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Bernd Imgrund
Mein Haus in der Eifel

Bernd Imgrund wurde 1964 in Köln geboren und mit Kölsch getauft. Er war Messdiener, Totaler Kriegsdienstverweigerer und Redakteur eines Stadtmagazins. Seine über 20 Romane und Sachbücher beschäftigen sich u.a. mit Kneipen, Tischtennis und der männlichen Psyche. Allein die »111 Kölner Orte« verkauften sich über 100.000 mal. Bei Kiepenheuer & Witsch erschien die Reisereportage »Kein Bier vor Vier. Meine 100-tägige Kneipentour durch die Republik«. »Mein Haus in der Eifel« ist sein erstes Buch in der KBV Edition Eyfalia.

Bernd Imgrund

Mein Haus
in der Eifel

Vom Städter, der auszog,
Batralzem zu trinken

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Originalausgabe
© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
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Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
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Umschlaggestaltung: Barbara Thoben
unter Verwendung von: © Anatolii und © Zerbor -
www.fotolia.de
Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Print-ISBN 978-3-95441-327-0
E-Book-ISBN 978-3-95441-344-7

Gastfreundschaft besteht aus ein wenig Wärme,
ein wenig Nahrung und großer Ruhe.

Ralph Waldo Emerson (1803-82)

Inhalt

Der Städter und der Eifelbauer

Alles so schön alt hier

Sachensucher

Schminos & Kunos

Das Narren-Haus

Sambuca am Nachmittag

Bernd, der Bankdrücker

»Gute Arbeit, Junge!«

Milch und Brötchen

Der Pfarrer

Die Raufaserpresspappenstyroporplattentapete

Der Alte Fritz und die Grundbirnen

E battere Balsam

Meine Eiche heißt Stahl, meine Buche Beton

Nach fest kommt ab

»Ich esse dich!«

Das Holz-Selfie

Der mit der Flex tanzt

Maria oben ohne

Ich bin dann mal auf ein Bit

Das Kloppemännchen

Zehn Tacken

»Was ist das Leben?«

Der Städter und der Eifelbauer

Ein ruhiger, schweigsamer Eifelbauer hütete zwei Kühe, die auf einer Wiese grasten, und tat nichts anderes.

Da kam ein Städter des Wegs, setzte sich neben ihn, schwieg anstandshalber einen Moment und fragte dann: »Fressen die Kühe gut?«

»Welche von beiden?«, entgegnete der Eifelbauer.

Da sagte der Städter, leicht aus der Fassung gebracht: »Die weiße.«

»Die weiße: ja«, antwortete der Bauer.

»Und die schwarze?«

»Die schwarze auch.«

Nach diesem ersten Wortwechsel schwiegen die beiden Männer eine ganze Weile und betrachteten die Hügel und das Dorf.

Irgendwann jedoch wurde der Städter unruhig und fragte: »Und geben sie viel Milch?«

»Welche von beiden?«, sagte der Bauer. »Die weiße.«

»Die weiße: ja.«

»Und die schwarze?«

»Die schwarze auch.«

Wieder folgte eine lange Pause. Die Männer blickten sich nicht an, sondern lauschten dem Bach und den grasenden Kühen.

Aber dann unterbrach der Städter die Stille: »Warum fragst du mich eigentlich immer: ›Welche von beiden?‹«

»Weil«, antwortete der Bauer, »die weiße mir gehört.«

»Ach so«, entfuhr es dem Städter. Als er jedoch über diese Entgegnung nachdachte, wurde ihm ein wenig mulmig. Mit banger Vorahnung rang er sich schließlich zu einer letzten Frage durch: »Und die schwarze? Gehört die auch dir?«

»Die schwarze auch.«

Alles so schön alt hier

In der Küche fehlte der Boden. Durch die weggefressenen Dielen lugte der Felsen, auf dem das Haus einst erbaut worden war. Wie die Turmspitze einer unterirdischen Kathedrale stach er ins fahle Nichts dieses abgewirtschafteten Raumes. Ein Gänseblümchen labte sich am Sonnenlicht, das durch die zerborstenen Scheiben des Sprossenfensters fiel. In der Ecke mit dem quadratischen Fettrand des ehemaligen Herdes sammelten sich seltsame, längliche Einheiten. Sie wirkten organisch.

