass ich den Tränen nahe war, wie ein Baby!

Katies Mutter wartete mit Jens Wagner vor dem Rohbau des Verwaltungsgebäudes auf uns. Gemeinsam gingen wir quer über die Baustelle zu den Autos.

»Wir haben gerade besprochen, dass ihr Won Da Pie am Sonntagnachmittag nach Heftrich bringt«, sagte der Besitzer von Gento freundlich. »Dann können sich unsere Pferde kennenlernen und gleich mal für ein Stündchen zusammen auf die Koppel gehen.«

»Echt?«, fragte ich Frau von Richter erstaunt. »Würden Sie Wondy nach Heftrich fahren?«

»Natürlich«, erwiderte sie. »Das habe ich dir doch versprochen.«

»Ach, stimmt ja.« Manchmal hatte ich echt ein Gedächtnis wie ein Sieb. Katie kicherte.

Wir verabschiedeten uns von Jens und kletterten ins Auto. Auf der Rückfahrt zum Stall war ich schweigsam und hörte kaum zu, was Frau von Richter über ihre Pläne im neuen Reiterstübchen erzählte. Vier Wochen ohne Won Da Pie! Vier Wochen ohne Simon und ohne Katie! Und wenn ich aus Frankreich zurückkam, waren es nur noch fünf Monate, bis sich meine ganze Welt komplett verändern würde.

Frau von Richter setzte mich vor unserem Haus ab, und ich trottete ein wenig niedergeschlagen zur Haustür.

»Ich bin wieder da!«, rief ich und streifte mir die Schuhe von den Füßen. Alissa kam schwanzwedelnd aus dem Esszimmer und begrüßte mich fröhlich. Meine Familie, bis auf Papa, der wie üblich um diese Uhrzeit noch nicht zu Hause war, saß bereits am Abendbrottisch. Rasch wusch ich mir die Hände, schlüpfte in meine Crocs und setzte mich auf meinen Platz.

Ich hatte Mama per WhatsApp Bescheid gegeben, dass ich mit Katie und Frau von Richter noch zur Baustelle der Reitanlage fahren würde, deshalb fragte sie nun nach den Fortschritten.

»Ist echt voll krass«, maulte mein älterer Bruder Phil sofort. »Kaum kommt Frau Wichtig durch die Tür spaziert, stinkt’s hier wie im Tierkäfig und alles dreht sich nur noch um die blöden Zossen.«

»Du kannst es doch bloß nicht ertragen, wenn du mal zehn Sekunden nicht im Mittelpunkt stehst«, konterte ich.

»Das sagt die Richtige.« Phil verdrehte die Augen.

»Stimmt doch gar nicht.« Ich nahm mir eine Scheibe Brot.

»Ich bin saufroh, dass ich dich sechs Wochen lang nicht sehen und vor allen Dingen nicht riechen muss«, zischte mein Bruder.

»Was glaubst du, wie froh wir alle sind, dass du nicht mitfährst nach Noirmoutier!«, schoss ich zurück.

»Dann müssen wir nämlich deine miese Laune und dein Gemecker wenigstens im Urlaub nicht mehr ertragen!«, pflichtete Cathrin, meine jüngere Schwester, mir bei.

»Und ich kann in mein Zimmer gehen, wann ich will, weil du nicht bis mittags im Bett rumliegst und rumfurzt«, ergänzte Florian, mein jüngster Bruder.

Phil lief rot an und wollte ihm unter dem Tisch einen Tritt versetzen, aber Flori zog rechtzeitig sein Bein zurück und streckte ihm die Zunge raus.

»Mir tut jetzt schon die bedauernswerte Familie leid, die dich ertragen muss«, fügte ich noch hinzu. Phil würde am Sonntag nämlich nach Amerika fliegen, zu einem sechswöchigen Schüleraustausch nach Midland in Michigan.

»Ihr blöden kleinen Pi…«, begann Phil zornig, aber da fiel Mama ihm ins Wort.

»Hört jetzt sofort mit eurem ewigen Gezanke auf«, sagte sie energisch. »Wir wollen in Ruhe essen.«