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Rainer M. Schröder

Im Tal des Falken

Roman

hockebooks

Durch die Stromschnellen

Schon vor dem Morgengrauen hatten sich alle männlichen Bewohner, vom Kleinkind bis zum alten Mann, von Kasaba am Ufer eingefunden, wo sie ein Heidenspektakel veranstalteten. Noch in der Nacht hatte es sich im Dorf und bei den Fellachen in der Umgebung herumgesprochen, dass die Al Adiyat durch die Stromschnellen gebracht werden sollte und dass der rais der dahabia am Morgen für diese Aufgabe zweihundert Helfer verdingen würde. Jeder wollte zu den Glücklichen gehören, die an diesem Abend mit klingenden Piastern in der Tasche nach Hause gehen würden.

Harun Ben Bahleh ließ sich von dem Gedränge und Geschrei nicht im Mindesten beeindrucken. Mit sicherem Auge wählte er die Männer aus, die seine Barke sicher durch die Stromschnellen bringen sollten: sehnige, muskulöse Gestalten vom Volk der Barabra. Unterstützt wurde er dabei von einem alten Mann mit weißem Haupt- und Barthaar, dem sogenannten rais des Kataraktes, dessen Figur jedoch kaum weniger athletisch war als die der jungen Männer.

Dass die Arbeiter so gut wie nackt waren und sich nur wenige die Mühe gemacht hatten, sich mit einem schmalen Gürtel zu bekleiden, irritierte Tobias mehr als Jana. Aber so nackt die Männer sich auch um die Al Adiyat drängten, so trug doch jeder von ihnen den kleinen Dolch des Barabras, mit einem Lederriemen am linken Oberarm befestigt.

Es waren durchweg bildschöne Gestalten, die sich in ihrer Nacktheit mit natürlicher Anmut und sichtlichem Stolz auf das Ebenmaß ihres Körpers bewegten. Fast jeder von ihnen hätte einem Bildhauer Modell stehen können. Jana sah keinen Grund, den Blick beschämt abzuwenden. Sie lächelte nur, als sie einem besonders gut gebauten jungen Mann mehr als nur einen flüchtigen Blick schenkte – und Tobias daraufhin die Stirn in grimmige Falten legte.

»Mit einem Tuch hätten sie sich ja wenigstens bekleiden können«, murmelte er brummig.

»Aber warum denn?«, fragte Jana spöttisch.

»Weil … weil es unschicklich ist!«, antwortete er etwas verlegen und wusste sofort, dass seine Antwort nicht nur dumm klang, sondern auch dumm war und von einer Engstirnigkeit zeugte, die ihm sonst so gar nicht zu eigen war. Es hatte mit seiner Liebe zu ihr und einer daraus resultierenden Unsicherheit zu tun.

Jana schmunzelte. »Ich glaube, es ist weder unschicklich, nackt zu sein, noch sich an der Schönheit eines nackten Körpers zu erfreuen. Unschicklich können eigentlich doch nur die Gedanken sein, die man dabei hat … Aber anstößige Gedanken können einem auch kommen, ohne dass man einen nackten Menschen vor Augen hat, nicht wahr?«

Tobias wurde schlagartig hochrot im Gesicht, denn er fühlte sich bei seinen geheimsten Gedanken und Sehnsüchten ertappt. Wie oft hatte er sie, seine geliebte Jana, nackt vor seinen Augen gehabt, zumindest in Gedanken und in seinen Träumen! Und wenn sie alle Woche einmal am Abend die Al Adiyat verließen und einen einsamen Ort am Ufer aufsuchten, damit Jana sich einmal richtig baden konnte, dann machte es ihn schier verrückt, wenn er sie in ihrem dünnen Untergewand aus dem Wasser steigen sah. Es klebte dann klatschnass wie eine zweite, fast durchsichtige Haut an ihrem Leib und betonte ihre erregende Schönheit viel mehr, als dass es irgendetwas vor ihm verbarg. Er konnte dann nur mit Mühe seinen Blick von ihr nehmen und die Aufruhr, in die sein Körper geriet, unter Kontrolle bringen. War es anstößig, dass er das Verlangen hatte, sie in seine Arme zu nehmen? Nein, das konnte sie damit nicht meinen. Vor ihm bewegte sie sich völlig frei und ungehemmt, obwohl sie genau wusste, dass sie sich ihm beim Baden so gut wie nackt zeigte.

Er schalt sich einen Narren, dass er diese törichte Bemerkung mit dem Tuch überhaupt von sich gegeben hatte.

»Mhm, ja … du … da hast du wohl recht … Anstößig … also …« Er brach ab, weil er sich verhaspelte und gar nicht mehr wusste, was er eigentlich sagen wollte.

»Wenn etwas anstößig ist, dann wohl die Tatsache, dass ein nackter Mensch bei uns als anstößig gilt«, sagte Jana mit sanfter, liebevoller Stimme und sah ihm ins Gesicht. »Immerhin hat Gott uns ja so geschaffen, nicht wahr? Und dessen können wir uns kaum schämen. Wenn er gewollt hätte, dass wir uns vom Fuß bis zum Kinn verhüllen, hätte er uns wohl kaum die Gabe geschenkt, dass wir empfindsam auf die körperlichen Attribute anderer Menschen reagieren, besonders auf die von solchen, die uns sehr viel bedeuten, oder?«

Tobias spürte, dass sie ihm etwas sagte, was sie beide betraf. Ihre Botschaft erreichte ihn und ließ sein Herz schneller schlagen. Doch er war zu verwirrt, um ihr darauf eine halbwegs vernünftige Antwort zu geben. Die Hitze in seinem Gesicht wurde nur noch flammender und er nickte bloß.

Wenig später trat Sadik zu ihnen, um sich mit ihnen das lärmende Treiben anzuschauen, und das half Tobias seine Verlegenheit zu überwinden.

Tobias bemerkte mit Verwunderung, dass den meisten Schwarzen drei der Vorderzähne fehlten. Sadik erklärte ihm, was es damit auf sich hatte. »Die jungen Männer reißen sich die gesunden Zähne aus, um ganz sicher zu sein, nicht zum Soldatendienst gepresst zu werden. Dabei ist diese Selbstverstümmelung völlig unnötig, wie ich gehört habe. Denn noch nie sind die Barabras zum Militärdienst gezogen worden. Dafür werden sie viel zu sehr hier bei den Katarakten gebraucht.«

Die Al Adiyat wurde ganz entladen. Jegliches unnötige Gewicht, angefangen von Mast und Segel bis hin zum letzten Kochtopf, wurde an Land gebracht und dort auf Esel und Maultiere geladen. Allein vierzig Lasttiere und eine fast gleich große Zahl Treiber und Begleiter waren damit beschäftigt, Proviant, Gepäck und all die anderen Dinge, die von Bord der Barke geschafft wurden, auf dem Landweg auf die andere Seite des Kataraktes zu bringen.

Am späten Vormittag war es dann endlich so weit. Mehr als ein Dutzend Taue waren an der Al Adiyat befestigt. Die Barabras standen am Ufer und im Wasser bereit. Zu den zweihundert bezahlten Helfern hatten sich mindestens noch einmal hundert andere dazugesellt, meist junge Leute zwischen zwölf und zwanzig, die wie die Delfine im schäumenden Wasser herumtollten und einfach dabei sein wollten, auch wenn sie nicht dafür bezahlt wurden. Aber vielleicht fiel für sie ja doch noch ein Bakschisch ab, wenn sie sich nachher nur kräftig genug ins Zeug legten.

