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Günter-Christian Möller

Altdrachenstein

Der Schatz der Elfen

Umschlag, Illustration: Ingeborg Geib

Lektorat, Korrektorat: Dr. Nicola Peczynsky

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback978-3-7345-4127-8
Hardcover978-3-7345-4128-5
e-Book978-3-7345-4129-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1

Die dreizehn Masken der Finsternis

Es roch nach Rauch, Quellwasser und vermodertem Holz. Fackeln steckten in Haltern an den Felswänden, die von Ornamenten verziert wurden, auf denen Männer mit Speeren und Zauberstäben Drachen umkreisten. Dazwischen waren größere und kleinere Totenköpfe zu sehen.

Die Felswände ragten steil hinauf. Einige Lichter weit oben erweckten den Eindruck, als ob das Licht der Sterne vom Nachthimmel herabfunkelte. Eine kleine Arena tat sich zwischen den Felswänden auf. Auf der einen Seite ging sie in eine breite hohe Schlucht über, in dem ein altes Holzhaus zwischen zwei toten Bäumen stand. Auf der anderen Seite verengte sie sich in eine zweite, allerdings schmale Schlucht, die hinter einer Biegung in einen Tunnel überging, aus dem aufgeregte Stimmen zu vernehmen waren.

Zwölf Männer setzten sich auf Stühle, die in einem Halbkreis um einen Wasserfall herum gruppiert waren. Sie trugen blaue und rote Kutten und verschiedene Hüte auf den Köpfen. Ihre schwarzen Masken mit Augenschlitzen betonten den geheimen Charakter der Zusammenkunft. Als der Wasserfall im Hintergrund anfing silbern zu leuchten, verstummte das Gerede der Männer. Einige Kristalle im felsigen Gestein spendeten nun ein mattes flackerndes Licht, in dem der Wasserfall fast wie ein lebendiges Wesen aussah. Ein dreizehnter Stuhl mit einem kleinen Pult davor stand auf einem Podest auf der linken Seite des Wasserfalles. Plötzlich bildete sich dort ein Lichtblitz und im bläulichen Dunst tauchten die Umrisse eines dreizehnten Mannes auf, der schwarz verhüllt war. Er setzte sich auf den Stuhl, der eben noch leer gewesen war. Durch die Schlitze seiner Maske funkelten stechend grüne Augen, doch er schwieg. Zwei der Totenköpfe an den Wänden begannen rot und blau zu schimmern. Eine Frau mit weißem Gewand und verbundenen Augen erschien nun auf der rechten Seite des Wasserfalls im Lichtschein eines darüber schimmernden großen, silbernen Kristalls. Sie verharrte dort wie eine Statue. Dann begann es, in der Dunkelheit zu rauschen. Der Strom des Wassers nahm zu. Das Becken vor dem Wasserfall füllte sich. Da richtete sich der schwarze Maskenmann auf dem dreizehnten Stuhl auf und sprach nun mit lauter Stimme:

„Seit über 400 Jahren treffen sich die Magier des Ordens der Portalmaurer und die Magier der Zauberstabzunft jeden Monat einmal, um über die Zukunft unserer Enklave Cerninia zu beraten. Morgen wird nun er, den wir erwarten, hier erscheinen: Ein junger Magier aus der Enklave Altdrachenstein wird auf Einladung unserer Universität hier bei uns nach magischen Geheimnissen forschen. Er ist ein Bote des Lichts, dazu befähigt magische Tore zu öffnen, die sonst kein anderer Magier öffnen kann. Leider kommt er nicht allein, was für uns und unsere Pläne besser wäre. Eine Elfe wird ihn begleiten. Ich frage deshalb zunächst den Sprecher der Zauberstabzunft: Was gedenken Sie in dieser Angelegenheit zu unternehmen?“

Unruhe entstand unter den zwölf Männern vor ihm. Endlich stand einer mit einer dunkelroten Kutte auf und gebot den anderen Schweigen. Er wartete, bis sich das Raunen in der Schlucht beruhigt hatte:

„Wir sollten nichts unternehmen, was das Leben des Jungen gefährden könnte. Es ist viel wichtiger, die magische Vergangenheit zu erforschen als gefährliche und womöglich erfolglose Unternehmungen zu starten, wie Sie, Herr von Galgenberg, es vor Kurzem in Altdrachenstein mit all Ihren unfähigen Söldnern getan haben. Nichts ist dabei herausgekommen! Nur die Drachen und Elfen sind stärker geworden als je zuvor. Und damit nicht genug: Die meisten Magier in der Enklave Altdrachenstein haben sich von uns abgewendet, es stehen nur noch wenige auf unserer Seite.“

Er blickte zu einem der blauen Kuttenträger, hinter dessen Maske sich von Galgenberg verbarg. Von Galgenberg funkelte den Sprecher bedrohlich an, doch dieser nahm keine Rücksicht darauf.