Aber der Ausblick! Über das Dach der Maximinkirche hinweg blickte man tief hinunter ins Kylltal und wieder hinauf bis zum Grat des dicht bewaldeten Steilhangs, um den herum sich der Fluss gen Malberg schlängelt. Für einen Moment hörten wir ihn rauschen. Dann jagte von der Mariensäule her ein Trecker bergab, dem Zentrum zu.

Das Maklerpärchen sah anders aus, als man sich diesen Menschenschlag gemeinhin vorstellt. Die beiden Holländer kamen eher geraspelt als geleckt daher. Sie mochten Ende fünfzig sein, aber ihre wettergegerbten, wie aus dem Holz gestemmten Gesichter wirkten alterslos. Mit ihren plusterbunten Kleidern schienen sie einem Wimmelbild des Bauern-Brueghel entsprungen. Grob gestrickte Socken staken in abgewetzten Holzclogs. Darüber trug die Frau einen Wust, der an jene vier kartoffelfarbenen Röcke erinnerte, in denen einst Blechtrommel-Oskars kaschubische Großmutter ihre Feldarbeit zu verrichten pflegte. Und bekanntlich nicht nur das.

Hatte sie sich darüber hinaus ein Kopftuch unterm Kinn zusammengebunden? Ich weiß es nicht mehr, aber ich sehe es vor mir. Während der ungemein große Mann kaum sprach, führte die außerordentlich kleine, untersetzte Frau die Regie.

»Hier könnte man zum Beispiel die Wand durchstoßen und aus den beiden Zimmern eins machen«, erklärte sie im Parterre. »Dann hätte man auch mehr Licht, das wäre ein schönes, großes Wohn-Esszimmer.«

Tatsächlich war es vor allem im rückwärtigen Kämmerchen so düster wie in den Birresborner Eishöhlen. Wo die beiden Räume sich trafen, hing die Decke mächtig durch. Da schien ein altersgebeugter Balken seinen Lebensabend zu fristen. Daumengroße Putzstücke auf den Dielen deuteten darauf hin, dass es rasant bergab ging mit ihm.

»Aber man kann das natürlich auch schön so lassen«, fügte die Maklerin an, nachdem sie meinen Blick auf die abgesplitterte Steinwüste ausgewertet hatte. »Dann hat man zwei schöne Zimmer und kann hintenraus schön schlafen.«

Ihr holländischer Akzent klang beruhigend. Aus »schön« wurde eine Art »ß-chöin«, und dieses neue Adjektiv rückte das Haus in ein exotisches Licht. Die problematischen Putzbröckchen mutierten zu archäologischen Artefakten.

* * *

Wir waren gefangen. Überwältigt vom Charme dieser alten Mauern. Früher platzierten die Bauherren zwischen die Bruchsteine ihrer Hauswände immer mal wieder ein Stück Holz. Wieso? – Um dort später etwas aufzuhängen. Steinbohrer, Dübel und Schrauben gibt es noch nicht so lange, und sie waren schon gar nicht im Besitz des kleinen Mannes und seiner Frau. Aber ein Holzstab zwischen stramm geschichteten Steinen reicht für den Nagel, an den man das Bild der verstorbenen Mutter, des nach Amerika ausgewanderten Sohnes hängt.

