cover
Richard H. Henderson

Zehn Stunden bis Sonnenaufgang Western





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Kapitel 1

Zehn Stunden bis Sonnenaufgang

 

Western von Richard H. Henderson

 

 

  1

  Die Uhr tickte leise.

  Langsam bewegte sich der Zeiger, näherte sich fast unmerklich der vollen Stunde. Schließlich erreichte der große Zeiger die Zwölf. Der Gong, der im Uhrgehäuse eingebaut war, schlug an und erfüllte die Rezeption des Hotels und den gleich nebenanliegenden Saloon für Sekunden mit einem neuen Geräusch.

  Der Gong schlug acht Mal.

  Die Männer im Saloon blickten unwillkürlich auf und schauten zur Rezeption herüber, die gleich links neben dem Eingang lag. Über dem Schlüsselkasten hing die große Uhr, beherrschte als Blickfang die Portiersloge.

  Vom Saloon aus besaß man einen guten Blick auf die Rezeption und die Uhr.

  „Eines Tages werde ich dir deine verdammte Uhr zusammenschießen!“, sagte ein junger Cowboy und stand von dem Tisch auf, an dem er mit ein paar anderen Cowboys saß und fleißig dem Whisky zusprach. Gleichzeitig zog er seinen Revolver und zielte auf die Uhr.

Ein paar Männer lachten. Schon öfters hatte jemand versucht, diese Uhr als Zielscheibe zu benutzen, aber da sie dem Besitzer wie ein Heiligtum war, verteidigte er sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Zumindest hatte es bislang noch niemand geschafft, der Uhr den Garaus zu machen.

  Der Junge machte jedoch nur Spaß. Jeder konnte es an seinem verschmitzt lächelnden Gesicht erkennen.

  „Du lässt die Uhr schön in Ruhe!“, rief der Salooner, Perkins, streng. Auch er hatte zweifellos erkannt, dass der junge Cowboy es nicht ernst meinte. Trotzdem ruhten seine Augen streng auf dem jungen Cowboy, der noch immer lächelte, aber den Colt jetzt nur mehr am Zeigefinger baumeln ließ.

  „Ist schon gut, Sam!“, rief der Junge über den Tisch dem Wirt zu. „Ich weiß doch, wie sehr du an deiner Uhr hängst. Ich werde mich hüten, dein Heiligtum zu zerstören.“ Er nickte Perkins lächelnd zu und setzte sich unter dem Beifall seiner Kumpane wieder zu seinem Glas Whisky, das in der Zwischenzeit wieder angefüllt worden war.

  Mächtige Rauchschwaden hingen in der Luft, schwebten um die Tische, an denen die Männer saßen, spielten und tranken. Es roch nach Schweiß, Tabak und Alkohol.

  Bürgermeister Fletcher Coney saß an einem der Spieltische. Mit dem Klang der Glocke holte er seine Taschenuhr aus der Rocktasche hervor.

  „In zehn Stunden hängt er!“, sagte er und steckte die Uhr wieder in die Rocktasche zurück.

  „Du bist an der Reihe!“, raunte einer der Spieler übelgelaunt dem Bürgermeister zu. Offensichtlich hatte sein Blatt seine Erwartungen bislang noch nicht erfüllt.

  Bürgermeister Coney blickte seine Karten an. Ein Vierer – Paar. Zu wenig, um ein Risiko einzugehen. Außerdem wollte sich die Spiellust heute bei ihm absolut nicht einstellen. „Ich passe“, sagte er, „ich finde heute einfach keine Ruhe. Ich glaube, ich kann erst wieder ruhig schlafen, wenn er tot ist.“

  „Mach dir nicht in die Hosen, Fletch!“, rief McGregory, der einzige Berufsspieler, der in der Stadt ansässig war. Er war aber nicht der einzige Berufsspieler, der an diesem Abend in Crossroad spielte. Fest blickte er dem Bürgermeister in die Augen.

