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Ulrich Land
Michel B. verzettelt sich

Ulrich Land geboren 1956 in Köln. Freier Autor seit 1987. Veröffentlichte mehrere Romane (u. a. ›Lolitas späte Rache‹). Darüber hinaus Lyrik, Prosa, Essays und fast hundert Hörspiele und Radiofeatures. Herausgeber von Anthologien und von Literaturzeitschriften. Dozent für ›creative writing‹ u. a. an der Uni Witten/Herdecke. Mehrere Auszeichnungen: u. a. Kölner Medienpreis; mehrfach Hörspiel-Stipendien der Filmstiftung NRW und des nordrhein-westfälischen Kulturministeriums.

Ulrich Land

Michel B.
verzettelt sich

Eifeler Ermittlungen eines Enkels

Roman mit O-Tönen

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Originalausgabe

© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de

E-Mail: info@kbv-verlag.de

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von: © Giuseppe Porzani
und © mihalyandrea - www.fotolia.de

Lektorat: Nicola Härms, Rheinbach

Print-ISBN 978-3-95441-328-7

E-Book-ISBN 978-3-95441-345-4

Die im Roman enthaltenen O-Töne
sind als dreißig Jahre alte Interviewauszüge
auf der Website der Edition Eyfalia
unter www.kbv-verlag.de nach- und mitzuhören.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

1

Ich hab Sie, glaub ich, nicht richtig verstanden«, murmelte mein Onkel in den Hörer, »Sie rufen weshalb an?«

»Wie gesagt, ich bin Ihre Schwester«, flötete es durchs Kabel.

Obwohl sich die Vorboten seines Parkinsons damals eher noch zurückhielten, wurde Hans-Michel Becker, mein Onkel, von heftigem Zittern attackiert, sodass er den Telefonhörer mit aller Gewalt gegens Ohr pressen musste, um nicht Gefahr zu laufen, dass das Geklapper seiner Hand ihn am andern Ende der Leitung verraten würde. Dass indes die gepresste Haltung sich auf die Tonlage seiner Stimme auswirken und ihn damit desgleichen ans Messer der Blamage liefern müsse, kam ihm in seiner Verzweiflung nicht in den Sinn. Sein »Moment mal« glitt jedenfalls keineswegs geschmeidig und souverän in den Hörer, sondern zerstob in stammelnde Bruchstücke.

»Das mag Sie irritieren, aber’s nützt alles nichts«, ließ der Hörer mit durchaus freundlicher, mit gradezu lächelnder Stimme verlauten.

»Meine Schwester heißt Ursula«, sagte er schroff, »meine Halbschwester.«

»Dann sind wir also drei im Bunde.«

»Könnten Sie sich vielleicht ein bisschen genauer erklären?!« Rhetorische Frage. Und nicht mal das. Was viel eher der Erklärung bedurfte, war die Tatsache, dass ihn dieser Frontalangriff derart aus der Fassung bringen konnte, wo er doch seit Jahren damit hätte rechnen müssen.

»Drei Halbgeschwister«, resümierte amüsiert die Frauenstimme, »alle vom gleichen Samenspender.«

Ein Tonfall, der nicht so ganz den Humor meines Onkels traf. »Hoppla, Sie sprechen von meinem Vater.«

»Und von meinem.«

»Das kann schließlich jeder behaupten«, hielt Hans-Michel Becker sich auf Distanz.

»Jeder?«, lächelte es aus dem Telefonhörer. »So viele fragliche Fälle?«

»Hören Sie«, knurrte mein Onkel, »ich, ehm, möchte an dieser Stelle das Gespräch mit Ihnen beenden. Ich habe nicht vor, meine Verwandtschaftskreise zu erweitern, und ich möchte Sie bitten …«

»Ich dagegen möchte mich mit Ihnen treffen.«

»Damit Sie klar sehen, ganz klar sehen«, schallte es jetzt in geradezu notariellem Duktus in den Hörer, »es gibt nichts zu erben. Nichts, was Erbschleicherei-Bemühungen gleich welcher Art rechtfertigen würde. Nichts außer Schulden. Und die hab ich im zarten Alter von nicht mal dreißig für ihn abbezahlt. Auf Heller und auf Pfennig. Das Einzige, was es gibt, ist ein Stapel Bücher aus seiner Feder. Von denen ich nur wenige gelesen habe. Und ich muss Ihnen sagen: Es war keine Offenbarung. So, und nun bitte ich Sie, sich aus der Leitung zu

schleichen!«

»Die Erbschaft interessiert mich nicht. Mich interessieren meine Geschwister.«

»Ein Interesse, das ich, wie gesagt, in Ihrem Fall nicht erwidern kann. Ich weiß von Ihrer Existenz nichts. Und dabei soll’s auch bleiben.«

»Auch Regine, der Name meiner Mutter sagt Ihnen nichts?«

»Nicht das Geringste«, brummte mein Onkel.