Jana und Tobias verfolgten das Geschehen von der Spitze einer Uferklippe aus. Zwar hatten sie schon zweimal erlebt, wie die Al Adiyat von Hunderten kräftiger Männer durch Stromschnellen bugsiert wurde. Doch das Schauspiel verlor auch diesmal nichts von seiner Aufregung.

Die Katarakte erstreckten sich über eine Strecke von mehreren Hundert Metern. Doch der schwierigste, steilste und klippenreichste Teil befand sich im unteren Drittel. Dort schäumte das Wasser zwischen mächtigen Felsbrocken und stürzte von einem Wasserbecken in das nächst tiefergelegene. Dies war der wirklich gefährliche und für die Männer anstrengende Teil der Stromschnellen, mussten hier doch auf kurzer Strecke unter schwierigen Bedingungen beachtliche Höhenunterschiede überwunden werden.

Die Al Adiyat tauchte in die Katarakte ein. Zum Teil wurde sie über die Taue, die zu den Zuggruppen am Ufer führten, durch die Strudel gezogen, zum Teil von der Mannschaft mit langen Stangen gestakt und zum Teil von den Barabras im Wasser förmlich um die Klippen herum und über glatt gewaschene Felsen getragen. Die Luft war erfüllt von den Kommandos des grauhaarigen rais des Kataraktes, dessen Stimme wie Donner all das andere Geschrei und Gelärme mühelos übertönte. An Deck der dahabia rannte Harun Ben Bahleh herum und schrie Befehle, die seinen Männern mit den Stangen galten.

Doch die Hauptbürde trugen die Männer aus Kasaba, die das Schiff im Wasser sicherten. Jana und Tobias waren fasziniert, mit welcher Gewandtheit sich die Schwarzen in den brausenden Fluten bewegten. Sie schienen zu wahren Wassergeschöpfen zu werden und die Barke streckenweise wie Amphibien im Schwimmen auf ihren Schultern zu tragen. Und zu beiden Seiten der hin und her taumelnden Al Adiyat, die sich langsam den Katarakt aufwärts quälte, stürzten sich die weniger an harter Arbeit interessierten jungen Burschen kopfüber in die Strudel, ließen sich in weiß schäumende Kessel hinabschleudern und ergötzten sich und ihre Spielgenossen mit allerlei atemberaubenden Kunststücken.

Es gab im unteren Drittel einige kritische Momente, wo die Barke zu kentern oder von einem besonders gewaltigen Strudel erfasst zu werden drohte. Dann schraubte sich Harun Ben Bahlehs Stimme in schrille Höhen, während die des weißhaarigen Alten scharfe und knappe Kommandos in einem ganz besonderen Takt von sich gab, der die dahabia jedes Mal rechtzeitig wieder zu einer stabilen Lage zu verhelfen schien.

Kurz nach dem Mittag waren die gefährlichen Klippen des unteren Drittels endlich überwunden, ohne dass die Al Adiyat dabei nennenswerte Beschädigungen davongetragen hätte. Dieser Erfolg wurde mit einem Jubelgeschrei aus Hunderten von Kehlen verkündigt. Es war ohrenbetäubend und schallte weithin über Fluss und Land.

Harun Ben Bahleh warf sich stolz in die Brust und gebärdete sich so, als wäre die gelungene Überwindung der gefährlichen Klippen allein sein Verdienst.

Dazu bemerkte Sadik sehr treffend: »Einige mühen sich ab und andere machen bloß den Lärm dazu!«

Haut an Haut

Trotz der Hitze arbeiteten die Barabras weiter. Denn wenn die schwierigsten Hindernisse auch erfolgreich überwunden waren, so warteten doch noch viele Stunden harter Arbeit auf die Männer. Laut Sadiks Einschätzung war damit zu rechnen, dass die Al Adiyat am späten Nachmittag den Katarakt überwunden hatte und oberhalb des Esh Shellal eth Thalith noch bis Einbruch der Dunkelheit am Ufer liegen würde.

»Die Zeit brauchen wir schon, um all die Sachen wieder an Bord zu nehmen und zu verstauen, die heute Morgen auf den Rücken der Esel flussaufwärts geschafft worden sind.«

Von der Besatzung der Al Adiyat war Achmed der Einzige, der sich nicht an Bord der Barke befand. Er hatte darauf bestanden, sich auch an diesem Tag um ihr ganz persönliches leibliches Wohl zu kümmern. Er konnte nicht viel älter sein als Tobias, war von sehniger, fast schon hagerer Gestalt und besaß ein schmales Gesicht mit stark hervortretenden Wangenknochen und Jochbögen. Er war sehr bemüht um sie, wenn er oft auch seine ganz eigenen Vorstellungen von dem hatte, was gut für sie war. Seine beständige Freundlichkeit machte jedoch seine kleinen Fehler mehr als wett.

Die Sonne stand schon tief im Westen, ohne jedoch allzu viel von ihrer brennenden Kraft verloren zu haben, als die Al Adiyat ein gutes Stück oberhalb des Kataraktes ans Ufer gezogen und dort sicher vertäut wurde. Für die Barabras war die Arbeit getan. Sie drängten sich nun um ihren rais und Harun Ben Bahleh, um ihren verdienten Lohn in Empfang zu nehmen. Indessen begann die Mannschaft der Barke schon damit, die Al Adiyat wieder in segelbereiten Zustand zu versetzen, womit sie noch bis in den Abend zu tun haben würden.

»Die Gelegenheit ist günstig. Lass uns ein wenig den Fluss hochgehen«, schlug Jana vor. »Wir werden jetzt bestimmt nicht vermisst.«

Er wusste sofort, was sie damit meinte, und nickte. Augenblicklich erinnerte er sich wieder ihres kurzen Gespräches am Morgen. Ein eigentümliches Gefühl beschlich ihn, das ebenso von freudiger Erregung wie von Unsicherheit bestimmt wurde.

»Ja, kaum. Ich sage nur schnell Sadik Bescheid.«

»In Ordnung.«

Augenblicke später entfernten sie sich gemächlichen Schrittes vom Liegeplatz der Barke und dem fröhlichen Gelärme der Barabras und hielten Ausschau nach einer geeigneten Stelle, wo Jana ungestört und vor allem unbemerkt ein Bad in den Fluten nehmen konnte.

»Du weißt ja gar nicht, wie sehr ich mich darauf freue, mir endlich den Schweiß und Sand vom Körper waschen zu können – und zwar nicht hastig und verschämt in der Kabine mit einem Lappen und nur einer mickrigen Blechschüssel voll Wasser«, seufzte sie, als sie längst außer Hörweite waren. Nun fielen sie in ein zügiges Tempo, um rasch Distanz zwischen sich und den umlagerten Liegeplatz der Barke zu bringen. »Das letzte Mal bin ich vor einer Woche im Fluss gewesen!«

»Mhm, ja, das ist eine lange Zeit«, sagte Tobias mitfühlend und auch ein wenig schuldbewusst. Denn er hatte sich erst zwei Tage zuvor unter die Matrosen gemischt, die jeden Tag in einer Segelpause oder am Abend halb nackt in den Fluss sprangen, um sich abzukühlen.