„Nicht nur, dass Sie nichts erreicht haben, nein, ich musste sogar erfahren, dass Sie nicht davor zurückschreckten, einen Feuergeist in ihre Dienste zu nehmen. Ja, Sie hätten dieser Kreatur beinahe zu unbegrenzter Macht verholfen. Eine unverantwortliche Schandtat für jeden Magier, dem die Zukunft unserer Spezies nicht egal ist!“

Wieder machte der Mann eine Pause und sah in die Runde.

„Ich plädiere dafür, Herrn von Galgenberg aus unserem Zirkel auszuschließen. Wir können nicht dulden, dass die Verwirklichung unserer Ziele durch solch grobe Fehler gefährdet wird.“

Der Magier setzte sich, während die anwesenden roten Kuttenträger ihm applaudierten und Zustimmung äußerten. Da erhob sich ein blauer Kuttenträger und ergriff das Wort.

„Ich darf daran erinnern, dass wir von Galgenberg in die Enklave Altdrachenstein geschickt haben, um die wiedererwachte Macht der Elfen zu schwächen und die der dortigen Magier zu stärken. Die Mehrheit von uns hatte das damals so gewollt und beschlossen. Dass von Galgenberg diese Aufgabe nicht bewältigen konnte, lag an den unvorhersehbaren Schwierigkeiten mit den Drachen, die Partei für die Elfen ergriffen haben.“

Nun forderte von Galgenberg selber das Wort. Er stand von seinem Stuhl mit einer Schnelligkeit auf, die man dieser massigen Gestalt kaum zugetraut hätte, und wandte sich an den schwarzen Magier:

„Wir müssen uns mit dem unglücklichen Ausgang des Konfliktes in Altdrachenstein abfinden, jetzt geht es um Cerninia. Eine Elfe in unserer Enklave, in Cerninia, zu dulden, wäre nicht nur ein ewiger Schandfleck für unsere magische Ethik. Sie ist auch eine große Gefahr für unsere Enklave und unsere Ordnung, denn sie könnte in den Besitz unserer Forschungserfolge der letzten Hundert Jahre gelangen.“

Er machte eine Pause und sah zu den roten Kuttenträgern hinüber.

„Es ist nie herausgekommen, wo die letzten Elfen dieser Enklave geblieben sind und was aus dem letzten Drachen von Cerninia geworden ist. Vielleicht hausen sie in irgendwelchen, uns unbekannten Höhlen, genau hier unter uns. Drachen sind gefährlich, besonders alte Drachen. Der junge Magier, der morgen erscheinen wird, ist ein Bote des Lichts. Das macht ihn nicht nur natürlicherweise zu einem Freund der Drachen. Nein, er kann auch Elfen- und sogar Drachenschlösser öffnen! Dadurch ist er eine Gefahr für uns alle.“

Eine Pause folgte, in der das wütende Gemurmel der roten Kuttenträger das Rauschen des Wasserfalls übertönte.

„Es wäre also besser, diesen Boten des Lichts zu töten, genauso wie alle, die ihn begleiten.“

Ein anderer blau gewandeter Magier ergriff das Wort und unterstützte diesen Vorschlag auf das energischste:

„Sehr richtig! Die Elfe wird nur gegen unseren Widerstand nach Cerninia gelangen. Wir werden eure Untätigkeit nicht hinnehmen.“

Herausfordernd blickte er die roten Kuttenträger einen nach dem anderen an.

Der schwarz verhüllte Magier hatte bisher still und aufmerksam das Gespräch verfolgt, nun erhob er sich und forderte Ruhe ein, indem er den wachsenden Tumult mit dem Klopfen eines Holzhammers auf sein Pult unterbrach.

„Ich hoffe, dass Ihre Versprechungen erfolgreicher verlaufen als ihre Aktivitäten in der Enklave Altdrachenstein, Herr von Galgenberg. Damals hatten Sie uns vollmundig angekündigt, dass Sie die Elfen ein für alle Mal aus der Enklave Altdrachenstein vertreiben und den versöhnenden Einfluss von Direktor Drachennot unterbinden würden. Das entspricht unserem Grundsatz, keinen Frieden mit den Elfen irgendeiner Enklave in Europa zu schließen. Noch so ein Misserfolg und wir sind alle verloren“, erklärte der Schwarze mit lauter, kalter Stimme.