Aber da hatte die Stimme in der Hörermuschel schon begonnen, weit ausholend, von der Mutter zu erzählen, die ihr kürzlich auf dem Sterbebett – wodurch sich mein Onkel immerhin zu einem »Herzliches Beileid« hinreißen ließ –, die ihr auf dem Sterbebett eine, nein, die Lüge ihres Lebens gestanden habe. Jetzt endlich mit sechsundvierzig Jahren habe sie also erfahren, dass der Vater nicht im Krieg gefallen sei. »Jahrzehntelang war mein Vater ›tot‹, hat nie gelebt«, kam es durchs Telefon gekrochen, »und wie meine Mutter im Sterben liegt und ums letzte Quäntchen Luft ringt, da fängt sie plötzlich an zu plaudern. Faselt irgendwas von wegen meinem Vater, der ein übler Filou gewesen sei. Dass sie nicht im Entferntesten wisse, was aus ihm geworden sei. Dass es da aber noch andere, eheliche Nachfahren von diesem Michel B. geben müsse. Bruder und vielleicht sogar Schwester. Gehauchte Sätze nur, dünn wie Spinnfäden. Aber Andeutung genug, um Sie aufzutreiben, wie Sie sehen.«

Und dann spulte sie die ausladende Geschichte einer endlosen Adressenrecherche ab. »Staub schlucken im Stadtarchiv, Adressbücher wälzen, durchforsten staubiger Zettelkästen der Kölner Uni-Bibliothek und des Kolpingvereins – und irgendwann dann hatte ich Sie. Oder dich. – Gestatten: Luisa. Unter Geschwistern duzt man sich. Nicht wahr?«

»Ich werd den Teufel tun.«

»Den Teufel?«, grinste Luisa. Was mein Onkel zum Anlass nahm aufzulegen.

Nur, weil meine Mutter, besagte Halbschwester, nicht dichthalten konnte, erfuhr ich überhaupt von dieser »Dritten im Bunde«.

O-TON 1:

Hans-Michel Becker und seine Frau Hildegard, beide inzwischen verstorben

Hans-Michel:Ja, da war mal irgendeine.
Hille: Wurd nicht viel drüber geredet. Hans-Michel: Ich hatte ja noch nie was von einer weiteren Schwester gehört. – Ich will das also bei meinem Vater nicht ausschließen.
Hille: Deswegen wolltest du’s auch eigentlich – wolltest es …
Hans-Michel: Ja nee, ich hab das hingenommen, nicht?
Hille: Hast auch mit mir da nicht groß drüber gesprochen; ich weiß gar nichts.
Hans-Michel: Nee, ich … ja, es ist also komisch für einen erwachsenen Menschen, wenn er, was weiß ich, sechzig ist und kriegt auf einmal eine Schwester präsentiert. Soll ich jetzt hingehen und sagen: So, komm her, wir zwei machen jetzt gemeinsame Ahnenforschung, vielleicht kriegen wir noch ein paar weitere dazu?!

Ich trete auf der Stelle, greife zur Fiktion. Versuche mir auszumalen, was mein Großvater selbst zum späten Aufleuchten eines seiner manifesten Sündenmale in Gestalt einer außerehelichen Tochter gesagt hätte. Wäre er damals noch unter uns gewesen, hätte er sich womöglich mit meiner frisch geouteten »Tante« und mir, seinem Enkel, der ich doch – meiner Mutter zufolge – so sehr nach seiner Art geraten sein soll, getroffen. Wir hätten Kaffee-Cognac gekippt, und er hätte sich laut prustend lustig gemacht über seinen größten Schelmenstreich: die leidige Schriftstellerei! Und schließlich wären wir alle drei so breit gewesen wie ’n Bierdeckel. Schade, dass mir das aufgrund der Ungnade meiner späten Geburt nicht gegeben war.

So blättre ich gedankenverloren durch eine vergilbte Gedichtsammlung des damals sechsundzwanzigjährigen Michel Becker, das ein Jahr vor der Geburt seines Erstgeborenen Hans-Michel erschien.

»An meinen Sohn

Ich trage schwer an meinem Durst nach dir,

in mir das ungestüme wilde Meer

lässt meine Werke sich nicht ausgebären –

erst wenn sein Wasser leis durch mich

in dich verfloss, wird es ein Großes sein.

Ich habe selbst zu viel ertragen müssen,

und meine Reinheit ward zu sehr getrübt,

als dass sie jemals mich die Botschaft,

um die ich kam und rang – und litt,

erfüllen ließ – nun komme du!

Ich stehe in der Nacht – mein Sohn – und rufe dich,

wie man in Täler ruft des Echos wegen,

mein Sohn wird einmal Fleisch von meinem Fleisch,

bevor es an der Unkraft stirbt.«

Fünf Jahre nach Hans-Michels Geburt gebar Michel Beckers zweite Frau Käthe ihm eine Tochter: Ursula Juliane, meine Mutter.

2

Ebenso unvermittelt wie die unbekannte Schwester meines Onkels stand Jahrzehnte zuvor ein Bursche im Vorgarten des Eifelhäuschens, das mein Großvater und seine kleine Familie Ende der Dreißigerjahre bewohnten. Stand plötzlich da. Einfach so. Wie aus dem Erdboden geschossen. Und wartete. Wartete, dass Michel B. rein- oder rauskommen würde. Heinz Steguweit. Im Gepäck die Erinnerungslast jener grauenhaften Episode aus jungen Jahren, aus gemeinsamen jungen Jahren. Bleischwere Todesschuld eines Federchens. Vielleicht der Grund für die miserable Haltung meines Großvaters, die Last, die seinen Buckel rund und runder drückte. Die plötzlich knallhart wieder da war. Im Vorgarten Position bezogen hatte. Einfach so.