»Den ganzen Tag habe ich an kaum etwas anderes gedacht«, gestand sie. »Wenn du wüsstest, wie sehr ich all die Jungen und Männer beneidet habe, die sich bei der Hitze ganz unbekümmert im Fluss getummelt haben. Mein Gott, was ist es mir schwergefallen, bis zum Abend zu warten!«

Dass sie ihr Haar hatte opfern müssen, um glaubhaft in die Rolle eines jungen Arabers schlüpfen zu können, hatte sie in Odomir Hagedorns Haus einige Überwindung gekostet. Sie hatte sich jedoch schnell damit abgefunden und trauerte ihrem langen Haar längst nicht mehr nach, zumal Tobias sie auch mit kurzem Haarschnitt so sehr mochte wie zuvor. Und dass sie wegen ihrer spärlichen Kenntnisse der arabischen Sprache in der Nähe von Arabern zu völliger Stummheit verurteilt war, um sich nicht zu verraten, daran hatte sie sich mittlerweile ebenfalls gewöhnt, auch wenn es ihr nicht immer leichtfiel. Dass sie sich aber nicht mit den anderen zur Abkühlung ins Wasser stürzen konnte, wenn ihr danach zumute war, empfand sie als die schwerste Last ihrer Rolle. Und nicht immer fand sich eine Gelegenheit, um sich lange und weit genug von der Al Adiyat zu entfernen, um so zu einem ungestörten Bad zu kommen. Zudem durfte sie es auch nicht zu oft tun, um nicht die Neugier oder gar das Misstrauen der Matrosen zu wecken. Wenn auch nur einer von ihnen hinter ihr Geheimnis kam, konnte es für sie alle böse Folgen haben. Deshalb war für sie ein Bad in den Fluten des Nil bei einbrechender Dämmerung etwas ganz besonders Kostbares.

Sie folgten dem Ufer und stießen schließlich auf eine Ausbuchtung des Flusses. Diese oftmals tief ins Land reichenden Buchten und Seitenarme waren keine Seltenheit, sondern gehörten zum alltäglichen Bild des Wüstenstromes, dessen Uferprofile die alljährlichen Hochwasser ständig veränderten.

Einige Sträucher, Akazien und Palmen säumten die kleine, einsame Bucht und ein Teil des Ufers war schilfbestanden. Somit bot sich ihnen hier ausreichender Sichtschutz. Zudem war weit und breit keine menschliche Behausung zu sehen.

»Ich glaube, hier kannst du in Ruhe baden«, sagte Tobias.

»Gott sei Dank!«, rief sie und schleuderte fast übermütig die Schuhe von den Füßen. Ihnen folgte im nächsten Moment das Kopftuch. Dann löste sie den Gürtel mit dem Dolch und zog die galabija aus. Jetzt war sie nur noch mit dem dünnen Untergewand, dem izar, bekleidet, mit dem sie immer baden ging. Im Licht der Sonne zeichneten sich die Konturen ihres Körpers unter dem Stoff ab.

Jana stand schon mit den Füßen im Wasser und wollte tiefer hineingehen. Doch dann zögerte sie und wandte sich zu Tobias um, der sich auch schon bis auf das Untergewand entkleidet hatte, denn er war auf die Abkühlung so begierig wie sie.

»Tobias?«

»Ja?«

»Würdest du es … anstößig finden, wenn ich mich ganz ausziehe und so nackt im Wasser herumtolle, wie es die Männer heute den ganzen Tag getan haben?«, fragte sie.

Tobias bekam einen trockenen Mund. »Du und anstößig? Um Gottes willen! Natürlich nicht. Ich hatte es auch gar nicht so gemeint, weißt du. Warte, ich drehe mich um«, sagte er hastig.

Sie lächelte ihn zärtlich an. »Bei jedem anderen Mann würde ich darum bitten – doch nicht bei dir, Tobias. Vor dir schäme ich mich nicht.« Damit zog sie das Untergewand über den Kopf und warf es ihm zu.

Er fing es auf und konnte einfach nicht anders, als sie anzublicken. Wie wunderschön sie ohne Kleider aussah! Schöner und begehrenswerter noch als in seinen Träumen. »Du siehst wunderschön aus!«, sagte er, benommen von ihrem Anblick.

»Ja, wirklich?«, fragte sie leise. »Magst du mich so?«

Er schluckte schwer, nickte und sagte mit belegter Stimme: »Mögen ist nicht der richtige Ausdruck, Jana. Es ist viel, viel mehr, was ich für dich empfinde. Ich … ich weiß gar nicht, wie ich es dir sagen soll. So, wie du da vor mir stehst, bringst du mich ganz durcheinander.«

»Komm ins Wasser und kühl dich ab! Vielleicht fällt es dir dann wieder ein! Ich wäre traurig, wenn nicht!«, rief sie mit einem schelmischen Lachen und wandte ihm ihre nicht weniger reizvolle Rückseite zu. Sie machte zwei, drei schnelle Schritte vom Ufer weg und warf sich der Länge nach ins Wasser. »O Gott, du glaubst ja gar nicht, wie herrlich das ist!«

Tobias zerrte sich nun sein eigenes Untergewand vom Körper, warf es hinter sich ans Ufer und folgte ihr rasch. Es war wirklich eine Wohltat, sich den Schweiß und Sand, den der Wind auch an Bord der Barke trug, vom Leib zu spülen, auch wenn das Wasser warm war.

Plötzlich fiel sein Blick auf etwas Langes, Dunkelbraunes, das keine zehn Meter von Jana entfernt am Rand des Schilfgürtels nur um Fingerbreite aus dem Wasser ragte. Es hatte eine leicht gewölbte und raue, gezackte Oberfläche. Wie ein Blitz durchfuhr ihn der Schreck.

Ein Krokodil!

Es war nicht das erste Mal, dass ihnen eine dieser gepanzerten Echsen begegneten. Doch noch nie waren sie einer von ihnen so nahe gekommen.

Wie von der Tarantel gestochen, schoss er aus dem hüfttiefen Wasser. »Jana! … Komm da weg! … Aus dem Wasser!«, schrie er in panischer Angst, während er versuchte, so schnell wie möglich zu ihr zu kommen, was gar nicht so einfach war. Das Wasser schien plötzlich so zäh wie Teer zu werden. Es schäumte um seinen Bauchnabel, während er sich vorwärts arbeitete und dabei die Hände wie Schaufeln einsetzte. Erschrocken richtete sich Jana auf. »Was ist?«

»Ein Krokodil!«, schrie er, von Entsetzen gepackt, als sich dieser gezackte Rücken zu bewegen begann. Noch sechs, sieben Schritte und er war bei ihr! Wenn die gepanzerte Echse angriff, waren sie beide verloren. Er war ohne Waffe. Nicht einmal seinen Dolch hatte er dabei. Wie sollte er sie vor dem gefährlichen Raubtier schützen?

»Da! … Links von dir am Schilf!«, rief er.

Tobias dachte jedoch nicht daran, sich in Sicherheit zu bringen. Seine ganze Angst galt Jana. Und in diesem Augenblick blanken Entsetzens schoss es ihm durch den Kopf, dass er ihr noch immer nicht gesagt hatte, wie viel sie ihm bedeutete und wie sehr er sie liebte. Er hatte es immer vor sich hergeschoben. Wie unverzeihlich dumm! Warum nur hatte er nicht schon längst den Mut gehabt, seine tiefen Gefühle auch in die entsprechenden Worte zu fassen!