Ein roter Kuttenträger rief dazwischen:

„Wir hatten davor gewarnt, die ganze Enklave Altdrachenstein mit Söldnern anzugreifen, ohne irgendein Wissen über die Eigenschaften der Höhle des Gleichgewichts zu besitzen. Ich plädiere deshalb dafür, zunächst abzuwarten und nichts zu unternehmen. Vielleicht findet der Bote des Lichts gar nichts heraus, denn er ist sehr jung. Seine Magie ist nicht sonderlich mächtig, wie man hört. Sollte er tatsächlich etwas Interessantes erfahren – um so besser für uns: Wir werden es unserem Wissensschatz hinzufügen.“

Ein blau verhüllter Magier war damit nicht einverstanden:

„Wir müssen ihn isolieren. Er soll nur finden, wonach wir suchen, und das nehmen wir uns dann, denn es gehört uns. Die Gefahr, dass seine Magie ins Unermessliche wächst, ist einfach zu groß: Schließlich hat jeder Bote des Lichts einen Drachen als Gefährten und solange der noch lebt, ist er eine riesige Bedrohung.“

„Es steht zu viel auf dem Spiel“, erwiderte von Galgenberg. „Sie alle kennen die Legende vom Schatz der Elfen in Cerninia und Sie erinnern sich bestimmt auch, dass dort die Entstehung einer Enklave mithilfe dieses Schatzes geweissagt wird. Es wäre fatal, wenn der Bote des Lichts diesen Zauber in Gang setzen würde. Entweder wir nehmen ihn gefangen oder wir töten ihn.“

Doch der Sprecher der Zauberstabzunft widersprach:

„Es ist doch völlig ungewiss, ob es diesen Schatz überhaupt gibt, und der Bote des Lichts wird nur von einer Elfin begleitet. Sein Drache wird nicht mit ihm kommen. Selbst wenn die magische Kraft des Schatzes riesig ist, wird er sie aufgrund seiner beschränkten magischen Fähigkeiten nicht erkennen, geschweige denn freisetzen.“

Der vorsitzende Magier versuchte das nun einsetzende empörte Kommentieren und Lamentieren mit seinem Holzhammer zu unterbinden. Energisch bat er um Ruhe und verkündete:

„Genug geredet! Ich ordne eine Abstimmung in dieser Angelegenheit an: Wer ist dafür, dass wir den Boten des Lichts töten?“

Die sechs Zauberstäbe der Magier vom Orden der Portalmaurer reckten sich nach oben.

„Und wer ist dafür, ihn nicht zu töten, sondern ihn unter strenger Überwachung die magischen Geheimnisse unserer Enklave erforschen zu lassen?“

Die sechs Zauberstäbe der Magier von der Zauberstabzunft hoben sich in die Höhe. Der schwarze Magier wandte sich nun an die weiße Frau vor dem Wasserfall.

„Gut, dann wird eben das Schicksal entscheiden. Ich bitte alle Magier, sich zu erheben und sich vor der Seherin zu verbeugen. Kassandra, sag uns, was du siehst. Was soll geschehen?“

Die Magier erhoben sich und verbeugten sich vor der Frau, die sich wortlos zum Wasserfall drehte und ihre Hände hob. Immer größere Wassermassen liefen ins Becken und das Licht der Kristalle wurde intensiver. Das Rauschen in der Höhle steigerte sich fast ins Unerträgliche. Nun floss das Wasser über die Ränder des Beckens und sprudelte um die nackten Füße der Seherin. Blitze schossen aus ihren Händen und trafen das Nass. Nebel stieg auf, die Luft im Tunnel kam in Bewegung. Ein kleines Flugzeug erschien aus der Dunkelheit im bläulichen Dunst der Wassermassen, es zitterte, doch trotzte es dem aufkommenden Wind. Dann wurden im Nebel die Konturen eines blauen Totenkopfes sichtbar, der Feuer spie. Plötzlich zerbrach das kleine Flugzeug, fiel herunter und wurde von den Wassermassen verschlungen. Kassandra ließ die Hände sinken, das Rauschen wurde leiser und leiser und das Licht erlosch.