Kann sein, dass Steguweit angelockt oder zumindest wieder auf ihn aufmerksam wurde, weil sich Michel B. an die Gauleitung der Reichsschrifttumskammer gewandt hatte.

O-TON 2:

Ursula Land, geb. Becker, Tochter von Käthe und Michel Becker, meine Mutter, 2001 verstorben

Er ist nie in der Reichsschrifttumskammer aufjenommen worden. Den Antrag auf Aufnahme jestellt, ja, das hat er in jedem Fall gemacht. Das weiß ich. Das war wohl auch notwendig, um leben zu können. Weil er sonst kein Einkommen hatte. Wahrscheinlich haben sie ihn auch auf die Liste unerwünschter Autoren jesetzt. Zum Beispiel hatte er ja im Rundfunk – ein paar Sachen sind da mal jebracht worden von ihm, un der Rundfunk hat ihn dann nie mehr anjenommen.

Als Michel B. jedoch seinen Aufnahmeantrag stellte, war, was er weder wusste noch ahnte, kein anderer zum Landesleiter der Reichsschrifttumskammer für den Gau Köln-Aachen avanciert als eben Heinz Steguweit: Dichterkollege und Saufkumpan aus früheren Tagen, der, wie gesagt, eine höchst unangenehme Erinnerungslast im Gepäck hatte. Und jetzt wie ein Gartenzwerg im Vorgarten Position bezogen hatte, bis Michel B. irgendwann auftauchte und sich plötzlich konfrontiert sah mit dieser vertrackten Begebenheit. Deren Anfang zumindest muss er seiner früh verstorbenen ersten Frau – der Mutter meines Onkels, der er damals noch den Hof machte – brühwarm aufgetischt haben. Immerhin unternahm man die ersten Gehversuche in Sachen wilder Ehe, und der erste Teil der Geschichte mochte ihm geeignet erscheinen, bei der düpierten Verlobten mildernde Umstände für sein wieder mal nächtliches Ausbleiben geltend zu machen.

Und weil es so schön war, hat er sich’s auch bei seiner späteren Käthe nicht verkniffen, die Anfangskapitel der Episode auszuplaudern. Mit einer Lebendigkeit, als wär’s gestern gewesen. Und derart oft, dass durchaus geargwöhnt werden darf, es könnte irgendetwas faul damit sein. Zumindest erhoben sich berechtigte Zweifel, ob die muntere Story vollständig wiedergegeben wurde. Wie auch immer, auf alle Fälle passte die Geschichte auch meiner Mutter bestens in den Kram, entsprach diese doch aufs Trefflichste dem Großvaterbild, das sie mir in die Schädeldecke meißeln wollte.

Michel B. jedenfalls soll sich noch in seinen Kölner Jahren mit Heinz Steguweit und Otto Brües – Schriftstellerkollegen, die beide später, Jahre später, stramme Nazis wurden – und einem namentlich nicht genannten Österreicher nach ausgiebiger Sauftour aufgemacht haben, den Heimweg anzutreten. Wie die vier lange nach Mitternacht ihrer bierselig verschnörkelten Wege zogen, wurde mein Großvater einer winzigen weißen Taubenfeder gewahr, und eine verlockende Idee schoss ihm durch den Kopf. Er weihte Brües und den Österreicher hinter vorgehaltener Hand ein. Dann boten sie dem Kollegen Steguweit eine Wette an: Wenn es ihm gelingen würde, die Taubendaune vor sich her pustend bis zur Lindenburg zu befördern, ohne dass sie auf den Boden segle, dann … – was sie als Gegenleistung boten, wurde im Kreise unserer Familie nie kolportiert und ist auch nicht wirklich von Interesse. Entscheidend ist vielmehr, dass es bis zur genannten Lindenburg noch ein gehöriges Stück Weg war.

Dessen ungeachtet machte sich Heinz Steguweit daran, mit Hingabe und in den Nacken gelegtem Kopf das Federchen zu beblasen und allmählich, langsam genug, Richtung Lindenburg vorzutreiben. Nicht ohne sich von Zeit zu Zeit, wenn er meinte, die Feder hoch genug in die Lüfte befördert zu haben, eine kurze Pause zu gönnen und den Kopf zu senken, um die Nackenmuskulatur zu entspannen. Die anderen drei beobachteten das so müßige wie zermürbende Spiel mit großer Ernsthaftigkeit. Jedes Lachen verbot sich selbstredend. So gelangte die kleine Prozession schließlich und endlich zum Ziel. Dort intonierten mein Großvater, Brües und der Österreicher dreistimmig ein Verslein, das in Fachkreisen kursierte, als Steguweit noch katholisch dichtete:

»Steht am Weg ein Wegukreuz
ist nicht weit Heinz Steguweit.«

Der beklagenswerte Kollege aber wollte gerade anheben, sich in seinem Glück zu sonnen, da weder er noch die Feder sich auf dem langen Weg einer Verfehlung schuldig gemacht hatten, als seine Siegesgewissheit und Zuversicht bezüglich des ausstehenden Wetthonorars empfindlich gestört wurden. Aus den Augenwinkeln wurde er, die Feder nach wie vor in der luftigen Schwebe haltend, einiger Herren in Weiß gewahr, die in ein vertrauliches Gespräch mit seinen Trinkbrüdern vertieft waren. Er konnte kein klares Wörtchen aus dem Getuschel heraushören, sah aber, dass mal dieser, mal jener ausgefahrene Zeigefinger in seine Richtung wies. Im gleichen Moment packten ihn von hinten zwei baumstammdicke Arme und zerrten ihm, während das Federchen traurig zu Boden sank, eine nach altem Schweiß stinkende Jacke aus grobem Leinen über und verknoteten, all seinen Protesten und hilfeflehenden Blicken zum Trotz, die Ärmel auf dem Rücken. Besagte Lindenburg nämlich, die heute die Kölner Uni-Kliniken beherbergt, war damals noch in erster Linie eine Nervenheilanstalt.

Dass dieser illustren Gesellschaft noch zwei, drei Frauenzimmer angehörten, die, etwas im Hintergrund, das drollige Schelmenstück mit despektierlichem Kichern verfolgt und sich von Zeit zu Zeit vor Vergnügen die Hände zwischen die Schenkel drückten, verschwieg meine Mutter selbstredend, als sie mir die Geschichte unterjubelte. Schon aus Diskretionsgründen. Aber dafür übernehme ich die Garantie! Ebenfalls dafür, dass die Hübschen sich jetzt, angesichts des Zugriffs der wenig zartfühlenden Pfleger, am eigenen Lachen verschluckten. Eilends drehten die schlankranken, im Licht der Laternen leuchtenden Fregatten ab und segelten durch die nächtlichen Straßen Lindenthals von hinnen.

Nachdem auch die drei Scherzbolde sich hinreichend vor Lachen gebogen hatten, gelang es ihnen unter größter Mühe gerade noch, den wachhabenden Arzt davon zu überzeugen, dass die Federpusterei zu nächtlicher Stunde schlicht dem Suff und nicht etwa irgendeiner Seelenkrankheit oder Geistesverwirrung des armen Kollegen geschuldet sei. Jedenfalls wurde Steguweit nach zwei, drei glühend heißen Verhandlungsstunden aus der Zwangsjacke und aus der Anstalt entlassen.

Das war die Stelle, wo vermutlich Michel B., auf jeden Fall aber meine Mutter, den munteren Rapport regelmäßig auslaufen ließ. Was schon damals in mir das dumpfe Gefühl evozierte, dass man die Geschichte vor ihrer tragischen Zuspitzung ins schamesrote Mäntelchen einer unbefleckten Unvollendeten hülle. Es kann jedenfalls nicht alles gewesen sein. Denn die Nacht war noch lang. Die Nacht, die mein Großvater, wie überliefert, aushäusig verbrachte. So sehe ich mich also gezwungen, mir einen eigenen Reim auf die Tatsache zu machen, dass man im Kreise der Familie die Geschichte, wie gesagt, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zum Besten gab und dabei stets darauf bedacht war, den Eindruck zu erwecken beziehungsweise zu bestärken, es habe sich dabei um nicht mehr als einen Husarenstreich gehandelt. Dessen Konsequenzen meinen Großvater allerdings ein Leben lang verfolgen sollten.

Ich jedenfalls gehe davon aus, dass das Spielchen zu jener fortgeschrittenen Stunde noch nicht ausgespielt war und die Wette nun dem Österreicher und seinen Federblaskünsten galt. Nachdem man, versteht sich, im Stehen noch mal rasch, aber hochprozentig dem Alkohol zugesprochen und den vom weitsichtigen Brües mitgeführten Flachmann um drei Viertel seines Inhalts erleichtert hatte. Jetzt also nahm das Drama einen neuen Anlauf, und es war nun am Österreicher, die Taubendaune das Fliegen zu lehren. Michel B., der noch unter Schock stehende, aber mit den Rachegelüsten des noch mal Davongekommenen einheizende Steguweit und Brües, der fürchten musste, als Nächster dranzukommen, einigten sich auf die fast schon moderate Entfernung bis St. Karl Borromäus. Wobei allerdings die Zülpicher Straße zwar gekreuzt, aber nicht entlang gepustet werden durfte. Der Umweg über die Nebenstraßen war angezeigt, wollte man doch auf keinen Fall Gefahr laufen, dass eine der dann und wann auch mitten in der Nacht auf den Hauptstraßen patrouillierenden Polizeistreifen das Spiel verderben würde.

In der Gewissheit, dass sich in den Häuserblocks rund um Karl Borromäus keine Klapse oder eine vergleichbare Anstalt verbarg, machte der Österreicher sich an die Arbeit. Mit einem seinem Leben alles andere als zuträglichem Fort- und Ausgang.