In manchen Kirchen, auch in alten Kneipen, steht man zuweilen vor freigelegtem, historischem Wandschmuck. Sei es die unter fünf Farbschichten verborgene Freskomalerei aus dem 13. Jahrhundert oder die vergessene Blümchentapete von Oma Krause: Solche Funde sind Fenster in die Vergangenheit. Sie offerieren Bilder, die Filme anwerfen, ein Kopfkino. Und was da die Rolle spult (oder meinetwegen: den Cursor bewegt), ist das eigene Ich. Denn der Blick in die Vergangenheit ist immer zugleich auch eine Selbstvergewisserung: Ich komme irgendwo her, also bin ich!

Das Verwilderte, die Überreste einstigen Glanzes üben eine seltsame Anziehungskraft aus. Der Anblick einer Ruine, sei es die eines alten Hauses oder einer Burg, weckt die nostalgische Zone. Sie liegt tief im Magen, ich denke, im Zwerchfell. Wer hat hier früher gelebt? Und wie? Hier wurde geliebt und gehasst, hier trank man abends vorm Feuer Met aus Ziegenhörnern und sang dazu Minnelieder von Walther von der Vogelweide. In diesem hochherrschaftlichen Raum saß das Burgfräulein einst verträumt am Spinnrad, in jenem armseligen Zimmerchen schmauchte der Bauer des Abends seine Pfeife. Und da hinten, hm, lacht ein boshafter Zwerg über naiv-romantische Wochenendhauskäufer.

* * *

Alte Häuser haben immer zwei Seiten, zwei sehr unterschiedliche: Von außen betrachtet wirken sie verheißungsvoll und so gemütlich wie eine Puppenstube. Vor allem an einem hellen, warmen, trockenen Tag. Innen jedoch fällt auf, dass es dort dunkler ist als zu Hause. Und der erste Atemzug macht zudem klar, dass Holz modert, dass Natursteinwände Wasser ziehen und ihre Feuchtigkeit gern in den Raum hinein abgeben. Man toleriert das, weil: siehe oben. Und manchmal, im Überschwang des Gefühls, geht man noch einen Schritt weiter. Die ohnehin sichtbehindernden Scheuklappen schwingen nach innen und machen blind.

»Ich würde hier schnell wieder schöne Holzfenster einsetzen«, sagte die Maklerin angesichts der schäbigen Kunststoffrahmen im archaischen Bruchstein. Und ihr Mann nickte dazu mit dem Kopf. Die Makler und die Makel, das alte Spielchen: Indem sie gezielt auf einen leicht zu behebenden Mangel hinweisen, lenken sie zugleich von den größeren Schwächen des Objektes ab.

Dass sich im Erdgeschoss kein Bad befand, hatten wir zunächst gar nicht bemerkt. Das fiel uns erst auf, nachdem wir die Treppe zum ersten Stock genommen hatten. Denn dort offenbarte sich ein Provisorium aus zwei Rigips-Wänden, einem an der Wand lehnenden Spiegel und einem unausgepackt in der Ecke lagernden Klosett.

»Und sehen Sie, hier hat der Vorbesitzer …«, hob unsere Hausführerin an. Als gäbe es bereits einen Nach-Besitzer. Also uns!

»… hier hat der Vorbesitzer ein Loch in die Wand zur Scheune gestemmt, durch das man schön eine Wasserleitung legen könnte.«

Ich musste eine Weile nachdenken, um ihren Satz in aller Konsequenz zu begreifen. Und dann bewunderte ich die kleine Frau regelrecht: Gab es eine reizendere Art zu sagen, dass in diesem Haus kein fließendes Wasser existierte?

Aber auch auf mich war ich ein bisschen stolz (und möglicherweise hatte sie genau dies bezweckt): Einem Bernd Imgrund macht man kein X für ein U vor, sagte ich mir. Der lässt sich von so einer alten Kaschubin nicht übers Ohr hauen. Einmal im Spürhundmodus, kombinierte ich weiter: Wo keinerlei Wasserleitungen liegen, können auch keine Heizkörper gespeist werden. Ein Blick in die beiden Zimmerchen bewies: Genau so war es. Wer immer hier gewohnt hatte, er war mit einem Ofen ausgekommen.