„Falls jemand Zweifel an der Richtigkeit dieses Schicksals hat, dann möge er sie jetzt äußern oder für immer schweigen“, sagte der schwarz verhüllte Magier. Er wartete einige Minuten, doch niemand widersprach. „So soll es denn geschehen.“

Dann verschwand er in einem weißen Lichtblitz. Erleichterung ging durch die Reihen der blauen Magier, während die Roten ihrem Ärger Luft machten. Langsam löste sich die Versammlung auf, die Magier strebten in die Schlucht, an dessen Ende sie nach und nach verschwanden. Nur zwei der blauen Kuttenträger blieben in der Arena zurück.

„Wollen Sie Florian und seinen Drachen wirklich töten, von Galgenberg?“

„Nein, aber ich will sie gefangen nehmen und Florian zu meinem Diener machen. Dann können wir diese Enklave allein beherrschen. Ich werde der nächste schwarze Magier, Lemort! Wenn das Flugzeug allerdings wirklich abstürzt und Florian dabei stirbt, ist es nicht schade um ihn. Dann machen wir uns alleine auf die Suche nach dem Elfenschatz, damit wir möglichst viele Zauberstab-Magier, die uns Portal-Magiern zahlenmäßig überlegen sind, auf unsere Seiten ziehen können. Können wir den Schatz in Besitz nehmen, so wird das bestimmt auf die Mitglieder der anderen Zunft Eindruck machen. Und auf jeden Fall will ich unsere Freunde aus ihrer Gefangenschaft in Altdrachenstein befreien. Wenn wir die Macht hier in Cerninia übernehmen wollen, dann ist das jetzt die beste Chance.“

„Ich werde aus Professor Pegasus nicht schlau“, sagte Lemort. „Hier spielt er den Schiedsrichter zwischen den beiden mächtigen Zünften und als stellvertretender Direktor der Universität betreibt er die Einladung des Jungen hierher.“

Von Galgenberg sah Lemort nachdenklich an.

„Besser jetzt einen Boten des Lichts einladen, der noch nicht über seine überragenden Kräfte verfügt, als später auf einen überlegenen Feind zu treffen. Professor Pegasus will sich eben alle Möglichkeiten offenhalten.“

„Und was ist mit Kassandra? Sie hat doch eigentlich für uns entschieden?“, hakte Lemort nach.

„Nein, nicht wirklich“, entgegnete von Galgenberg. „Kassandra kommt aus dem Fischerviertel unten am See und ist vermutlich eine Elfe. Pegasus hat sie irgendwie in seiner Hand. Ich weiß nicht wie, aber sie trifft niemals eine Entscheidung gegen seinen Willen.“

„Aber wenn sie eine Elfe ist“, flüsterte Lemort mit gerunzelter Stirn, „dann müsste sie längst tot sein.“

„Richtig“, sagte von Galgenberg. Die Geburtsurkunde von Kassandra ist verschwunden. Vielleicht befindet sie sich ja in der Bibliothek von Professor Pegasus? Kassandra hat ein Adoptivkind: Nanea Siebenstein. Wer weiß, ob sie nicht doch ihr leibliches Kind und damit auch eine Elfe aus dem wichtigsten Elfen-Clan ist.“

2

Der Anschlag

Florian war ganz aufgeregt. Der junge, fünfzehnjährige Magier stand neben Fanina, einer gleichaltrigen Elfin. Alfons Theodor von Drachennot, Direktor der Magierschule Altdrachenstein, schien die Aufregung seiner Schüler gar nicht zu bemerken, er starrte zum Himmel hinauf und auch der Mineralienlehrer Trodem, der ein Stückchen abseits wartete, machte einen gelangweilten Eindruck.

Nach dem erfolgreichen Kampf gegen die beiden Magier von Galgenberg und Lemort und ihre Söldner hatten die Lehrer der Schule Altdrachenstein und der Gemeindevorstand des Dorfes beschlossen, dass in Zukunft auch Elfen an der Schule unterrichtet werden sollten, obwohl sie eigentlich Feinde waren. Aber ohne die Hilfe der Elfen wäre der Sieg unerreichbar gewesen. Und so wurden jetzt nicht nur probehalber Elfenmädchen und -jungen zum Unterricht zugelassen, sondern auch ein Elfenlehrer für Magie eingestellt.