Wenn das Krokodil uns angreift und zerfleischt, werden wir sterben, ohne uns gesagt zu haben, dass wir uns lieben!, fuhr es ihm durch den Sinn, und das erschien ihm fast noch unerträglicher als der Tod. Das durfte nicht geschehen!

Janas Kopf schoss herum und sie blickte in die Richtung, die Tobias ihr angegeben hatten. Sie wich dabei gleichzeitig auch einen erschrockenen Schritt zurück. Doch statt die Flucht zu ergreifen, blieb sie stehen.

»Jana! … Um Gottes willen, komm da weg!«, schrie Tobias, der sie indessen erreicht hatte, packte sie am Arm und wollte sie mit sich reißen.

In dem Moment brach Jana in lautes Gelächter aus, in dem aber auch schreckhafte Erleichterung mitschwang.

»Mein Gott, Jana, bist du …«, schrie Tobias entsetzt.

Sie legte ihre Hand auf die seine und fiel ihm ins Wort: »Sei ganz ruhig. Wir sind nicht in Gefahr. Sieh doch mal genauer hin! Dein Krokodil ist ein großes Stück Baumrinde, das im Wasser treibt!«

Verstört starrte er über ihre Schulter hinweg auf den angeblichen Krokodilrücken, der in Wirklichkeit ein langes Stück Borke war, das in den von ihm verursachten Wellen gegen das Schilf trieb.

Er gab einen langen Stoßseufzer unendlicher Erlösung von sich. »Du hast recht – ein Stück Borke! Und mir ist vor Schreck und Angst um dich fast das Herz stehen geblieben!«

Sie drehte sich zu ihm um und legte ihre Hand auf seine Brust. »Richtig große Angst?«, fragte sie leise.

Er nickte, sich ihrer Nähe und Nacktheit und der Wärme ihrer Hand auf seiner Haut plötzlich überaus bewusst.

»Ja, sehr. Ich habe ganz entsetzliche Angst gehabt um dich … und dass ich vielleicht keine Gelegenheit mehr haben würde, dir etwas zu sagen, was ich dir schon längst hätte sagen sollen … auch wenn du es wohl längst gespürt hast.«

»Und was ist das, Tobias?«, fragte sie mit angespannter Erwartung in Stimme und Blick.

Er fuhr ihr mit der Hand zärtlich über Stirn und Wange. »Dass … dass ich dich liebe, Jana«, sagte er schließlich und sah ihr fest in die Augen. »So sehr liebe wie nichts und niemanden sonst auf der Welt. Und dass ich es mir nicht mehr vorstellen kann, jemals ohne dich zu sein.«

Ihre Augen leuchteten. »Ja«, flüsterte sie, »so fühle ich auch, Tobias. Ich liebe dich. Und weißt du, wonach ich mich schon seit Paris sehne?«

»Ich glaube, ich weiß es. Aber sag es mir dennoch«, bat er sie.

»Dass du mich endlich küsst und in deine Arme nimmst«, hauchte sie.

»Das habe ich schon tausendmal getan«, antwortete er zutiefst aufgewühlt. »Wenn auch nur in meinen Träumen.«

»Zeige mir wie!«

»O Jana«, murmelte er, unendlich erlöst und glücklich.

Sie schmiegte sich an ihn, während er sich zu ihr hinunterbeugte. Ihre Lippen fanden sich zu einem erst zaghaft zärtlichen Kuss, der jedoch schnell sehr leidenschaftlich wurde.

Jana legte ihre Arme um seinen Hals, als er sie wenig später zum Ufer trug und sie sanft auf seine galabija absetzte, die im warmen Sand lag.

Die Al Adiyat, Zeppenfeld und das Tal des Falken existierten eine Weile für sie nicht mehr. Es gab nur noch sie beide und die Sprache ihrer Liebe. Sie konnten nicht genug voneinander bekommen. Sie küssten und streichelten sich, während die Sonne immer tiefer sank, und empfanden es als die wunderbarste Entdeckung ihres Lebens, ohne Hast und auf zärtliche Weise mit dem Körper des anderen vertraut zu werden und das Glück gegenseitiger Liebe und leidenschaftlicher Hingabe zu erfahren.

Es war schon dunkel, als sie sich anzogen und zur Al Adiyat zurückkehrten, wie berauscht von ihrem Glück. Und sie konnten es nicht lassen, Hand in Hand zu gehen, bis sie in die Nähe der Barke gelangten.

Tobias blieb stehen, seufzte schwer und ließ ihre Hand los. »Ich liebe dich und ich habe nicht die richtigen Worte, um dir zu sagen, wie wunderschön es mit dir ist. Aber fast wünschte ich, wir hätten es nicht getan.«

Sie begriff instinktiv, wie er es meinte. »Ja, ich weiß. Es wird jetzt noch schwerer sein, uns nichts anmerken zu lassen. Aber wir schaffen es schon.«

Sadik fragte nicht, weshalb sie diesmal über zwei Stunden weg gewesen waren. Ihm genügte ein Blick in ihre Gesichter, um zu wissen, was geschehen war. Doch er verlor kein Wort darüber. Zudem bedrängte Achmed sie mit dem Abendessen, das er wieder erwärmt hatte.

Zwei Stunden vor Mitternacht ließ Harun Ben Bahleh die Leinen loswerfen und die Segel setzen und die Al Adiyat segelte weiter flussaufwärts.

Als es Zeit war, sich schlafen zu legen, rollte Sadik in der Kabine seine Matte zusammen, klemmte sie sich unter den Arm und sagte beiläufig: »Ich werde von jetzt an oben an Deck schlafen. Bei mir ist die Gefahr, dass ich im Schlaf in einer anderen Sprache träume und mich verrate, ja nicht gegeben. Ich denke, ihr habt Verständnis dafür, dass ich den Nachthimmel der Balkendecke hier vorziehe. Ihr bleibt besser in der Kabine, die für drei ja doch etwas klein ist. Und vergesst nicht, den Riegel vorzulegen! Eine gute Nacht und Allahs Segen sei mit euch!« Ohne eine Antwort abzuwarten, huschte er aus der Kabine.

Jana und Tobias sahen sich an. Die Kabine war auch für drei noch recht geräumig!

»Er weiß es«, raunte sie.

»Ja, das Gefühl habe ich auch. Ihm können wir wohl nichts vormachen und ich will es auch gar nicht. Ist es dir unangenehm?«

Sie überlegte nicht einmal, sondern antwortete augenblicklich: »Nein, das bestimmt nicht. Ich schäme mich nicht, dass ich dich liebe.« Und dann fügte sie doch ein wenig besorgt hinzu: »Ich hoffe nur, dass sich deshalb nichts zwischen uns ändert, ich meine zwischen uns und Sadik.«

»Er ist unser Freund und ich glaube, er weiß schon seit Langem, wie es um uns steht. Aber es ist wohl besser, ich rede mit ihm«, sagte Tobias. »Das bin ich ihm schuldig – und uns auch.«

»Tu das. Aber bitte bleib nicht zu lange weg!«, bat sie und gab ihm einen Kuss, in dem das Verlangen nach mehr Zärtlichkeit und Leidenschaft lag.

Sadik stand auf dem Achterdeck bei Harun und dem Rudergänger. Als er Tobias erblickte, der eine Geste in Richtung Bug machte, nickte er ihm zu.