Wieder schien die Frau meine Gedanken zu erraten. Aber vielleicht war mir auch einfach die Kinnlade heruntergeklappt.

»Das ist gar kein Problem«, erklärte sie, »da installieren Sie unten einfach einen kleinen Pelletofen, dann wird das hier ß-chöin snuckelich warm.«

Ihre hölzernen Pantinen durchmaßen den Raum Richtung Flur. Um mich aus meinen Wintergedanken zu lösen, warf sie flugs eine tollkühne Vision an die Wand.

»Früher oder später machen Sie sowieso einen Durchbruch in die Scheune. Das ist ja klar. Und dann haben Sie so viel Platz, dass Sie sich drei Badezimmer einrichten können.«

Oder vier, dachte ich.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite verbrannte die Sonne das Moos in den Fugen der Friedhofsmauer. Ein haariger Hund briet seinen Bauch auf dem dampfenden Asphalt. Irgendwo weiter oben im Hügel schmiss jemand den Rasentrimmer an. Dass das Anwesen über eine angrenzende Scheune verfügte, war natürlich ein Hammer. Völlig klar, wir wollten das Haus!

* * *

Eine Woche später sah die Sache wieder ein bisschen anders aus. Vor Ort hatten wir unter dem Einfluss einer glückshormongesättigten Vorfreude gestanden. Sie hatte alle Bedenken hinweggespült. Aber so ein Loch im Scheunendach wächst seltsamerweise mit dem geografischen und zeitlichen Abstand, den man zu ihm gewinnt. Beim direkten Anblick sagt man sich: Ah, ein Loch, da regnetʼs rein. Na ja, das kriegen wir hin. Das dichten wir mit ein paar Schindeln ab. Ein Klacks angesichts der sieben Badezimmer im Landhausstil, die wir dereinst unter genau dieses Dach bauen werden. Zu Hause jedoch mutierte dieses Loch binnen Kurzem zu einem Schwarzen. Es setzte sich in der Magengrube fest, fraß alle Unternehmungslust und generierte ein Gefühl, das ich nicht anders als Angst nennen konnte. Die Angst davor, einen großen Haufen Geld in den Sand zu setzen. Und gleichzeitig: die Angst, einen Traum in eine trostlose, nach außen hin sogar peinliche Angelegenheit zu verwandeln.

Dennoch unterbreiteten wir dem Eigentümer zunächst ein Angebot. Warum, ist schwer zu erklären. Der Kopf macht zu in solchen Phasen, aus Selbstschutz, damit er nicht platzt. Hin und her geht das Urteil: Kaufen, du Feigling, nicht kleinmütig werden, du Spießer! Aber dann wieder: Lass die Finger davon, Dummkopf, man wird dich auslachen!

Dem Schwarzen Loch folgt Weißes Rauschen, ähnlich dem am Ende der Radioskala. Der Blick wird breiig, alle Bewegungen verlangsamen sich, auch die der Finger, die da tippen: Ich biete 22.500 Euro.

* * *

Um es kurz zu machen: Der Besitzer ging tatsächlich auf unser Spiel ein und näherte sich dem Angebot bemerkenswert nah an. Vielleicht sollte man sagen: aufdringlich nah. Sein unvermittelter Abstieg von ausgeschriebenen 55.500 auf 27.750 Euro ähnelte eher einer Kapitulation als einer seriösen Verhandlungstaktik. Vielleicht weckte dieser Kniefall endlich unser Misstrauen. Jedenfalls ließen wir die Geschichte dann ein Weilchen ruhen.

Und dann noch ein Weilchen.

Aus einem Berg von vermeintlichen Problemen wurde ein kleiner Hügel, dann eine kaum wahrnehmbare Bodenwelle, die die Zeit schließlich komplett planierte.

Es hatte nicht sollen sein mit uns und diesem Haus.