  Fletcher Coney besaß eisgraue Augen, die nun wild flackerten, obwohl sonst stets ein sanfter Schimmer um seine Augen lag, der so gar nicht recht zu seinem hart geschnittenen Gesicht passen wollte. Seine Haare waren im Alter weiß geworden. In langen Strähnen, die sich am Hinterkopf kräuselten, hingen sie fast bis zu seiner Schulter. Gerade zog er in einer nervösen Bewegung seine Uhr wieder aus seiner Rocktasche.

   „Es ist noch immer acht Uhr“, meinte McGregory. „Der Sheriff ist für den Gefangenen verantwortlich, nicht du, Bürgermeister!“, setzte er hinzu.

  „Du hast Recht, aber es ändert nichts daran. Ich bin nun einmal unruhig. Wir werden heute noch eine erlebnisreiche Nacht erleben. Verdammt, ich habe das Gefühl, als sollte der Abend noch nicht so bald vorbei sein.“

  „Mal den Teufel nicht an die Wand, Bürgermeister. Was soll schon geschehen? Unser Gefängnis ist sicher wie Yuma. Nein, Ray Clement hängt morgen bei Sonnenaufgang.“

  „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich seine Bande einfach so ruhig verhält. Lassen sie ihren Chef einfach hängen? Verdammt, wenn es doch nur schon morgen wäre!“

 „Seine Bande wird froh sein, dass ihr der Galgen erspart bleibt.“

  „Ich glaube es einfach nicht!“

  „Zerbrich dir nicht den Kopf, Bürgermeister!“, meinte McGregory. „Der Galgen ist errichtet, und selbst der Henker ist am Nachmittag eingetroffen. Clement wird morgen hängen, darauf kannst du dich verlassen.“

  Im Saloon herrschte Hochbetrieb. Jeder wollte Ray Clement hängen sehen, den Mann, der Crossroad so lange beherrscht hatte und diese Stadt zum Ausgangspunkt für seine üblen Machenschaften gemacht hatte.

  Samuel Perkins, der Besitzer des Hotels und des anschließenden Saloons, stand zusammen mit zwei Barkeepern hinter der Bar und versuchte dem Andrang Herr zu werden. Er wirkte in seinem grauen Anzug genau so fehl am Platz wie Coney in seinem schwarzen Gehrock inmitten der nachlässig gekleideten Cowboys, die den Hauptanteil der Besucher bildeten.

  „Wenn wir jeden Tag einen hängen würden, wärst du bald ein reicher Mann, was, Perkins?“, rief jemand.

   Perkins machte sich nicht die Mühe, den Sprecher zu suchen. Ganz offensichtlich hatte er heute Abend schon des Öfteren diesen oder ähnliche Sätze zu hören bekommen. Irgendwie musste er diesem Mann jedoch auch Recht geben. Die morgige Hinrichtung stellte so etwas wie eine Sensation für die Menschen dar, die sie von weither kommen ließ. Und das Geschäft in seinem Saloon blühte tatsächlich.

  „Mir wäre wohler, man hätte Clement in die Hauptstadt gebracht“, sagte er zu dem Fremden, der ihm genau gegenüberstand und für seinen Geschmack zu wenig trank. Hatte das etwa einen bestimmten Grund? Man konnte nie vorsichtig genug sein. Ein Gespräch konnte seinen Durst möglicherweise anstacheln, aber zu plump durfte man auch nicht vorgehen. Ein besorgter Unterton klang in seiner Stimme mit, und wahrscheinlich war es dies, was sein Gegenüber überhaupt zu einer Reaktion veranlasste, denn er blickte Perkins nur fragend an und meinte dann: „Was spukt in deinem Kopf herum?“

  „Was soll es schon sein? Heute Nacht! Ich bin nervös! Es wird ja schließlich nicht täglich einer gehenkt.“

  „Kein Grund zur Sorge“, beruhigte der Fremde den Bürgermeister, „Clement hängt morgen. Seine Bande soll sich ja abgesetzt haben. Die riskieren doch nicht ihren eigenen Kragen, nur um ihren Boss zu befreien. Die sind wahrscheinlich froh, dass sie selber noch frei herumlaufen.“

  „Man weiß nie“, meinte Perkins.