Sogar die Enklave Cerninia in der Schweiz hatte diese Maßnahme begrüßt, denn den Elfen war es auch zu verdanken, dass Tobias Kwantentorf, der Sohn des Direktors der dortigen Magieruniversität noch am Leben war. Von Galgenberg und Lemort hatten ihn nämlich vor einem halben Jahr entführt. Auch wollten die Magier aus Cerninia Fanina und Florian kennenlernen, die eine zentrale Rolle bei der Befreiung gespielt hatten. Sie hatten ihnen deshalb angeboten, ein Praktikum an der Universität zu machen und beim Erstellen einer Studie zu helfen. Über das Thema hatten Fanina und Florian noch nichts erfahren. Trodem, der Mineralienlehrer, hatte verschwörerisch gegrinst und gemeint, es würde sehr interessant werden. Ihre Mitarbeit könne jedoch überaus hilfreich sein, nicht zuletzt deshalb, weil sie ja bei ihm Unterricht gehabt hätten. Florian hatte daraufhin die Stirn gerunzelt und versucht, sich an Details des Unterrichts bei Trodem zu erinnern. Er konnte in seinem Kopf aber leider keine Erinnerungen finden, die ihn ermutigt hätten, an eine große wissenschaftliche Befähigung zu glauben. Oder reichten Zaubersprüche etwa aus, um etwas Entscheidendes zu einer Studie beizutragen?

Nun stand er mit Fanina auf einer großen, kahl gefressenen Schafweide in der Nähe vom Burgsee und schaute sich um. Weit und breit war nichts zu sehen. Nur ein Bauer, der in etwa einem Kilometer Entfernung mit seinem Pferd ein Feld pflügte. Florian schaute auf die Uhr. Genau zehn Uhr. Dann blickte er zu Drachennot, der mitgekommen war, um seine beiden Schüler zu verabschieden. Der Direktor lächelte zuversichtlich und blickte in Richtung Westen, auf den Burgsee, denn von dort würden die Leute kommen, auf die sie warteten. Plötzlich schloss er die Augen.

„Sie kommen“, sagte er. Florian riss die Augen auf, konnte aber nichts sehen. Auf dem See war kein Boot zu erkennen. Auch Fanina schüttelte den Kopf. Da deutete der Direktor auf einen kleinen Punkt in der Luft, der schnell näher kam. Ein dumpfes Dröhnen wurde lauter, bis ein uraltes Flugzeug dicht über ihre Köpfen hinwegschoss. Zwei laute Motoren zerrissen die Ruhe. Fanina hielt sich beide Ohren zu und blickte dem seltsamen Objekt ängstlich hinterher. Kurz darauf kam es zurück und landete mit stotternden Motoren auf der Schafweide. Dann rollte es langsam auf die Wartenden zu und kam dort zum Stand. Nach einigen Fehlzündungen der Zylinder herrschte schließlich wieder Stille. Es roch nach verbranntem Benzin und Auspuffgasen.

Eine schmale Luke öffnete sich und zwei Männer stiegen aus. Sie hatten altmodisch anmutende Fliegerbrillen auf, die sie nun abnahmen. Ihre dicken Fliegerjacken und die Stoßkappen auf dem Kopf verstärkten noch den Eindruck eines längst vergangenen Jahrhunderts.

„Das ist der berühmte Pilot Karlus Libellius“, stellte Drachennot den einen der beiden Flieger vor, während er dem Mann die Hand schüttelte. Trodem lächelte Karlus Libellius zu und nickte, Florian und Fanina reichten dem Piloten schüchtern die Hand.

„Er hat dieses Flugzeug, eine Libi 252, auch konstruiert, wenn ich mich recht entsinne, lieber Karlus?“, meinte der Direktor.

„Na, nun übertreib man nicht so, Alfons“, sagte der Mann und spuckte einmal aus, bevor er weiterredete. „Ich muss erst diesen ekelhaften Benzingeschmack loswerden. Wahrscheinlich leckt wieder einer der Tanks. Fürchterlich.“

Er machte eine kurze Pause und atmete tief durch.

„Wir haben eine abgestürzte Libi vor zehn Jahren in der Nähe unserer Enklave in einem See entdeckt. Sie sind eigentlich eine Erfindung der Menschen, der Nichtmagier oder Nimagis, die sie früher wohl mal in großer Zahl gebaut haben. Die abgestürzte Maschine haben wir unseren magischen Bedürfnissen angepasst: mit magischem Einspritzsystem, Widu-Starter, 33-Bit-Autopilot mit zwei Dreifrosch-Kommandoeinheiten und Doppelirrlicht-Monitoren.“

Anscheinend bewirkten all diese fantastischen Eigenschaften jedoch kein gutes Flugerlebnis, denn der Pilot war blass im Gesicht und hatte völlig verkrampfte Hände. Trodem zog deshalb eine Flasche aus seiner Jacke und reichte sie Libellius. Dieser griff gierig danach und nahm einen tiefen Schluck.