Sachensucher

Bewirte deinen Freund zwei Tage lang, am dritten Tag drücke ihm eine Hacke in die Hand«, lautet ein afrikanisches Sprichwort. Auf den ersten Blick wirkt es ein wenig kaltherzig. Auf den zweiten jedoch auch ziemlich weise. Bevor also einer kommt und mir eine Hacke in die Hand drückt, greife ich selber zu, sagte ich mir. Und meldete mich freiwillig zum Kyllburger Aktionstag »Saubere Landschaft«.

Der gesamte Ort und das halbe Internet waren zuplakatiert mit Ankündigungen. Neun Uhr Treffpunkt auf dem Marktplatz, hieß es. Eine recht unchristliche Zeit, wie ich fand. Dieser fußballplatzgroße Markt dient zugleich als Parkplatz. Märkte werden hier jedoch nicht mehr abgehalten. Und weil der Ort recht entvölkert ist, parkt hier auch kaum einmal ein Auto. An jenem Tag jedoch stand da immerhin der Hänger für die Müllsäcke.

Rund dreißig Menschen hatten sich eingefunden. Auf dem kahlen, morgenkalten Terrain wirkten wir wie eine Eliteeinheit in geheimer Mission. Die meisten Kyllburger schienen allerdings ihre Kinder geschickt zu haben: »Und bring danach Brötchen mit«, mochten sie ihnen mit auf den Weg gegeben haben. Ich hingegen stand dort leibhaftig, in Gummistiefeln und Arbeitsklamotten.

Auch ein paar Flüchtlinge hatten sich bereiterklärt mitzusammeln. Ihnen zuliebe sollte es am Ende Rindswürstchen geben. »Muh«, machte der Bürgermeister erklärend und deutete mit den Zeigefingern Hörner an. Es fiel auch das Wort »sausage«. Dann wurden blaue Müllsäcke und cremefarbene Latexhandschuhe verteilt. Die wenigen Abfallgabeln hatten sich die kleinen Jungs geschnappt. Wie beim Pausendienst in der Grundschule.

1897 schrieb ein Wilhelm Wilsing in seiner Dissertation, was auch im Deutschen Reichstag zu Berlin Common Sense war: Der Eifeler zeichne sich aus durch »nachlässige Pflege und Ernte seines Getreides, es bekundet sich im Schmutze der Dörfer. Auch das ganze Verhalten des Eifler Landwirts deutet auf eine angeborene Bequemlichkeit. Er ist imstande, einen bedeutenden wirtschaftlichen Vorteil dem Schlaf zu opfern, wie er denn überhaupt des Morgens vor sieben Uhr nicht zu haben ist.«

Es gab durchaus Gegenstimmen. Die kamen allerdings, wen wundertʼs, aus der Region. Der Abgeordnete Glattfelder verteidigte seine Artgenossen, indem er dekretierte: »Eifeler Bauern sind ebenso zäh wie ihre Ochsen. Und die Eifeler Ochsen sind sehr zäh.«

Meine ersten Schritte auf dem Putzmunter-Pfad schienen jedoch dem Nörgler recht zu geben. Kyllburg, diese 850-Einwohner-Stadt, wirkte mancherorts ein wenig vernachlässigt. Lag das an den leeren Häusern? Am Wind vielleicht? In Köln würde ich die Stadtwerke dafür verantwortlich machen. Aber Köln ist in der Hinsicht noch mal ein anderes Thema. Dem dortigen Beamtenadel würde man andernorts nicht mal eine Pommesbude anvertrauen. Geschweige denn eine Großstadt.

Bevor ich den mir zugeteilten Waldabschnitt erreichte, war mein Müllsack schon recht gut gefüllt. Eine Gruppe Jugendlicher hatte zunächst denselben Weg. Wie Geier auf einen Kadaver stürzten sie sich auf jedes Bonbonpapier und jede ins Pflaster gewachsene Büroklammer. Ganz anders mein Spannmann Thorsten. Weil er wie ich allein erschienen war, hatte der Bürgermeister uns zusammen auf den Weg geschickt. Thorsten war Mitte vierzig und hatte sich mir als Schreiner vorgestellt. Wenn ich mal ein Haus hier kaufen sollte, sagte er, sei er der Mann für die Holzarbeiten.