  Ein neuer Schwall Cowboys ergoss sich in die Bar, fröhlich grölend und alles andere als nüchtern.

  Die Hinrichtung hatte weitere Gäste angelockt.

  Perkins wandte sich von seinem Gesprächspartner ab, wischte sich mit der linken Hand den Schweiß von der Stirn, die rechte Hand säuberte oberflächlich den Tresen, dann köpfte er eine neue Flasche Whisky.

  Es gab Arbeit.

 

*

 

  Die Sonne stand bereits tief im Westen, als Hamilton das allein stehende Haus erreichte.

  Er blickte auf, überrascht, so, als habe er das einsame Haus nicht erwartet. Er schob seinen Stetson tiefer in das Gesicht, da ihm die Sonne direkt in die Augen schien, dann musterte er das Anwesen. Langsam, als wollt er nichts verpassen, wanderten seine Augen hin und her.

Sie lagen in tiefen Höhlen, umgeben von breiten Ringen, die sich unter den Augen dahinzogen. Unter seinem Hut quoll schwarzes Haar hervor. Es besaß fast die gleiche Farbe wie seine Kopfbedeckung.

  Bei dem Haus handelte es sich um eine ebenerdige Blockhütte. Links neben dem Haus schloss sich ein Hühnerstall an, in dem sich etwa zwanzig Hennen befanden, daneben begann eine Reihe von Beeten. Verschiedene Arten von Gemüse wurden hier gezüchtet. Sonst gab es nichts Besonderes an dem Anwesen zu entdecken. Es gab nicht einmal einen Stall, in dem man Pferde unterbringen konnte – falls die Bewohner überhaupt Pferde besaßen.

  In einem Schaukelstuhl vor dem Haus saß ein alter Mann, der ihm ruhig und ohne ein Wort zu sagen entgegenblickte. Plötzlich nahm er jedoch seine Pfeife aus dem Mund. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, der Mund öffnete sich, aber kein Ton entrang sich ihm. Er starrte nur Hamilton entgegen, der sich langsam näherte. Falten zeigten sich jetzt auf der Stirn des alten Mannes und vereinzelt traten Schweißperlen unter dem Haar aus.

  Hamilton blieb vor dem alten Mann stehen. Seine linke Hand hielt die Zügel des Pferdes, während er mit der rechten leicht an seine Hutkrempe zum Gruß tippte. „Howdy“, sagte er und fixierte die Augen des alten Mannes, der wie erstarrt sitzen blieb.

  „Wie weit ist es noch bis Crossroad?“, erkundigte sich Hamilton. Seine Stimme besaß einen tiefen, etwas brüchigen Klang, fast so, als wäre er es nicht gewohnt zu reden. Ein Lächeln legte sich um seinen Mund, als er seine Hände auf dem Sattelknauf verschränkte. Jetzt konnte man auch deutlich den breiten Revolvergurt sehen, der zwei Waffen trug und tief geschnallt war. Eine der beiden Waffen zeigte einen reich verzierten Kolben.

  „Vielleicht noch fünfzehn Minuten“, stammelte der Alte und warf einen Blick auf das Pferd, einen gescheckten Hengst, der einen müden Eindruck machte. Offensichtlich hatte er bereits einen weiten Weg hinter sich. Vielleicht bezog sich die Schätzung auch auf den Zustand des Pferdes, denn so ganz sicher klang die Stimme des Alten nicht.

  Hamilton führte seine Hand erneut dankend an den Rand des Stetsons, dann wendete er das Pferd und ritt langsam weiter.

  Der Alte starrte zuerst Hamilton hinterher, dann überschlugen sich plötzlich seine Gedanken, und als der Reiter sich weit genug entfernt befand, kam plötzlich Leben in den alten Mann.