3

O-TON 3:

Hans-Michel Becker, Michel Beckers Sohn aus erster Ehe

Ich bin nach dem Tod der Mutter, da war ich also zweieinhalb, bei meinen Großeltern groß geworden, den Eltern meines Vaters. Bin also in einer für mich intakten Familie aufgewachsen, und mein Vater tauchte schon mal auf. Dann hatte ich nicht das Gefühl, dass es um mich ging. Ich hab wahrscheinlich unbewusst ihn zum, ja, Anti-Vorbild genommen, einfach weil die Art und Weise, wie er vorgezogen hat zu leben, mir nicht besonders also passte. Auch dieses dauernde von einem Wohnort zum andern, nicht? Also ich hab manches gegen dieses Bild getan. Ich mag nicht, also wenn man über die Verhältnisse lebt. Wobei, es war nicht so, dass ich also meinem Vater böse war; ich hab keine starke gefühlsmäßige Bindung an ihn. Er hat mir auf der einen Seite leidgetan. Weil er ja zumindest wirtschaftlich nicht zu dem Erfolg gekommen ist, an den er auch gedacht hat, als er das geschrieben hat.

Und andererseits, also wie gesagt, wir haben uns sehr selten gesehn, und das war auch nicht so, dass man nun zu einer echten, tiefen Beziehung zueinander geriet. Das war mein Vater, das hab ich zur Kenntnis genommen. Ich war ihm auch nicht böse, dass er also da seine wirtschaftlichen Verhältnisse in dieser Weise verhunzt hat, wie es nun jeder sehen konnte, und insofern hab ich ihn auch nicht vermisst.

Ich habe ihn irgendwie vermisst. Auch wenn ich ihn nicht kannte. Auch wenn mein Großvater kein Großvater war. Ein Großvater ist ein alter Mann. Meiner nicht. Gut sechzig Jahre vor meiner Geburt geboren und acht Jahre vor meiner Geburt gestorben. Er verabschiedete sich aus dieser Welt, einige Jahre, bevor er mein heutiges Alter erreicht hatte. Michael Hubert Matthias B. segnete am 11. Dezember 1948 das Zeitliche. Das Zeitliche aber nicht ihn. Er geriet schlicht in Vergessenheit.

Meine Großmutter, Käthe B., war, wie sich’s gehört, die Frau meines Großvaters. Der Rosenkranz hing nicht weit von ihrem Bett. Dass sie dank des frühen Todes der ersten Frau die zweite war, geht noch in Ordnung. Dass sie aber beileibe nicht die einzige dieses frommen Katholikers war, davon handeln diese Aufzeichnungen. Unter anderem.

4

Ich lasse Michel B., nachdem er im Vorgarten über Steguweit gestolpert war und ihn mit einem Bier, vielleicht auch zweien, am Tresen der Engelgauer Dorfkneipe abgefertigt und ihm beschieden hatte, er wolle über diese unselige Geschichte nicht sprechen, lasse Michel B. also noch mal und noch mal den zweiten, den dramatischen Teil der fliegenden Federgeschichte aus jener unseligen Nacht durch den Kopf gehen. Und er sieht sich mit Brües und Steguweit hinter dem Österreicher herschwanken, während sich dieser durch die schier endlosen Straßen von Lindenthal und schließlich von Sülz manövrierte und seine Alkoholfahne in die Lüfte pustete, stets darauf bedacht, die geplagte Daune nicht vom Himmel fallen zu lassen. Was ihm – zumal in Anbetracht seines Trunkenturbelschädels – mit Bravour gelang. Das musste man neidlos anerkennen, befanden Michel, Heinz und Otto in seltener Einmütigkeit. Und so zollten sie denn auf halber Strecke dem armen Kollegen Szenenapplaus, was ihm trotz seiner anstrengenden Tätigkeit ein Lächeln auf die Lippen zauberte.

Eben das jedoch hätte er sich besser verkniffen. Denn es kostete ihn einen Moment lang die eng fokussierte Konzentration. Sodass er einen gehörigen Zahn zulegen musste, wollte er der Taubenfeder keine Zwischenlandung und seinen Kumpels nicht unbändige Schadenfreude gönnen. Er rannte also los, als habe sich der Leibhaftige an seinen Rücken gekrallt und beiße ihn beständig in den Nacken. Im vollen Lauf begab er sich in die Hocke, um unter das bedrohlich herabtaumelnde Federchen zu gelangen, es von unten anzupusten und wieder up, up and away in luftige Höhen zu bugsieren. Was ihm just gelungen war, als plötzlich dieser äußerst ungesund klingende Rums zu vernehmen war.

Der Kollege Österreicher war, die Lippen gespitzt, den Blick auf das knapp unterm Himmel schwebende Federchen gerichtet, die alkoholbleiernen Füße immer noch im Sturmlauf, voll Karacho vor einen Laternenpfahl gedonnert.

Während die Herrn Dichterkollegen in tosendes Gelächter ausbrachen und sich abwechselnd gegenseitig auf die Schultern klopften beziehungsweise in den Armen lagen oder beides gleichzeitig, glitt er am Laternenpfosten, eine hässlich breite Blutspur hinterlassend, langsam, aber unaufhaltsam abwärts. Bevor er am hundepissegelben Laternenfuß landete.