Genau so muss es laufen, dachte ich mir. Hat sich das frühe Aufstehen also schon gelohnt. Aber da kannte ich Thorsten noch nicht.

* * *

Sein Freitagabend schien recht heftig verlaufen zu sein. Unter sehr schmalen Augen trug er schwere, gerötete Tränensäcke. Der Kater hielt ihn jedoch nicht davon ab, ohne Punkt und Komma zu reden. Meistens schien es um seine Mutter zu gehen.

Als guter Trick erwies sich, hinter dem Kollegen herzulaufen. Was er aufsammelte, dafür brauchte ich mich nicht mehr zu bücken. Und was er übersah, gereichte mir zum Triumph. Eine geradezu magische Wirkung geht in solchen Situationen auch von einem ausgestreckten Zeigefinger aus. Kaum deutete ich auf eine von Brennnesseln halb verdeckte Bierbüchse, wanderten Thorstens Augen auch schon dem Finger hinterher. Und er beugte sich statt meiner hinunter.

Lange ging das jedoch nicht gut. Genau genommen reichten meine psychologischen Finessen gerade einmal bis zur Kyll. Dort angekommen, fiel Thorsten ins Gras und steckte sich eine Kippe an.

»Ich weiß gar nicht, warum ich das mitmache«, sagte er schwach. »Den Wald fegen! Ich hab gestern geschafft und muss Montag auch wieder ran.«

Thorsten zog an seiner HB, dann hob er den Kopf und blinzelte in die Morgensonne. »Früher hat mich die Mutter vor die Tür geschickt. Da musste ich die Kaugummis vom Gehweg kratzen.«

Offenbar war die Erinnerung an seine Mutter präsenter als die Autorität, die sie einst ausstrahlte. Denn ab sofort sollte Thorsten nur noch hinter mir herschleichen und seinen blauen Sack über den Waldboden schleifen lassen. Und reden. Wir hatten noch nicht das Schwimmbad erreicht, da setzte er sich bereits das zweite Mal nieder.

»Ich würde jetzt fünf Euro für eine Bifi geben, glaubst du das. Und was ich für einen Durst habe. Zehn Euro für ein Menu: eine Bifi, ein Bit. Würd ich latzen, ohne mit der Wimper zu zucken, hast du nicht was zu essen dabei, vielleicht?«

Je stärker Thorsten nachließ, desto massiver erwachte mein eigener Jagdinstinkt. Pippi Langstrumpf spielte mit Annika und Tommi einmal »Sachensucher«. Das ist »jemand, der Sachen findet«, erklärte sie den beiden. »Die ganze Welt ist voll von Sachen, und es ist wirklich nötig, dass jemand sie findet. Und das gerade, das tun die Sachensucher.«

Während ich mich jedoch bislang mit Kippenschachteln, Joghurtbechern und verrottenden Blechdosen hatte begnügen müssen, schwärmt Pippi von Goldklumpen, Straußenfedern und Knallbonbons. In schwedischen Wörterbüchern findet man heutzutage das Wort »sakletare« – Sachensucher. Es geht auf Astrid Lindgren zurück.

Frau Lindgren behauptete später in Interviews, ihr Bruder Gunnar sei der weltbeste Sachensucher gewesen. Das stachelte mich an, es ihm gleichzutun. Wie eine Planierraupe durchpflügte ich Brombeersträucher und Uferdickicht. Wie ein Klondike-Digger jagte ich nach allem, was glänzt. Sei es das alte Deo, das Einwegfeuerzeug oder die angeschwemmte Schnapsflasche. Dort am Ufer, das war das Sachensucher-Eldorado. Immer schwerer wurde mein Sack, ich war Usain Bolt beim Training mit Extragewichten. Als ich im Rausch eine lebende Schnecke von ihrem Stein riss und zwischen die Scherben schmiss, wurde mir klar, dass ich einen Gang herunterschalten musste.