Er sprang aus dem Schaukelstuhl hoch und lief in das Haus und rief. „Hamilton der Killer reitet in die Stadt!“

*

 

  Als Hamilton die Stadt erreichte, dämmerte es bereits.

  Pferd und Reiter machten beide den Eindruck, als benötigten sie dringend eine Ruhepause.

  Halb schlafend saß Hamilton im Sattel seines braun weiß gescheckten Hengstes. Seine rechte Hand baumelte an seiner Seite herunter. Sie berührte fast den reich verzierten Kolben seiner Waffe. Die Erfahrung langer Jahre hatte ihn gelehrt, vorsichtig zu sein, wenn er in eine Stadt einritt, die ihm unbekannt war und deren Bewohner ihn noch nicht kannten – wie er jetzt war. Es gab immer wieder Menschen, die ihn erkannten, die seine Vergangenheit nicht ruhen lassen wollten und ihn deshalb gleich verdammten

  Er erreichte die ersten Häuser der Stadt. Irgendwo bellte ein Hund und ein paar Kinder hielten in ihrem Spiel inne, als sie den Mann gewahrten. Ein paar Männer lungerten faul am Stepwalk und blickten ihm uninteressiert entgegen. Zu viele Fremde hatten in den letzten beiden Tagen die Stadt aufgesucht. Ein weiterer Fremder fiel kaum mehr ins Gewicht, ein prüfender Blick genügte bereits, aber ein Mann Mitte dreißig rief kaum mehr Aufmerksamkeit hervor.

  Hamilton blickte auf. Die Müdigkeit schien wie weggewischt. Er saß auch nicht mehr halb schlafend im Sattel, vielmehr hochaufgerichtet, alles um sich herum musternd und absolut konzentriert. Unruhig wanderten seine Augen hin und her, beachteten die Männer am Stepwalk ebenso wie die Fassaden der Häuser und die dunklen Zwischenräume zwischen den Häusern.

  Jederzeit konnte er erkannt werden.

  Aus diesem Grund war er auf der Hut, denn was dieser Jemand dann unternahm, lag außerhalb seines Einflussbereiches – und dagegen konnte er sich nicht wappnen. Dann blieb ihm nur noch die Reaktion – und die Schnelligkeit und die Treffsicherheit seiner Colts war legendär. Obwohl er mit seiner Vergangenheit gebrochen hatte, ließ er diesen Mythos aufrecht, ließ ihn weiterleben. Zum Selbstschutz vielleicht? Auch er kam langsam in die Jahre.

  Aber die Männer am Stepwalk unternahmen nichts, als sie ihn langsam vorbeireiten sahen.

  Sie kannten ihn nicht.

  Noch nicht.

  An der Kreuzung hielt er sein Pferd an. Auch hier blickte er sich aufmerksam um, denn er wusste, dass jeder Fehler tödlich für ihn verlaufen konnte. Er hatte sich in seinem Leben zu viele Feinde gemacht.

  Zuerst begutachtete er die Straße nach Westen, dann wandte er seinen Blick in Richtung Norden, ehe er die Straße entlang blickte, die nach Süden lief. Zuletzt schweiften seine Augen im letzten Licht der Sonne über die Saloons, die um die Kreuzung herum gruppiert lagen.

  Ungefähr eine Minute verharrte er nahezu regungslos an der Kreuzung. Sein Gesicht wies markante Züge auf. Die Backenknochen standen weit hervor, sie verliehen ihm irgendwie ein knöchernes Aussehen, das sein schlacksiger Körper nur unterstrich. Die Nase wies an ihrer Spitze einen leichten Drang nach oben auf. Um seinen schmalen Mund sowie um das Kinn zeichneten sich Bartstoppel ab. Nach Cowboyart trug er ein rotes Halstuch.

  Er dirigierte sein Pferd auf Perkins Saloon zu. Dort stieg er ab.