Tobias ging an den Matrosen vorbei, die mittschiffs auf den Ladeluken saßen, sich mit Geschichten und verschiedenen Arten von Brettspielen unterhielten oder einfach nur auf ihren Matten lagen und dösten, bis das nächste Segelkommando kam.

Ganz vorn am Bugspriet hielt sich keiner auf. Tobias setzte sich auf die Reling, lauschte dem Rauschen des Wassers, das an den Bordwänden entlangströmte, und schaute auf den breiten Fluss hinaus. Der Nil glich einem endlosen silbrigen Tuch, das sich unter einem kaum merklichen Windhauch hob und senkte.

Wenig später trat Sadik zu ihm. »Die Nachtstunden auf dem Nil bei Vollmond gehören zu den wenigen Stunden dieser langen Flussfahrt, in denen ich mich einmal nicht nach dem wiegenden Gang eines Kamels sehne«, sagte er versonnen.

»Ja, dann liegt ein merkwürdiger Zauber über dem Fluss. Es ist ein Bild des Friedens und der … der vollkommenen Harmonie, nicht wahr? Aber bei Vollmond durch die Wüste zu reiten ist auch ein ganz besonderes Erlebnis«, antwortete Tobias und erinnerte sich ihrer Ausritte.

»Die Wüste ist für den bàdawi immer das krönende Juwel in einer Kette noch so schöner Edelsteine«, erklärte Sadik. »Unserem rais dagegen wird dieser Fluss das sein, was für mich das Meer des Sandes bedeutet, und das ist gut so. Wichtig ist allein, dass jeder Mensch in übertragenem Sinn das ihm gerechte Juwel findet, auf das er sein Leben mit freudiger Hingabe ausrichten kann.«

Tobias spürte, dass sie nicht ganz allgemein über die Bestimmung und Findung des Einzelnen redeten, sondern indirekt auch schon ganz konkret über ihn und Jana.

»Ich möchte einmal so sein wie du, wie mein Vater und Onkel Heinrich. Ihr seid alle verschieden, aber irgendwie wiederum doch gleich«, sagte er unwillkürlich und voller Zuneigung und Dankbarkeit für das, was Sadik ihm auf dieser langen Reise – ähnlich wie Onkel Heinrich auf Falkenhof – geschenkt hatte: an Freundschaft, Wissen, Selbstvertrauen und geistiger Offenheit gegenüber fremdem Gedankengut.

Sadik lachte leise. »Eines Tages wirst du sein, was du bist, weil es in dir steckt, und Allah allein weiß, wie viel davon dann noch an mich, an Sihdi Heinrich und an deinen Vater erinnern wird. Noch bist du ein Suchender, mein Freund, aber auch das ist gut so, denn du bist jung. Wer in der Jugend die Unruhe nicht kennt und die Sicherheit des heimatlichen Dorfes den Unwägbarkeiten der Fremde vorzieht, der ist wie ein Baum, der außen noch stolz und kräftig wirkt, innen aber schon abstirbt, lange bevor er sein volles Wachstum erreicht hat. Denn es ist eine lange Reise notwendig, sowohl im Herzen als auch durch die Länder dieser Welt, ehe der Unreife reif ist und der Suchende zum Sehenden und Kundigen wird.«

Tobias nickte. »Es mag sein, dass ich die Bestimmung meines Lebens noch nicht kenne und noch lange brauche, bis ich weiß, worauf ich all meine Kräfte und mein Streben ausrichten möchte. Doch was die Reise angeht, die im Herzen ihre ganz besonderen Spuren hinterlässt …« Er räusperte sich etwas verlegen und suchte nach den passenden Worten, um ihm zu sagen, wie sehr er Jana liebte und wie sicher er sich seiner Gefühle für sie war, auch wenn Sadik ihn für wahre Liebe noch für viel zu jung halten mochte.

Sadik legte ihm eine Hand freundschaftlich auf die Schulter. »Du brauchst mir nichts zu erklären, Tobias. Ich weiß, dass ihr euch liebt. Ich habe es schon auf Falkenhof gesehen, als ihr euch dessen wohl noch gar nicht bewusst gewesen seid. Denn drei Dinge lassen sich nicht verbergen: das Reiten auf dem Kamel, die Schwangerschaft und die Liebe. Und ein Leben ohne Liebe ist wie eine lange Reise auf einem lahmenden Esel.«

Tobias lachte erleichtert über den Vergleich, der ihm verriet, dass sein Freund ihm nicht mit Ermahnungen und Vorhaltungen kommen würde, sondern ihre Entscheidung ganz einfach akzeptierte. »Danke, Sadik.«

Dieser legte den Kopf zur Seite und sah ihn spöttisch an. »Was hast du denn erwartet? Dass ich mich über euch lustig mache oder die Ernsthaftigkeit eurer Gefühl in Zweifel ziehen würde?«

»So etwas in der Art«, gestand Tobias.

»Mein Freund, mit der Liebe ist das so eine Sache. Es ist leichter, auf der geschärften Messerklinge eines gewissenhaften Barbiers von Damaskus nach Bagdad zu reiten, als sich ein Urteil über die Liebe zu erlauben«, versicherte Sadik mit ernster Belustigung. »Und dabei ist das Alter völlig ohne Bedeutung. Ob man nun als junger Mann wie du zu einer Frau entflammt oder schon in meinem Alter ist, eine Garantie für die Stärke und Dauer einer Liebe gibt es nie. Wichtig ist allein, dass man sie erfährt und dass man selbst daran glaubt.«

»Ich bin froh, dass du so denkst, Sadik.«

»Vergiss nur eines nicht: Die Liebe ist wie die köstlichen Früchte eines prächtigen Obstbaumes. Wenn man aufhört, sich um ihn zu kümmern, ihn nicht oft genug wässert und ihn in stürmischen Zeiten nicht vor Entwurzelung und anderen Schäden schützt, kurzum: wenn man die Früchte ohne Arbeit genießen will, dann wird dieser Baum allmählich verkümmern und von Jahr zu Jahr immer schlechtere Früchte tragen, bis sie eines Tages ganz ungenießbar geworden sind«, ermahnte Sadik ihn. »Und denk daran: Die Leidenschaft der Nacht muss auch das Licht und die Mühen des Tages vertragen können!«

»Das klingt tausendmal besser als viele deiner anderen Spruchweisheiten über Frauen«, erwiderte Tobias fröhlich. »Etwa diese: Die Frauen sind die Fallstricke des Satans! Oder: Der Weg zur Hölle ist mit Weiberzungen gepflastert. Da sind mir die mit dem Obstbaum und den Mühen des Tages sehr viel lieber – und Jana bestimmt auch.«

Sadik lachte. »Die Welt besteht eben aus zwei Tagen, mein Freund: Ein Tag ist für dich, ein Tag ist gegen dich. So ist es auch mit den Frauen. Bei uns gibt es ein Sprichwort, das da heißt: Die erste Frau ist ein Stück Zucker, die zweite Frau ein Stück Amber, die dritte Frau Verbitterung – und die vierte Frau führt zum Friedhof.«

»Allah und sein Prophet werden schon ihre guten Gründe gehabt haben, warum sie euch vier Frauen zugebilligt haben. Ich vermute, das hat etwas mit eurem gestörten Verhältnis zum anderen Geschlecht zu tun«, entgegnete Tobias schlagfertig. »Da ein Muslim vier Frauen haben darf, heißt das wohl, dass nur vier Frauen gemeinsam in der Lage sind, einen von euch zu ertragen.«

Sadiks Lippen kräuselten sich zu einem amüsierten, anerkennenden Lächeln. Dann entgegnete er: »Hier ist ein Rätsel für dich. Was ist eine Freude von drei Tagen? Du kommst bestimmt nicht drauf, deshalb werde ich es dir sagen: die Ehe!«

Tobias grinste, wusste er doch, wie Sadik es meinte. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser. Gute Nacht, Sadik.«

»Leltak saida! Möge Allahs Segen auf euch ruhen, mein Freund.« Sadik blickte ihm mit einem warmherzigen Lächeln nach. Unwillkürlich kam ihm ein anderes Sprichwort in den Sinn, das ihn traurig stimmte: Leid ist es mir um dich, Junggeselle, dass du allein schläfst, denn die Kälte bläst dich an, und die Einzigen, mit denen du dein Lager teilst, sind Läuse! Wohl dem, der zwei Köpfe in Liebe auf einem Kissen zusammengebracht hat!