Das aber sahen Michel B., Steguweit und Brües schon nicht mehr. Sie waren vor Vergnügen juchzend und kornaufstoßend weitergezogen, machten sich weder um den Verbleib des Federchens noch des Österreichers einen Kopf, wussten sie doch an der nächsten Straßenbahnhaltestelle ein Büdchen, das schon zu dieser unchristlich frühen Stunde nebst Zeitungen und Karamellbonbons auch einigermaßen erschwinglichen Schnaps feilbot. Wohingegen der Brües’sche Flachmann keinen noch so winzigen Tropfen mehr hergab. Und es galt doch, unbedingt auf die Dämlichkeit eines Österreichers und den bravourösen Sieg einer Wette anzustoßen.

Als die drei schon ein treffliches Stück in Richtung des besagten, munter sprudelnden Brünnleins an der Straßenbahnhaltestelle zurückgelegt hatten, wandte sich Steguweit – womöglich in Anbetracht des eben selbst noch erlittenen Ungemachs – kurz um. »Der kommt nicht hinterher, Jungens! Warum kommt der nicht?«, brachte er eindeutig weniger fest heraus als mein Großvater und Otto Brües ihr »Scheiß was drauf. Der kommt schon. Weiß doch auch, wo’s hier in der Gegend morgens um fünf was Flüssiges gibt.«

Die lange, kugelrund auslaufende Nase meines Großvaters umschmeichelte die lange, kugelrund auslaufende Nase Steguweits. Und dann nahmen Brües und Becker den Bedenkenträger in die Mitte und grölten vorwärtsschwankend »Morgenstund hat Gold im Mund, Blei im Hintern, Schnaps im Rachen«, bis schließlich auch Steguweit einstimmte. Doch auch mit der Wasserglasration Klaren, die sie am Haltestellenbüdchen herunterstürzten, ließen sich die Zweifel unter Steguweits Schädeldecke nicht zum Schweigen bringen. »Jungens, ich hab en mulmiges Gefühl«, stammelte er, »ich geh zurück.«

Otto Brües und Michel B. klammerten sich an das letzte bisschen gute Laune, lachten irgendwas von wegen, wenn er denn unbedingt als Spiel- und Spaßverderber in die Geschichte eingehen wolle, gingen aber mürrisch vor sich hin grummelnd mit. Zurück an den Ort des grandiosen Triumphes.

5

Auch wenn seine Enkel nicht sozusagen als Nachlass das blasse Licht der Nachkriegswelt erblickt hätten, sondern noch zu seinen Lebzeiten, einen ordentlichen Großvater hätte er nie abgegeben. Und keinen unordentlichen. Im Gegenteil: Er war ein Pedant! Aber ungeheuer vergesslich. Hat seine Hüte kaum zwei Garderoben weit geschafft. Am Hutständer jeder Kneipe in der näheren Umgebung hing ein Andenken von ihm. Wenn seine Frau nicht immer meine Mutter, damals ein Mädchen von einszwanzig, rundgeschickt hätte, ihn und seine Hüte einzusammeln, wär’s ihn teuer zu stehn gekommen.

6

Schweigend torkelten die drei Gestalten in der Morgendämmerung durch Köln-Sülz. Irgendwann waren ihnen unterwegs die Lieder abhandengekommen und der Gesprächsstoff ausgegangen. So setzten sie schlangenlinienförmig einen Fuß vor den anderen und beschäftigten sich ein jeder für sich mit seinem Rausch, sannen jedem Aufstößerchen nach und befassten sich mit der denkwürdigen Frage, wie lange es wohl noch dauern mochte, bevor anlässlich eines Rülpsers Land mitkommen würde, als sie schließlich jene Laterne am Horizont aufleuchten sahen, die sie vor einer, wie’s ihnen jetzt erschien, halben Ewigkeit als Ort des Sieges verlassen hatten. Ihre Schritte wurden geradliniger, zielgerichteter, zügiger. Und ihre Augen zitterten nicht länger den Tanz der Fuselwolken.

Endlich standen die drei Männer vor besagter Laterne und – starrten zu Boden. Der Österreicher hatte sich offensichtlich keinen Millimeter vom Fleck bewegt und lag, wie eine Katze eingerollt, am Fuß der Laterne. Seinen drei Kollegen gefror das alkoholbeschleunigte Blut in den Adern. Keiner sah den andern an. Es dauerte Minuten, ehe Steguweit sich ein »Ich hab’s doch gesagt« herausschraubte und mein Großvater sichaus der Schockstarre löste. Langsam auf die Knie sinkend, spitzte er die Ohren. Einen dünnen Atem allerdings aus den Geräuschen der eben erwachenden Stadt herauszuhören, war ein Ding der Unmöglichkeit. Und so richtig auf Tuchfühlung mit dem trostlosen Paket Mensch da unten zu gehen, dazu fehlte auch ihm der Mut. Dennoch destillierte sich so langsam aus den zirkulierenden Sternennebeln im Kopf der Gedanke, dass man, wollte man auch nur eine minimale Chance aufs Untern-Teppich-Kehren sichern, dass man dann sofort handeln musste. Bevor aus der erwachenden eine hellwache Stadt geworden sein würde. Er sah seine beiden immer noch stockstarr dastehenden Kollegen an und begriff, dass von ihnen keine Hilfe zu erwarten war. Also nahm er sich ein Herz und klopfte dem Österreicher leicht auf die Schulter. Keine Reaktion.