  Einen Augenblick lang blieb er neben dem Kopf des Pferdes stehen, während er durch das Fenster in das Innere des Saloons blickte, in dem es bereits hoch herging, dann erst nahm er die Zügel und wickelte sie um die Haltestange.

  Er schob seinen Stetson aus der Stirn und stieg bedächtigen Schrittes die Stufen zum Gehsteig empor, stieß die Schwingtür auf und verschwand im Inneren des Saloons.

  Dichtes Gedränge herrschte bereits an der Bar. Die Männer befanden sich in angeregte Gespräche vertieft und beachteten ihn nicht – nicht mehr zumindest, als sie jeden anderen Neuankömmling beachteten.

  Ihm konnte es nur recht sein.

  Nach kurzem Gedränge ergatterte er einen freien Platz an der Bar und bestellte sich einen Whisky, nahm das Glas in Empfang, nahm einen winzigen Schluck, der kaum reichte, sich den Staub aus der Kehle zu spülen, aber genügte, eine wohlige Wärme zu empfinden, und ging zur Rezeption hinüber, die verwaist war.

  Es dauerte eine Weile, ehe einer der Barkeeper sich freimachen konnte, damit er ihn bedienen konnte.

  „Mann, haben Sie ein Glück, dass wir noch ein Zimmer frei haben!“, begrüßte ihn der Barkeeper. „Sie wollen doch ein Zimmer?“

  „Wenn es geht, ja.“

  „Das letzte Zimmer am Gang oben rechts ist noch frei. Wie lange wollen Sie bleiben? Bis zur Hinrichtung oder länger?“

  „Ich weiß es noch nicht genau“, gab Hamilton zu. „Ein paar Tage vielleicht.“

  „Sie sind bestimmt auch wegen der Hinrichtung hier?“, vermutete der Barkeeper, während er aus dem Schlüsselschrank den Schlüssel entnahm.

  „Da können Sie recht haben“, meinte Hamilton und trug sich in das Gästebuch ein. Flüchtig überflog er die Namen der Gäste, die sich seit den letzten drei Tagen eingeschrieben hatten, aber keiner der Namen kam ihm bekannt vor. Er übernahm den Schlüssel.

  Wenig später holte Hamilton sein Gepäck von seinem Pferd und richtete sich in seinem Zimmer, das einen ordentlichen Eindruck machte, ein. Etwa zehn Minuten später verließ er das Zimmer und brache sein Pferd in den nächsten Mietstall, versorgte es und überließ es der Obhut des Stallbetreibers.

 

*

 

  Der Friedhof von Crossroad lag außerhalb auf einem kleinen Hügel. Er war nicht besonders groß, es gab allerdings eine auffallend große Menge frischer Gräber. Sheriff Harper stand vor einem dieser frischen Gräber. Es beherbergte seine Frau. Sie allerdings war eines natürlichen Todes gestorben.

  Harper hielt seinen Hut in den Händen, langsam wanderten seine Finger an der Krempe entlang, drehten den Hut unablässig. Seinen Kopf hielt er leicht gesenkt. Sein blondes Haar flatterte im Abendwind.

  Er löste eine Hand von dem Hut und fuhr sich durch das Haar, wischte sich den Schweiß von der Stirn und putzte sich die Hand an der Hose trocken, ehe er sie wieder auf die andere Hand legte, die den Hut hielt.

  Harper verweilte nicht lange an dem Grab seiner Frau. Sie war tot und damit aus seinem Leben entschwunden. Wenn er an sie denken wollte, benötigte er nicht den Friedhof dazu. Offensichtlich störte aber gerade dieser Umstand manche Bewohner von Crossroad. Weiß Gott, was sie ihm nachsagten, weil er stets nur kurz an dem Grab seiner Frau verhielt. Böse Zungen im Ort behaupteten, er besuche das Grab seiner Frau nur deshalb, damit man in der Stadt nicht noch schlechter über ihn sprach. Ob diese Vermutung der Wahrheit entsprach, konnte niemand mit Gewissheit sagen, er selbst am allerwenigsten, er konnte es nicht bestätigen – und es interessierte ihn auch gar nicht. Er machte sich nichts aus dem Gerede der Tratschweiber der Stadt.