Die heilige Farbe des Islam

Der Schamal blies kräftig und beständig aus Norden und eine ganze Reihe von Fischerbooten glitt unter voll geblähten Segeln durch die braungelben Fluten des Nil. Dagegen lag die Al Adiyat träge und mit nacktem Mast im seichten Uferwasser.

Sadik, Jana und Tobias saßen unweit des Ankerplatzes im spärlichen Schatten einer verkrüppelten Akazie und übten sich wieder einmal in Geduld. Es schien, als hätte Harun Ben Bahleh sich entschlossen, sie in dieser Kunst zu wahren Meistern zu machen.

Tobias kaute auf einem Schilfhalm. Der bittere Geschmack in seinem Mund rührte jedoch nicht allein von diesem Sumpfgras her. »Ich gehe jede Wette ein, dass der Schamal längst eingeschlafen ist, wenn Hassan und Abassah das Segel endlich geflickt und wieder am Mast haben«, sagte er grimmig.

Sadik nickte bedächtig. »Diese Wette könntest du gewinnen. Vor Mittag sind sie kaum fertig und dann stellt sich gewöhnlich Flaute ein. Gut möglich, dass wir hier den ganzen Tag liegen.«

»Harun könnte wenigstens dafür sorgen, dass sich ein paar mehr Männer mit Nadel und Faden an seinem Lumpen zu schaffen machen, das er Segel nennt«, grollte Tobias. »Diese beiden müden Gestalten scheinen ja kaum noch die Nadel hochzukriegen, so langsam geht ihnen die Arbeit von der Hand!«

Jana schüttelte verständnislos den Kopf. »Harun hat wahrhaftig die Ruhe weg. Und dabei haben wir schon lange keinen so guten Wind mehr gehabt«, sagte sie und blickte zu ihrem rais hinüber. Dieser hatte seinen bequemen Korbstuhl von Bord und in den Schatten desjenigen Baumes tragen lassen, der im Umkreis von hundert Schritten die dichteste Laubkrone aufwies und daher auch der beste Schattenplatz weit und breit war. Unbekümmert ließ er sich von seinem kleinwüchsigen Neffen Kasim, der an Bord nebenbei das Handwerk des Barbiers ausübte, einseifen und rasieren.

Tobias runzelte die Stirn. »Wisst ihr, was mir aufgefallen ist?«

»Du erlaubst, dass wir uns das Raten ersparen, da wir davon ausgehen, dass du es uns bestimmt gleich wissen lässt«, sagte Sadik spöttisch.

Jana schmunzelte.

»Seit wir über den dritten Katarakt sind, also seit genau vier Tagen, lässt Harun das Segel ständig einholen, ohne dass überhaupt ein Riss im Tuch zu erkennen wäre. Und er lässt bloß noch Hassan und Abassah das Segel ausbessern«, sagte Tobias.

»Angeblich sind allein sie erfahren genug, um mit dem brüchigen Tuch richtig umzugehen«, sagte Sadik ironisch, denn auch er glaubte nicht an diese Begründung ihres rais.

»Eher kann er uns seine Al Adiyat als fliegenden Teppich verkaufen, als dass ich ihm das abnehme!«, erklärte Tobias. »Er hat sich mit Hassan und Abassah in Wirklichkeit die langsamsten und faulsten seiner Männer ausgesucht. Und zwar mit Absicht!«

Jana sah ihn überrascht an. »Sag bloß, du hast Harun im Verdacht, dass er unser Fortkommen sabotieren will?«

»Ja, eine andere logische Erklärung gibt es nicht. Wir kommen seit dem dritten Katarakt kaum noch vom Fleck. Dabei sollten wir jetzt schon weit hinter Dongola sein.«

»Aber das heißt dann ja, dass Odomir Hagedorn sich völlig in ihm getäuscht hat und Harun mit Zeppenfeld gemeinsame Sache macht!«, stieß Jana erschrocken hervor.

Tobias nickte mit ernster Miene. »So ist es, leider. Ich verstehe auch nicht, wie das passieren konnte, aber eine andere Erklärung gibt es nicht für sein Verhalten.«

»O doch, die gibt es schon«, widersprach Sadik mit leichter Belustigung. »Harun Ben Bahleh ist mit Sicherheit ein gerissener Fuchs, jedoch kein Schakal.«

»Dann sag uns, was seine Verzögerungstaktik wirklich zu bedeuten hat!«, forderte Tobias ihn auf.

»Es hat ihn sehr geschmerzt, dass er uns am dritten Katarakt nicht um den Betrag erleichtern konnte, den er sich insgeheim wohl schon ausgerechnet hatte. Um diesen ›Verlust‹ wieder auszugleichen, ist er eben auf diese Idee mit dem Segel verfallen.«

»Idee? Welche Idee soll denn dahinterstecken?«, fragte Jana verständnislos.

»Das verstehe ich auch nicht«, sagte Tobias.

Sadik lachte kurz und trocken auf. »Ich sagte doch, dass Harun ein gerissener Fuchs ist. Er weiß ja längst, dass unser Ziel Abu Hamed ist. Und er weiß auch, dass wir nicht erst im nächsten Frühjahr dort ankommen möchten. Deshalb versucht er, uns mit seinem alten Segel mürbe zu kriegen. Ist dir denn nicht aufgefallen, Tobias, wie oft er mir seit dem letzten Katarakt mit seinen Klagen über dieses Segel in den Ohren liegt und wie oft er immer wieder anklingen lässt, dass die Al Adiyat mit einem neuen Segel, das er sich aber leider nicht leisten könne, so schnell wie der Wind über den Fluss fliegen würde?« Sein Blick glitt von Tobias zu Jana, und ein Schmunzeln trat auf sein Gesicht, als er daran dachte, dass sie die letzten Tage vollauf damit beschäftigt waren, ihr Glück zu genießen und es sich an Deck nicht anmerken zu lassen. Sie hatten das christliche Weihnachtsfest auf ganz eigene Weise gefeiert. Für sie war es zweifellos ein wahres Fest der Liebe gewesen.

»Nein«, räumte Tobias mit leichter Verlegenheit ein, denn er wusste Sadiks Schmunzeln sehr wohl zu deuten.

»Nun, es wäre unter diesen Umständen wohl auch zu viel verlangt«, erklärte Sadik verständnisvoll. »Auf jeden Fall weist Harun mich schon seit Tagen immer wieder darauf hin, dass es in Dongola gute Segel zu kaufen gibt.«

»Du meinst, er will, dass wir ihm das Segel kaufen?«, folgerte Jana verblüfft.