„Wollen Sie sich erst einmal ein bisschen aufwärmen und erholen, Karlus?“, fragte der Mineralienlehrer mitfühlend.

„Die Heizung war ausgefallen. Keine Ahnung, wie das passieren konnte.“

Karlus Libellius seufzte. Dann stellte er seinen mitgereisten Passagier vor:

Das ist Erwin Varus von der MSA, Magische Sicherheitsagentur. Außer den beiden Schülern nehmen wir ja auch noch die zwölf gefangenen Söldner mit nach Cerninia.“

„Was“, entfuhr es Florian entgeistert. Auf keinen Fall wollte er noch einmal einem dieser Söldner begegnen, die die Enklave Altdrachenstein überfallen hatten. Es war schon schlimm genug, dass die beiden Anführer von Galgenberg und Lemort hatten entkommen können. Auch Fanina schaute den Piloten entsetzt an. Doch nun mischte sich der Sicherheitsbeamte ein.

„Kein Grund zur Besorgnis! Die Gefangenen setzen wir vor dem Flug unter einen Schlaffluch, der sich durch nichts entschärfen lässt. Außerdem sind die Flugroute und unsere Ankunftszeit streng geheim. Ihr seht: Es kann absolut nichts passieren!“

Florian entspannte sich etwas, aber Fanina murmelte vor sich hin: „Das ist doch Unsinn!“ Der Sicherheitsbeamte schnappte die Worte auf, doch sein Lächeln erstarb nicht, sondern verstärkte sich sogar noch:

„Du bist noch zu jung, um die Situation beurteilen zu können.“

Da näherte sich langsam ein geschlossener Pferdewagen, der von sechs Reitern eskortiert wurde. In Altdrachenstein gab es keine Autos.

„Die Gefangenen“, sagte Varus. Und tatsächlich entstiegen die wichtigsten und gefährlichsten Söldner dem Pferdewagen: die Ringer-Brüder und die Hillinger-Brüder. Aus Sicherheitsgründen hatte man ihre Fußgelenke aneinander gekettet.

„Ohne Zauberstäbe müssten sie doch eigentlich ungefährlich sein“, murmelte Florian. Sein eigener Zauberstab steckte in seinem Ärmel. Doch Fanina sah ihn nur kopfschüttelnd an.

„Als Erste besteigen die Gefangenen das Flugzeug durch den Hintereingang“, ordnete Varus an.

Libellius ließ ihn gewähren. An der hinteren Einstiegsluke erhielten die Söldner von Varus einen kleinen Becher mit einem Getränk, das einige zunächst nicht trinken wollten. Doch als der Sicherheitsbeamte seinen Zauberstab auf die Betreffenden richtete, kippten alle den Inhalt des Bechers widerspruchslos hinunter. Danach fingen sie an zu gähnen, deshalb schob man sie rasch ins Innere des Flugzeugs. Varus schloss die hintere Tür und kam dann lächelnd zum Piloten und den anderen zurück.

„Das war’s. Wir können starten.“

„Und wenn nun doch einer von den Burschen seinen Zauberstab irgendwo versteckt hat?“, erwog Direktor Drachennot skeptisch.

„Selbst wenn“, entgegnete Varus gelassen. „Das Cockpit ist mit einer Aluminiumtür gesichert, durch die niemand hinein kann. Ich habe den Schlüssel und der Fluch, der sie zusätzlich schützt, ist nur mir bekannt ist.“

Wieder lächelte der Sicherheitsbeamte.

„Dann nichts wie los“, sagte Libellius. „Bis zum nächsten Mal. Ihr beide sitzt mit im Cockpit, direkt hinter uns.“

Er deutete auf Florian und Fanina. Die beiden Jugendlichen folgten den beiden Erwachsenen und stiegen hinter ihnen durch die vordere kleine Luke. Während Florian unschlüssig auf den, ihm vom Piloten zugewiesenen winzigen Platz blickte, betrachtete Fanina neugierig die Instrumente vor dem Pilotensitz.

Da gab es Irrlichtmonitore, auf denen drei Froschoberkörper in Rückansicht zu sehen waren, die Ohrhörer trugen. Daneben weitere Hebel und Knöpfe: Motor 1 und 2, Gas 1 und 2, Landeklappen, Querruder, Höhenruder manuell und automatisch, Starter 1 und 2, Bremsen und Landelichter. Außerdem fiel ihr der dicke Steuerknüppel auf. Außer Faninas und Florians Plätzen hinter dem Piloten befanden sich zwei weitere schmale Sitze auf der anderen Seite der Kabine hinter dem Kopiloten. Florian packte seinen großen Rucksack auf einen dieser beiden Sitze und setzte sich dann neben Fanina.