  Harper war nicht mehr der Jüngste, er zählte beinahe fünfzig Jahre. Wer ihn nicht kannte, schätze ihn für gewöhnlich mindestens zehn bis zwanzig Jahre jünger. Er erledigte seinen Job zur Zufriedenheit aller – und solange er diese Aufgabe erfüllte, besaß er das Vertrauen der Bürger.

  Schließlich setzte er den Hut wieder auf seinen Kopf und verließ den Friedhof. Draußen, am Eisengitter, das den Friedhof umgab, hatte er sein Tier angebunden. Mit einem mächtigen Satz schwang er sich in den Sattel. Allein diese Bewegung verriet, wie viel Kraft nach wie vor in ihm steckte.

  Er zog an dem Zügel und die Schlaufe löste sich vom Gitter.

  Harper arbeitete mit vielen kleinen Tricks. In seinen jungen Jahren hatten sie ihm viel geholfen, hatten ihm Respekt verschafft, bevor er diesen sich mit der Waffe verschaffen musste. Er kannte zahlreiche Tricks, die seine Arbeit immer als Kinderspiel hatten erscheinen lassen. Wie viele Gegner hatte er auf diese Weise bezwingen können? Harper dachte oft an die alten Zeiten zurück und manchmal, in einsamen Stunden, gestand er sich ein, dass er für seinen Job einfach schon zu alt war. Crossroad war eine kleine Stadt und es gab nicht viel zu tun. Er hatte hier nie viel zu tun gehabt, denn sein Ruf hielt die Leute ab, ihn zum Einschreiten zu veranlassen, weil sie ihn kannten und wussten, was geschehen würden; es gab hier nie viel zu tun – bis zu jenem Tag, an dem Ray Clement in die Stadt kam und das Regiment übernahm. Fast zwei Jahre hatte Clement geherrscht. Und er, Sheriff Harper? Er hatte gekuscht, solange, bis die Zeit reif war. Er wünschte sich, seine Frau hätte seinen Triumph über Clement noch miterleben können. Manchen Krach hatte es deswegen in seinem trauten Heim gegeben, wenn sie ihn der Feigheit bezichtigte. Er schmunzelte leicht, als er daran zurückdachte.

  Er hatte den Zügel jetzt eingeholt.

  Langsam ritt er an, lenkte das Pferd auf die staubige Straße zu, die in die Stadt führte. Ein Reiter kam an ihr entlang. Wahrscheinlich ein Cowboy von einer der umliegenden Ranches, der sich das Spektakel morgen nicht entgehen lassen wollte, dachte er.

  Er ließ den Mann ein Stück vorausreiten, denn er wollte allein mit seinen Gedanken bleiben und diesen Teil des Abends genießen, ehe er in die Stadt kam, in der ihn vermutlich nichts als Ärger erwartete.

  Der Gefangene würde all seine Aufmerksamkeit beanspruchen. Vermutlich kam er nicht mehr dazu, in seinen Gedanken die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen.

  Zehn Minuten ließ er verstreichen, in denen er einfach auf seinem Pferd saß und in seinen Gedanken die Vergangenheit Revue passieren ließ. Dann ritt er langsam weiter.

  Vor seinem Büro hielt er an und stieg ab, führte das Pferd am Zügel in den Stall, der sich gleich hinter dem Office befand. Dort sattelte er es ab und striegelte es gemächlich. Diese Zeit nahm er sich einfach. Erst danach suchte er sein Büro auf.

  Deputy Clarke stand mit entsichertem Gewehr vor dem Eingang des Office’ auf dem Stepwalk und bewachte mit dem ihm eigenen Pflichtbewusstsein ganz offensichtlich nicht nur den Gefangenen im Jail, sondern auch die ganze Stadt.