Sadik nickte. »Genau das ist seine Absicht. Doch er wird …«

Er führte den Satz nicht zu Ende, denn ein schriller Schrei ließ die drei Freunde und auch die Männer an Bord der Barke zusammenfahren. Es war Harun Ben Bahleh, der den Schrei ausgestoßen hatte. Wie von der Tarantel gestochen, schoss er aus seinem Korbsessel und wollte Kasim eine Ohrfeige versetzen, weil er ihn wohl mit dem Messer geschnitten hatte. Sein Neffe duckte sich jedoch geistesgegenwärtig unter der Hand hinweg und rannte zum Schiff. Der rais schickte ihm Verwünschungen hinterher, griff zum Handtuch und wischte sich den restlichen Schaum vom Gesicht. Wenig später kehrte Kasim mit einer Flasche Duftwasser in den Schatten des Baumes zurück. Er näherte sich seinem Herrn in unterwürfiger Haltung und Harun winkte ihn mit einer halb gnädigen, halb herrischen Geste heran, um sich dann ausgiebig von ihm parfümieren zu lassen.

»Er ist nicht nur ein geldgieriger Beutelschneider, sondern auch so eitel wie ein Pfau!«, sagte Tobias, als sie beobachteten, wie er sich den Spiegel von Kasim vorhalten ließ und den Kopf zehnmal hin und her drehte, um sich und seinen Bart aus jeder nur möglichen Perspektive zu begutachten. »Ich glaube, Harun Ben Bahleh kann Stunden vor dem Spiegel zubringen und sich selbst bewundern!«

»Ja, eitel ist er wirklich«, pflichtete Jana ihm bei.

»Eitel … eitel«, murmelte Sadik. Plötzlich straffte sich sein Körper. »Bei Allah, das ist es!«, rief er und sprang auf.

Jana und Tobias sahen ihn verstört an. »Was hast du?«, wollten sie wissen.

»Wattendorfs Gedicht zum Gebetsteppich. Der See der Eitelkeiten! Erinnert ihr euch?«, rief er leise, aber erregt. »Damit ist der Spiegel gemeint!«

Tobias riss die Augen weit auf und schlug sich dann mit der flachen Hand vor die Stirn. »Natürlich! Ein Spiegel! Warum sind wir nicht schon längst darauf gekommen? Und darüber haben wir uns monatelang den Kopf zerbrochen.«

»›Wenn des gläubigen Dieners Locken tauchen in den See der Eitelkeit‹«, zitierte Jana die ersten beiden Zeilen der zweiten Strophe. »Mein Gott, wenn der Spiegel der See der Eitelkeiten ist, dann … dann ist der ›gläubige Diener‹ der Teppich selber, denn er dient doch dem Gläubigen bei seinen Gebeten!«

»Und mit den Locken sind die Fransen gemeint, die sich im Spiegel spiegeln!« Es fiel Tobias wie Schuppen von den Augen.

»Jetzt müssen wir nur noch Allahs Schrift finden!«, stieß Sadik begeistert und mit leuchtenden Augen hervor. Endlich kamen sie dem Geheimnis des scheinbar so gewöhnlichen Gebetsteppichs auf die Spur! »Der Spiegel wird auch dieses Rätsel auflösen!«

»Wir haben doch einen großen Spiegel in unserer Kabine hängen!«, sagte Jana aufgeregt.

»Auf was warten wir dann noch?«, drängte Tobias.

Sie hatten es eilig, ihre Kabine aufzusuchen und den Gebetsteppich aus ihrem Versteck zu holen. Sadik ermahnte sie jedoch, keine Eile an den Tag zu legen, sondern gemächlich den Hang zum Schiff hinunterzugehen. Doch kaum hatte Sadik von innen den Riegel vorgeschoben, da hielt Tobias schon sein Messer in der Hand und machte sich an die Arbeit, die beiden Bretter der Seitenverkleidung zu lösen, hinter denen sie den Teppich versteckt hatten. Die Kopie der Karte, die im Falkenstock verborgen gewesen war, trug Sadik unter seiner Kleidung in einer Ledertasche. Außerdem hätte Tobias sie jederzeit aus dem Gedächtnis neu zeichnen können, exakt bis auf das kleinste Detail.

Während Tobias den Teppich durch den Spalt zog, nahm Jana den Spiegel von der gegenüberliegenden Wand. Er war etwa so groß wie ein Serviertablett und hatte einen einfachen Holzrahmen. Sadik stieß mit dem Griffstück seines Messers die festgeklemmten Holzleisten weg, die das Spiegelglas auf der Rückseite in der Fassung hielten, und nahm den Spiegel aus dem Rahmen.

»Roll den Teppich aus!«, forderte er Tobias auf.

Tobias schnitt die Kordel durch, mit der sie den Teppich zusammengeschnürt hatten, und rollte ihn auf dem Boden auf. Dann stellte Sadik den Spiegel hochkant auf die Fransen.

»Er ist groß genug«, stellte Tobias erleichtert fest. »Der Spiegel gibt den ganzen Teppich wieder. Doch was hat Wattendorf mit ›Allahs Schrift‹ gemeint?«

Sie grübelten eine ganze Weile darüber nach. Sadik nahm den Blick die ganze Zeit nicht einen Augenblick vom Spiegelbild des Teppichs, dessen verwirrende Farben und Linien seinem Gefühl für Symmetrie und Harmonie zuwiderliefen. Er spürte, dass er die Antwort schon wusste. Er musste ihr nur Zeit lassen, um aus den Tiefen seines Unterbewusstseins in sein bewusstes Denken aufzusteigen. Er hatte diese Irritation schon beim ersten Anblick des Gebetsteppichs verspürt. Wenn er benennen konnte, was ihn irritierte, war das Rätsel gelöst.

»Allahs Schrift … Allah zeichnet den Weg zur Ewigkeit«, sagte er immer wieder vor sich hin und beinahe schon in einer Art von Trance versunken. »Allahs Schrift … Wo steckt in diesem Teppich Allahs Schrift?«

Jana und Tobias wagten nicht zu sprechen, ja sich kaum von der Stelle zu rühren. Es war heiß und stickig in der Kabine und der Schweiß floss in Strömen. Doch sie blieben fast reglos sitzen und hielten den Spiegel.

»Grün!«, murmelte Sadik plötzlich.

Ein Ruck ging durch seinen Körper. Seine Augen verloren diesen abwesenden, meditierenden Ausdruck. Er klatschte in die Hände. »Jetzt weiß ich es. Die Antwort lautet grün! Grün ist die heilige Farbe des Islam! Es sind die grünen Linien, die mich von Anfang an an diesem Teppich gestört haben, denn sie ergeben nirgends ein richtiges Muster. Seht hier!« Er beugte sich vor und zeichnete mit dem Finger eine der grünen Linien auf dem Spiegel nach.

»Das ist der Plan!«, rief Tobias begeistert. »Die grünen Linien und Punkte ergeben eine Skizze! Und zwar muss es sich dabei um den Lageplan der Pharaonengräber handeln!«

Sadik nickte zustimmend. »Der Weg zur Ewigkeit – das ist der Weg zu den Gräbern.«

»Wir müssen alles, was im Teppich grün ist, auf dem Spiegel genau nachzeichnen«, sagte Tobias fasziniert.