Der Pilot holte aus einem kleinen Wandschrank zwei Decken und warf sie den beiden Schülern zu. Dann setzte er sich auf seinen Sitz und klopfte ein paar Mal auf einen Monitor. Erschrocken drehte sich einer der Frösche um und fragte unwillig:

„Sollen wir etwa schon wieder zurückfliegen?“

„Erraten“, sagte Libellius unwirsch. „Und zwar sofort, wenn du nichts dagegen hast. Also worauf wartet ihr noch?!“

Ein Quaken war die Antwort. Für Florian und Fanina war es allerdings unmöglich, dies als Zustimmung oder Ablehnung zu deuten. Die Bedeutung wurde ihnen erst klar, als die Frösche ein ausgiebiges Konzert anstimmten, das dazu führte, dass die Motoren ansprangen. Der Pilot gab Gas und die Maschine rollte zum Ende der Weide. Dort wendete sie, die Motoren drehten nun rasant auf. Dann löste Libellius die Bremsen und das Fahrzeug wurde schneller und schneller. Als sie die Hälfte der Wiese, die als Startbahn diente, erreicht hatten, quakten sich der mittlere und rechte Frosch plötzlich empört gegenseitig an. Der rechte Motor drehte daraufhin langsamer.

„Sofort aufhören! Was soll denn das!“

Libellius trommelte ärgerlich mit den Fäusten auf die beiden Monitore vor sich. Diese fingen an zu flimmern und wurden schließlich schwarz. Fluchend betätigte er einen Schalter, drückte dann zwei weitere Hebel nach vorn. Der Motorenlärm nahm bis zur Schmerzgrenze zu. Dann zog er an dem Knüppel vor sich. Die Maschine hatte fast das Ende der Wiese erreicht, als sie im letzten Moment abhob.

„Kein Verlass auf diese Softwerker“, schimpfte Libellius.

In etwa fünfhundert Meter Höhe wurde der Irrlichtmonitor plötzlich wieder hell und die Frösche tauchten auf.

„Ich habe den Streit geschlichtet“, sagte der mittlere Frosch zum Piloten und strahlte ihn an. „Wir können wieder übernehmen.“

„Das war das letzte Mal, Argus. Du musst deine Trottel besser unter Kontrolle haben.“

„Wir sind keine Trottel“, bemerkte der rechte Frosch beleidigt.

„Ach, halt die Klappe!“, fuhr ihn Libellius an. „Ihr könnt übernehmen.“

Der Pilot schaltete auf Automatik, lehnte sich in seinem Sitz zurück und legte die Füße hoch.

„Ich mach jetzt erstmal ein Nickerchen. Weck mich auf, wenn was passiert, aber nur, wenn es wirklich ernst ist, Erwin.“

Varus nickte lächelnd.

„Du solltest wirklich mal darüber nachdenken, ob du die ganze Froschbande nicht doch entlässt und dir neue Frösche besorgst.“

„Hab ich schon drüber nachgedacht, aber meistens tun sie ja, was sie sollen. Außerdem hänge ich mittlerweile an ihnen. Und wenn ich sie wieder freilasse, wer weiß, ob sie sich dann noch in der wilden Natur zurechtfinden,“ meinte der Pilot gähnend.

„Man muss sich auf diese Typen verlassen können. Sonst kannst du auch ein leckeres Froschragout aus ihnen machen, Karlus“, widersprach der Sicherheitsbeamte.

„Es hat sechs Monate gedauert, sie zu dressieren“, erwiderte der Pilot müde. „Und außerdem ist mir Argus mittlerweile so richtig ans Herz gewachsen, auch wenn er manchmal nervt. Aber ohne ihn geht es nun mal nicht.“

Varus machte eine Geste, als ob er jemandem den Hals umdrehen würde und lächelte den Piloten an: „Falls du deine Meinung änderst, könnte ich das übernehmen.“

Fanina hatte das Gespräch beobachtet und schüttelte nun entsetzt den Kopf. Gleichzeitig ließ sie der Gedanke an die Söldner im hinteren Teil der Maschine nicht los. Deshalb ging sie nun zu ihrem Rucksack und holte einen weiteren Zauberstab hervor. Dann kehrte sie zu Florian zurück, legte sich die Decke um und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

„Während des Fluges müssen alle Passagiere angeschnallt bleiben“, tadelte der Sicherheitsbeamte, der die Elfin beobachtet hatte.