Zurück auf dem Weg, kamen uns zwei Joggerinnen entgegen. Sie trugen glänzende Trainingsanzüge und Stirnbänder. Beim Laufen unterhielten sie sich und lachten.

»Fleißig, fleißig«, grüßte die eine.

Ich sah an meinem schmutzigen Blaumann herunter, spürte die schweren Arbeitsschuhe und markierte den stolzen Malocher. Fast hätte ich den beiden hinterhergepfiffen. Thorsten jedoch machte ein gequältes Gesicht und sah zu Boden.

»Ich könnt jetzt noch im Bett liegen«, jammerte er. Dann sank auf einen großen Stein und zündete sich eine weitere HB an.

Sachensucherehrgeiz schien dieser Kerl nicht zu kennen. Mehr als ein paar Styroporpellets und das Silberhälschen von der zersplitterten Pilsflasche vorhin konnte sein Beutel nicht enthalten. Thorsten drückte die Kippe aus und fluppte den Stummel in die Kyll. So gehtʼs natürlich auch, sagte etwas in mir. Der andere Teil wollte hinterherspringen.

Zum Glück hatten wir die Flussschleife bald umlaufen und visierten nun den Bahnhof an. Länger als eine Stunde waren wir sicher noch nicht unterwegs gewesen. Aber auch ich verspürte einen gewissen Durst. Immerhin hatten wir (also genau genommen: ich) hart gearbeitet, wortwörtlich im Dreck gewühlt. Außerdem hätte es einen schlechten Eindruck gemacht, wenn wir allzu früh wieder am Ausgangsort erschienen wären.

Diese Bahnhofsgebäude in der südlichen Eifel, verwinkelt, mit ihren Türmchen und Erkern, sehen alle aus wie Pippis Villa Kunterbunt. Nur dass sie eben aus dem roten Sandstein der Region bestehen. Aus Köln kommend, stoppte auf Gleis 2 die Eifelbahn. Ein Quartett Wanderer stieg aus und schulterte die Rucksäcke.

»Dann wollen wir mal«, sagte der Anführer mit dem GPS-Gerät.

»Die Mutter hat ihren Frühschoppen geliebt«, sagte Thorsten.

Damit war die Sache entschieden.

* * *

Zwei Stubbis später machten wir uns auf den Rückweg. Ich wusste nicht, wie es meinen Mitstreitern erging. Aber was mich betraf, hätte es mir etwas bedeutet, am Ende den prallsten aller Beutel zu präsentieren. Dass ich diesen voluminösen Ölkanister gefunden hatte, betrachtete ich als Glücksfall. Er blähte meinen Sack entscheidend auf. Ein Reinfall hingegen, sich jenen Steilhang hinuntergekämpft zu haben. Sah aus wie der Rücken einer Moorleiche, das Teil. War aber nur ein vom Regen glattgewaschener und von Mikroben angefressener, alter Baum. Kurz vor dem Ziel kam mir der Gedanke, meinen Suchsachen ein paar Flusssteine beizugeben. In der DDR hätte man solche Säcke nicht nur vermessen, sondern auch gewogen. Und dann, ja, hätte mich jemand zum Held der Arbeit erklärt.

Um dem Bürgermeister gleich zu imponieren, experimentierte ich mit verschiedenen Gangarten, die das Gewicht meines Packens optisch verstärken sollten. Ein Kölner Kumpel von mir war in seiner Jugend Brikettschlepper. Der hatte mir den Buckel gezeigt, auf dem man 50 Kilo Klütten in den fünften Stock trägt. Davon profitierte ich nun.