»Heh, guter Freund«, zischte er in jene Windung des eingerollten Pakets, wo er ein Ohr vermutete, »alles in Ordnung?«

Keine Antwort. Also wagte er es, den regungslosen Leib an der Schulter zu rütteln. Ohne Erfolg. Noch ein flehender Blick in die versteinerten Gesichter der Kumpane. Dann packte mein Großvater mit beiden Händen zu und faltete den Österreicher auseinander. Im gleichen Augenblick schoss Michel B. das Blut ins und dann aus dem Gesicht. Mit diesem Anblick hatte er nicht gerechnet. Wo vor vielleicht zwei Stunden noch ein schnapsverquollenes zwar, aber doch ein Gesicht war, waberte jetzt nur mehr ein Brei aus Blutklumpen und Hautfetzen. Die Stirn war zu einem kreuz und quer verkanteten Eisschollenfeld mutiert. Die rechte Augenbraue war aufgeplatzt und ließ einen blutroten Hautvorhang übers Auge hängen. Während die Nase unter den Blutschlieren noch so etwas wie einen Grat erkennen ließ, stellte sich der Mund vollends als schaudererregende Trümmerlandschaft dar, aus der nur noch ein paar weiße, hoffnungslos brüchige Felszacken ragten, während daneben etliche rote Krater klafften.

Offensichtlich war der Österreicher im geduckten, aber vollen Lauf mit dem Gesicht gegen die Zierringe der wilhelminisch verschnörkelten Laterne gedröhnt. Schlimmer noch mussten die Verletzungen sein, die man nicht sah: hinter der Stirn! Denn er gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Kein Atem, kein Puls, kein Pupillenzucken. Der Mann war tot. Ohne Zweifel.

Und ebenfalls ohne Zweifel hätte er nicht tot sein müssen, wenn seine Saufbrüder, statt einen halben Kilometer zum Schnapsbüdchen zu torkeln und sich noch ein paar hinter die Binde zu gießen, den nächstbesten Arzt aus den Federn geschellt hätten. Immerhin reihte sich auf der Zülpicher Straße damals wie heute ein Praxisschild ans andere. So aber sahen die drei sich mit der Tatsache konfrontiert, dass sie ihren Kumpel in seinem Blut hatten ertrinken lassen, dass sie sein Schädel-Hirn-Trauma ungebremst die Krallen hatten ausfahren lassen. Oder was immer die Todesursache gewesen sein mag, die selbstredend hier und heute nicht mehr schlussgültig zu klären ist.

Sie sahen sich mit den entstellten Mienen dreier Mörder an. Fahrlässigkeit, streng juristisch, mindestens unterlassene Hilfeleistung. Trotzdem fühlten sie sich als Mörder und waren nun nur noch darauf aus, dieser grauenhaften Situation zu entkommen. Drei verschiedene Motoren ein und desselben Fluchtreflexes sprangen im gleichen Moment an und ließen die Brüder im Geiste und im Suff in diametral entgegengesetzte Richtungen auseinanderspritzen. Ein jeder dieser Meister des Federkiels, beladen mit der bleischweren Schuld eines federleichten Dummejungenstreichs. Sie sollten sich in dieser Dreierkonstellation nie wiedersehn.

7

O-TON 4:

Elfriede Kern, Ende der Neunzigerjahre verstorbene Verlegerin aus Köln, die allerdings keines der Bücher von Michel B. verlegte. Nach den Jahren, die er in der Eifel zubrachte, zeitweise die Chefin seiner Frau.

Und jetzt kommt Ihre Großmutter auf den Plan. Käthe Becker. Die hatte nun Ihren Großvater kennengelernt, irgendwie, und war verliebt in den, ne, und der hat natürlich diese Verbindung auch ausjenutzt, hat die uch anjepumpt, un da sie schon ’n bisschen reifer war un noch nit verheiratet und für sie en Dichter natürlich en Wesen aus dem Jenseitigen war, weil sie janz hinjerissen war, hat sie natürlich sich auch beliebt machen wollen in der Familie. Denn Vermöjen brachte sie ja auch nicht mit. Dat waren bürgerliche Leute. Sonst wär sie ja damals nicht aufs Büro gegangen. – Moment mal! Erzähl ich Ihnen natürlich auch im Vertrauen nur, ne. – Ihre Jroßmutter hat doch jekrampft! Die Frau Becker. Die is aber labil jeworden durch den Michel praktisch. Mit dem sie verheiratet dann war.