„Ach, lass sie doch. Kann doch nichts passieren. Wir haben ein Frosch-Flug-Stabilisierungssystem, das absolut zuverlässig ist“, beruhigte ihn Libellius.

Nach ein paar Minuten durchstieß das Flugzeug die Wolkendecke und die Sonne strahlte durch die kleinen Fenster ins Cockpit. Florian hatte sich wie Fanina in die Decke gehüllt und gähnte. Als er Durst bekam, blickte er zu seinem Rucksack, in den er eine kleine Trinkwasserflasche gepackt hatte. Da bewegte sich der Rucksack plötzlich. Ob das Flugzeug so sehr vibrierte? Oder hatte er sich getäuscht? Florian rieb sich die Augen.

Doch nun öffnete sich langsam der Reißverschluss und ein goldbrauner Eulenkopf kam zum Vorschein. Das kann nicht sein!, dachte Florian. Utalon, sein großer, goldener Drache, hatte sich in eine Eule verwandelt und war heimlich in seinen Rucksack gekrochen. Dabei hatte sie gestern noch darauf bestanden, in Altdrachenstein zu bleiben. Wütend blickte Florian sie an. Doch Utalon hielt die kleine Trinkwasserflasche im Schnabel und blickte ihn fröhlich an. Das Drachenmädchen hatte gespürt, dass er Durst hatte.

Langsam schälte sie sich ganz aus dem Rucksack. Dann flog sie mit zwei kräftigen Flügelschlägen hinüber zu Florian, landete auf seiner Schulter und hielt ihm die kleine Wasserflasche hin. Der Junge ergriff sie, schraubte sie auf und nahm einen tiefen Schluck. Er stellte fest, dass auch Fanina begeistert strahlte. „Danke“, sagte er zur Eule. Utalon fühlte Florians Fragen, deshalb summte sie rasch:

„Ich wollte eigentlich nicht mitkommen, aber Sülaton hat mich überredet. Sie meinte, dass dir sonst etwas zustoßen könnte.“

Sülaton war Utalons alte Drachengroßmutter.

„Aber wir hatten doch abgemacht, dass ich ohne dich reise“, sagte Florian.

„Ich weiß“, summte die Eule. „Aber gestern kam dann auch noch Direktor Drachennot zu mir und bestand darauf, dass ich in deinem Rucksack mitfliege.“

Florian schaute zu Fanina, doch sie zuckte mit den Schultern, zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. Offensichtlich war sie genauso ahnungslos wie er.

~~~

Der Flug verlief ruhig, nach fast drei Stunden ertönte ein zaghaftes „Quak Quak Quak“ aus den beiden Lautsprechern über den Monitoren. Varus stieß Libellius an.

„Sind wir schon da?“, fragte der gähnend.

„Wir durchstoßen gerade den Eingang des Wolkentunnels zur Enklave“, meldete der mittlere Frosch.

„Gut, Argus“, sagte der Pilot und blickte in die weiße Wolkenwand vor sich, als ob er dort die Begrenzungspfähle einer verborgenen Landebahn erkennen würde. Das Flugzeug verschwand im weißen Nebel und flog zwei Kurven. Plötzlich war ein großer See unter ihnen zu erkennen und in der Ferne tauchten die Konturen einer bergigen Landschaft auf.

„Auf fünfhundert Meter runtergehen“, befahl der Pilot dem Frosch im linken Monitor, was dieser mit einem „Quak“ beantwortete. Das Flugzeug sank langsam tiefer.

Plötzlich erschütterte ein Ruck die ganze Maschine. Fanina, die sich nicht angeschnallt hatte, fiel von ihrem Sitz. Sie schlitterte über den Boden gegen den Pilotensitz, an dem sie krampfhaft versuchte sich festzuhalten.

„Was war das? Habt ihr etwa das Stabilisierungssystem ausgeschaltet?“, fragte Libellius genervt und blickte wütend auf die Irrlichtmonitore.

„Nein, Chef. Die Stabilisierung ist an“, beteuerte Argus, der mittlere Frosch.

In diesem Moment begann das Flugzeug, unkontrolliert hin und her zu schleudern. Der Pilot prüfte die Daten auf den Irrlichtmonitoren, dann befahl er:

„Landeklappen ausfahren! Wir werden zu langsam. Was ist mit den Motoren? Stimmt die Drehzahl?“

„Die ist in Ordnung, Chef.“

„Und die Sensoren, was sagen die?“