  „Alles ruhig?“, erkundigte sich Harper.

  „Alles ruhig“, antwortete Clarke einsilbig

  „Gib auf die Boys acht. Sie werden bald betrunken sein“, riet Harper dem Deputy, den er eigens für diesen Abend angeheuert hatte, dann öffnete er die Tür zu seinem Büro.

  Sein Büro war zweckmäßig eingerichtet. Das beschrieb es am besten. Ein mächtiger Schreibtisch beherrschte den Raum, darum standen ein paar Stühle – und an der Wand befanden sich zwei Waffenschränke, jeweils einer links und rechts. Über die Stirnseite betrat man den Raum. Neben der Tür befand sich ein großes Fenster, das genügend Licht hereinließ, auch jetzt noch in der Dämmerung. Die Tür an der gegenüberliegenden Wand führte zu den Zellen.

  Im Büro saß Charly.

  Seine Füße befanden sich meistens in Hochstellung, das hieß, auf dem Schreibtisch. Momentan hatte er sie auf einem Stapel Steckbriefe liegen.

  „Hallo, Charly.“

  Charly erwiderte den Gruß auf seine Art, indem er die rechte Hand hob und Harper zuwinkte. Quer über seine Füße lag ein Gewehr, eine Winchester. „Alles ruhig auf dem Friedhof?“

  „Das haben Friedhöfe so an sich, wenn nicht gerade eine Beerdigung ansteht.“

  „Es könnte sich ja auch einiges Gesindel draußen herumtreiben.“

  „Die suchen sich bestimmt nicht den Friedhof aus. Zumindest nicht, solange es noch hell ist. Was gibt es in der Stadt Neues zu berichten?“

  „Hamilton befindet sich in der Stadt!“

  „Hamilton?“ fragte Harper, dem dieser Name augenblicklich nichts zu sagen schien.

  „Hamilton der Killer“, erweiterte Charly seine Aussage „Er kam kurz vor dir in die Stadt. Clarke hat ihn erkannt.“

  Harper dachte an den Mann, den er achtlos vorbeireiten hatte lassen. Möglich, dass es sich dabei um Hamilton gehandelt haben konnte, aber auch das Wissen um diese Tatsache änderte nun nichts mehr daran.

  „Es liegt kein Haftbefehl gegen ihn vor“, behauptete Charly, während er mit der einen Hand genüsslich in seinem Vollbart kraulte und mit der anderen auf den Stapel Steckbriefe zeigte, der unter seinen Füßen lag.

  „Nicht in unserem Staat“, bekräftigte Harper. „Ich kenne alle mit Namen, für die ein Steckbrief aufliegt, aber es ist gut möglich, dass er in anderen Staaten gesucht wird. Umsonst wird er seinen Beinamen wohl kaum verliehen bekommen haben. Was wird er hier wohl wollen?“

  „Frag ihn!“, schlug Charly vor und kicherte. Mit einem Ächzen nahm er die Füße vom Schreibtisch und stand auf. Für seine beinahe siebzig Jahre wirkte er noch recht rüstig. „Es ist acht Uhr. Ich mache meinen Rundgang.“

  „Überlass das mir. Ich werde mir dabei Hamilton ansehen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Wie geht es ihm?“ Harper zeigte auf die dicke, solide aussehende Holztür, die zum Zellentrakt führte.

  „Er murrt ein wenig“, untertrieb Charly, „aber er wird sich wohl oder übel mit den Gegebenheiten abfinden müssen.“

  Harper nickte und tat zwei Schritte auf den Wandschrank zu, dem er eine halbvolle Whiskyflasche entnahm. Nicht weit vom Schrank entfernt befand sich ein Ofen, auf dem eine Kanne mit dampfendem Kaffee stand. Der Ofen war nicht an, die Kanne war aber erst unlängst frisch gebracht worden und noch heiß. Harper angelte nach einer Tasse, die auf einem Regal zwischen Schrank und Ofen stand, und schenkte sie mehr als halb voll mit Kaffee und verdünnte den Kaffee mit dem Whisky. Nachdem er einen tiefen Schluck genommen hatte, wandte er sich wieder Charly zu.