Also sie war ja bei Tietz anjestellt. Und zwar oben in der Direktion. Da hatte die nun Zugang zu den Kontenführungen, und Ihre Urgroßmutter, die Mutter vom Michel, die hatte ja jewisse Lebensansprüche. Un als nun ihr Sohn da kam und hatte dieses Frollein Soundso, die dann auch bei Tietz war und die sich erbötig machte, ihnen ein Konto einrichten zu lassen, wo sie auf Pump kaufen konnte, da flog die natürlich drauf! Jetzt konnt’ sie ja mal ’n paar Kleider mehr kaufen. Sie müssen ja bedenken, dat Jeld war abjezählt, also Jeld war immer etwas, was man da brauchte, ne.

Aber wenn man ein Konto hat un benutzt dat Konto, dann kommt auch mal der Zahltag! Nit? Un nun hatte die Frau Becker denn erwartet, dat ihre zukünftije Schwiejermutter denn nu uch emal bezahlte! Un die bezahlte nit. Un nu wurde die oben von der Direktion mal jetreten un jesagt, hören Sie mal, da unten haben Sie da gutjestanden für dat Konto, dat müsste aber mal jezahlt werden! Ja, un da hat dann die Frau Becker Buchungen un so wat klüngeln können, nit? Also hat die dadrauf einjewirkt, datt die Konten da ausjejlichen wurden, und dadurch ist sie dann auch beim Kaufhof ehm, sagen wir ma: abserviert worden.

Aber wat ja von Ihrem Jroßvater ne Jemeinheit war: Der hat mir das alles erzählt. Um Ihre Großmutter runter zu setzen, die ja bei mir einen Vertrauensposten hatte. War doch gemein. War doch ’ne Gaunerei eigentlich. Nit? Wat ich ihm auch sehr verübelt habe. Die war ja meine Buchhalterin. Die haben wir durch den Vater bekommen. Da hat der jesagt: »Mein Sohn, der sitzt in der Eifel und der hat ’ne Frau, die sehr tüchtig is, die war früher im Kaufhof Buchhalterin, und wenn die nach Köln kämen, dann wär die froh, wenn die ’ne Stellung bekäm, würden Sie die nehmen?« Un da ham wir direkt mit Kusshand zujejriffen.

Die saßen also in der Eifel, un der hat ja überhaupt kein Geld verdient. Ach so, un da hat der Michel Becker mir diesen janzen Salat von seiner Frau vom Kaufhof erzählt. Un hat die Frau so herunterjemacht, die bei mir den Vertrauensposten hatte! Um die runterzusetzen, weil er vielleicht vermutete, sie würde über ihn erzählen, und – ich weiß es nicht. Und da hat er mir erzählt, datt die also beim Kaufhof – bitte verwenden Sie dat der Ursula gegenüber nit! Ne? – dass sie beim Kaufhof Unterschlagungen gemacht hätte und erausjeflogen wär.

Das Ganze, alles mir erzählt! Dat, wat die Frau jemacht hat, um ihn zu kriejen un vor ihm oder vor seiner Familie jroß dazustehn! Ham Se Worte für so was?! Unjeheuer! Un da hat das Schwein noch zu mir jesagt: »Jetzt sitzt sie in Köln und zittert, dass ich Ihnen alles erzähle!« Das war lumpig! Und als ich da zurückkam, da saß die Frau Becker in höchster Aufrejung, weil die da – un hat aber nix jesagt. Und der Michel hatte mir jesagt, der Pfarrer Geller hätte das alles bereinigt und Dings.

Und da bin ich zum Pfarrer Geller jejangen und habe jesagt: »Ich hab die Frau Becker anjestellt, die hat bei mir en Vertrauensposten, ich muss natürlich wissen, wen ich im Haus hab, und ihr Mann hat mir das und das erzählt.« Und da hat mir der Oberpfarrer Geller die janze Jeschichte von der Misere erzählt. Dass sie eben so arm wären und in der Eifel säßen, und der fuhr dahin un brachte denen fuffzig Pfund Bohnen oder Erbsen, damit sie Supp kochen konnten. Nit? Die hatten also so wenig, so wenig Jeld!! Damals war ja auch die Nazi-Zeit, un der war so katholisch, vielleicht hatte er da uch keine – wat weiß ich. Also jedenfalls hatte er nichts, jar nichts. Der Rettungspunkt war der, dass sie nach Köln kamen und sie bei mir die Stelle bekam, dat war dat erste Mal, dass sie wieder Luft schnappte. Nit?

Un dann bin ich zurückjekommen und hab der Frau Becker jesagt: »Frau Becker, ich war beim Geller, der hat mir reinen Wein einjeschenkt, ich bin im Bilde«, da sagt sie: »Ja, ich wusste dat, wenn Sie jetzt den Michel treffen würden, dat der alles erzählen würde. Dat wusste ich.« Also lumpig. So lumpig. Ist ja lumpig! Ne? Aber ich hab oft zur Frau Becker jesagt: »Dat dürfen Sie ihm all jar nit so übel nehmen; der ist so! Der ist so. Den könn’ Sie jar nich anders machen.« Die arm Frau hat viel durch den jelitten.

O-TON 5:

Hans-Michel Becker

Wobei man da hätte sagen können: Also bitte, wenn du dich beklagst, dann versuch es doch zu ändern!