»Und wie willst du das tun?«, fragte Jana mit dem Sinn für das Praktische. »Dafür brauchen wir Farbe und einen feinen Pinsel, denn ein Bleistift hinterlässt auf einem Spiegel keine Spuren.«

»Jana hat recht«, sagte Sadik. »An Bord wird sich wohl nichts finden lassen, mit dem wir solch eine feine Zeichnung anfertigen könnten, nicht einmal Tinte, obwohl uns auch die nicht helfen würde.«

»Ist Dongola ein größerer Ort?«, fragte Tobias.

»O ja«, erklärte Sadik. »Dongola ist die Hauptstadt des gleichnamigen Königreiches, das Mohammed Ali erst vor wenigen Jahren unterworfen hat, als er seine Truppen in den Sudan und nach Nubien geschickt hat, um sein Reich weiter nach Süden auszudehnen. Dongola ist seit Langem das Ziel vieler Sklavenkarawanen aus dem tiefen Afrika und zählt mindestens sechstausend Einwohner. Dazu kommt noch die Besatzung der Garnison.«

»Dann wird es dort auch Farbe und feine Pinsel geben.«

»Gewiss.«

»Wenn die Fahrt aber in diesem Tempo weitergeht, werden wir noch eine geschlagene Woche brauchen, ehe wir in Dongola ankommen«, prophezeite Jana ihnen mit düsterer Miene.

Sadik und Tobias sahen sich an und sie verstanden sich, ohne ein Wort zu wechseln.

Der Beduine seufzte resigniert. »Ein teurer Farbtopf und Pinsel, den wir uns da leisten! Aber gut, soll er sein Segel bekommen. Ich werde es Harun gleich mitteilen. Ich bin sicher, dass wir in nicht mal drei Tagen in Dongola sein werden!«

Sadik irrte sich nicht.

Zeppenfelds Hand reicht weit

In einer der weiten Flussbiegungen vor Dongola stießen sie auf eine Herde Nilpferde, die sich im Uferschlamm wälzten. Und im Bazar unterhalb der Garnison mit seinen Lehmmauern und Türmen fanden sie, wonach sie suchten: Farbe und feine Pinsel. Damit waren die angenehmen Erlebnisse, die sie zukünftig mit dieser Stadt in Verbindung bringen würden, schon aufgezählt.

Der Ort war ein schmutziges, stinkendes Labyrinth aus primitiven Behausungen, errichtet mit rohen, ungeweißten Erdziegeln und mit Stroh geknetetem Lehm. Die Soldaten aus der Garnison und die Sklavenhändler gaben überall den Ton an. Es hatte wohl insbesondere mit dem abscheulichen Sklavenhandel zu tun, dass Jana und Tobias Dongola vom ersten Augenblick an verabscheuten. Denn als die Al Adiyat den Hafen erreichte, wurde neben ihrem Liegeplatz gerade eine königliche Barke mit Sklaven beladen. Wie Vieh wurden die nackten Gestalten an Bord getrieben. Frauen, Männer und Kinder. Alte und Kranke waren keine darunter.

»Wer aus dem Innern Afrikas kommt und es bis nach Dongola schafft, muss kerngesund sein und Entbehrungen ertragen können. Alte und Kranke überleben nicht einmal die ersten beiden Wochen einer solchen Karawanenreise, die mitunter Monate dauern kann«, erklärte Sadik bitter.

Mit dem feinen Pinsel zeichneten sie jeden grünen Kreis und jede grüne Linie auf dem Spiegel nach. Was sie nach mehreren Stunden gewissenhafter Arbeit in den Händen hielten, war ganz zweifellos der Grundriss eines weitläufigen Gebäudekomplexes. Die runden Zeichen deutete Sadik als Tempelsäulen und eine gestrichelte Linie wand sich durch dieses Netz des Grundrisses.

»Der Lageplan der Königsgräber und der Weg, der zu den Schatzkammern führte!«, stellte Tobias triumphierend fest. Sie hielten damit den Schlüssel zu der versteckten Pforte im Innern in ihren Händen!

Sadik stimmte ihm zu, war sonst jedoch merkwürdig still. Es fiel Jana und Tobias zwar auf, doch sie nahmen an, dass er sich wegen der letzten Etappe ihrer Reise und wegen Zeppenfeld Sorgen machte.

Sie übertrugen den Grundriss sorgfältig auf die Rückseite der Landkarte, die Sadik stets am Körper trug. Anschließend zerschlugen sie den Spiegel in tausend winzige Scherben, die sie zusammen mit dem Gebetsteppich in einem alten Jutesack von Bord trugen.

Außer Sichtweite der Al Adiyat gruben sie ein Loch, verbrannten Teppich und Sack und bedeckten hinterher Asche und rußgeschwärzte Scherben mit Steinen und Erde. Im Bazar ließen sie einen zum Rahmen passenden Spiegel zurechtschneiden, brachten ihn unbemerkt an Bord und setzten ihn in den Rahmen. Dann drängten sie Harun Ben Bahleh, der das Geld für das neue Segel schon am Tag ihrer Ankunft erhalten hatte, ihren Aufenthalt in Dongola so kurz wie möglich zu halten. Überraschenderweise kam er ihrer eindringlichen Bitte mit nur drei Tagen Verzögerung nach.

Am fünften Tag nach ihrer Weiterfahrt, es war in der ersten Woche des neuen Jahres 1831 nach christlicher Zeitrechnung und eine halbe Tagesreise hinter der Siedlung El Kandaq, geschah das, was ihre Pläne unerwartet und völlig über den Haufen warf.

Der Mordanschlag passierte zur Mittagsstunde. Es war ein extrem heißer Tag und noch nicht einmal der Windzug des Schamal vermochte der sengenden Hitze den lähmenden Stachel zu nehmen. Die Mannschaft lag zum größten Teil an Deck und vermied jede unnötige Bewegung. Auch Jana, Sadik und Tobias hatten sich mittschiffs unter das Sonnensegel begeben.

Tobias hob träge den Kopf, als sich Jana neben ihm aufrichtete. Er warf ihr einen fragenden Blick zu. Sie beugte sich zu ihm hinüber, brachte ihren Mund ganz nahe an sein Ohr und flüsterte ihm zu: »Ich muss mal in die Kabine. Ein kleines menschliches Bedürfnis.«

Er grinste. Sich einfach in Lee an die Bordwand zu stellen und sich in den Fluss hinein zu erleichtern, war ihr natürlich nicht möglich. Sie musste stets das Nachtgeschirr in der Kabine benutzen.

»Heute Abend suchen wir uns irgendwo ein einsames Uferstück zum Baden«, raunte er zurück und sah sie mit einem zärtlich verlangenden Blick an, der ihr sagte, dass er nicht allein ans Baden dachte.

Sie lächelte und ging nach achtern.

Tobias wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Kakerlake zu, die neben seinem rechten Fuß aus einer Ritze in der Ladeluke gekrochen war.

Er dachte daran, dass die Al Adiyat beim dritten Katarakt zum letzten Mal vollständig unter Wasser gesetzt worden war, um die Ratten und das Ungeziefer zu töten, das sich an Bord eingenistet hatte. Die Mannschaft hatte siebzehn tote Ratten gefunden. Die Kakerlaken und all das andere tote Ungeziefer hatte niemand gezählt. Es wurde allmählich Zeit, diese Prozedur zu wiederholen.