  „Was machen die Jungs im Saloon?“

  „Die werden morgen keinen Clement hängen sehen, wenn sie so weitersaufen. Nein, die Cowboys machen keinen Stunk. Zumindest bis jetzt noch nicht. Ich fürchte viel mehr die Rückkehr von Clements Bande. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie sich so ruhig verhält.“

  „Vielleicht ist Hamilton deswegen hier? Ist dir irgendetwas aus seiner Vergangenheit bekannt? Stand er jemals mit Clement in Verbindung?“

  „Mir ist nichts darüber bekannt. Ich hatte Hamilton bereits abgeschrieben. Er hat lange Zeit nichts von sich hören lassen. Vielleicht ist er irgendwo eingesessen.“

  „Darüber wären wir verständigt worden, wenn er in einem Knast gelandet wäre. Nein, ich vermute eher, er hat sich abgesetzt, weil ihm der Boden zu heiß geworden ist. Jetzt ist er aber zurückgekehrt. Warum? Er war, oder besser, er ist immer noch recht bekannt, zudem ist er verdammt schnell mit dem Eisen.“

  „Er ist schneller als du jemals warst.“

  „Danke für das Kompliment, aber wem sagst du das, und warum sagst du es? Ich habe nicht vor, etwas gegen ihn zu unternehmen, solange er sich ruhig verhält. Da in unserem Staat nichts gegen ihn vorliegt, kann ich ohnehin nicht gegen ihn einschreiten. Aber ich wüsste zu gerne, was ihn nach Crossroad getrieben hat. Aus Zufall hat es ihn bestimmt nicht hierher verschlagen.“

  „Frag ihn einfach“, erneuerte Charly seinen Vorschlag. „Soweit ich weiß, hat er noch niemals einen Sheriff erschossen.“

  „Du hast eine merkwürdige Gabe, Trost zu spenden, Charly, weißt du das?“

  Charly lachte trocken auf und seine Augen funkelten Harper an. „Wenn die Bürger herausfinden, wer er ist, werden sie dir auf den Pelz rücken. Die haben von Clement noch genug und dulden garantiert keinen Revolvermann mehr in ihrer Stadt. Und vielleicht wählen sie dann nächstes Jahr einen neuen Sheriff, wenn du ihre Wünsche nicht erfüllst. Dann bist du dein ruhiges Leben und dein sicheres Einkommen los.“

  „Ach, halt den Mund!“, rief Harper leicht verärgert und griff nochmals in den Schrank zur Whiskyflasche. Er hatte es geahnt, dass in der Stadt nur Ärger auf ihn warten würde.

  Nachdem sich Harper erneut die Tasse gefüllt hatte, fragte er: „Was hat Hamilton bis jetzt gemacht?“

  „Eigentlich nichts Besonderes. Er ist in Perkins Saloon abgestiegen, hat ein Glas Whisky getrunken und sich ein Zimmer genommen.“

  Charly trat dicht an Harper heran und angelte ebenfalls nach einer Tasse, aber er füllte sie nur mit Kaffee. „Der Priester hat sich für halb neun angekündigt. Außerdem will der Henker vorbeischauen.“

„Ich weiß“, erwiderte Harper und nahm ein Gewehr aus dem Waffenschrank. „Ich unternehme jetzt den fälligen Rundgang.“

  „Clarke soll dich begleiten!“

  „Nein, er soll dir Gesellschaft leisten. Jetzt ist noch alles ruhig. Aber wer weiß, wie lange dieser Zustand andauert? Von mir aus kann er sich auch noch etwas aufs Ohr legen. Später kommt er nicht mehr zum Schlafen.“

  „Bis bald!“, rief Charly Harper nach, der bei den letzten Worten das Office verlassen hatte.