Als wir jedoch auf dem Marktplatz anlangten, stand da nur der Hänger. Offenbar waren wir die Letzten. Thorsten knüllte seine Ausbeute zusammen und warf sie achtlos auf die Ladefläche. Zwei Dutzend blaue Säcke lagen da, die meisten davon – das registrierte ich mit Kennerblick – waren höchstens halbvoll. Aber das Spiel war aus, der vorpubertäre Sachensucher wurde wieder zum erwachsenen Mann.

»Gastfreundschaft besteht aus ein wenig Wärme, ein wenig Nahrung und großer Ruhe«, schrieb der amerikanische Naturphilosoph Ralph Waldo Emerson. Warm war mir durchaus, und die frühe Arbeit hatte eine große Ruhe über mich gebracht.

»Ich hab einen Hunger, ich könnt die Großmutter fressen«, sagte Thorsten.

Dann marschierten wir ins Gemeindezentrum.

Alle saßen im Kreis, die Rindswürste waren schon heiß.

Muh.

Schminos & Kunos

Hausbesitzer waren wir noch immer nicht. Aber ich lernte, las, lebte mich ein in die Eifel. Der natürliche Feind des Schminos (Kyllburg) ist der Kuno (Malberg). Zwar sind lokale Rivalitäten so normal wie Kühe auf der Weide. Aber die Fehde dieser beiden Ortschaften beschränkt sich nicht auf Schlägereien beim Fußball und den alljährlichen Diebstahl des Maibaums. Sie geht tiefer, sie reicht Jahrhunderte zurück, und sie ist noch heute spürbar.

Steht für den Rat der Verbandsgemeinde ein Kyllburger zur Wahl, bekommt er hier an die hundert Prozent – egal, wofür er steht, versteht sich. In Malberg hingegen wird sich höchstens eine Handvoll Menschen für ihn entscheiden. Das sind dann die Zugeheirateten, die mit ihrem Votum alte Heimatverbundenheit demonstrieren. Ohne das deutsche Wahlgeheimnis wäre das allerdings kaum möglich.

Eines Tages, ich war noch sehr frisch in Kyllburg, saß ich in der Brückenschänke neben einem einflussreichen Lokalen, einem Bauunternehmer. Er war ein hohes Tier in der CDU, zigfacher Prinz Karneval (Schoawen genannt) und Vorsitzender von vierhundert örtlichen Vereinen. Weil ihm außerdem der halbe Wald zwischen hier und Luxemburg zugerechnet wurde, stellte ich ihm eine diesbezügliche Frage: Woher denn dieser kahle Steilhang östlich über Malberg rühre.

Der war mir bei einem Spaziergang aufgefallen. Ringsum dichter, gesunder Wald und mittendrin diese entbaumte, hässlich-abgefressene Stelle. Beim ersten Anblick dachte man an Brandrodung, aber wer sollte dort oben schon landwirtschaftliche Interessen haben. Der Bauunternehmer zog zweimal konzentriert an seinem Bitburger, bevor er mich mit einem klauskinskiesken Blick durchbohrte. Dann sagte er: »Wer meint, der Malberger verstehe etwas von Waldwirtschaft, der hält die 8 für ein Nonnenheim.«

In der Kyllburger Stiftstraße Nr. 8, muss man dazu wissen, ist das örtliche Bordell untergebracht.

Es ist nicht allzu lange her, da konnten solchen verbalen Scharmützel zwischen den Dörfern jäh eskalieren. Und unter Umständen sogar tödlich enden, wie ein Ereignis vom Januar 1926 belegt. Am 28. jenes Monats, so berichtete der Trierische Volksfreund, war es in der Malberger Gaststätte Müller zu einer folgenschweren Auseinandersetzung gekommen. Besucher des Kyllburger Marktes waren vor der Theke mit jungen Malbergern in Streit geraten. Als die ersten Gläser flogen und Köpfe bluteten, warf der Wirt die Meute aus dem Lokal. Auf der Straße dann ging es erst richtig zur Sache. Einer der Auswärtigen zückte seinen Dolch und stach ihn dem nächstbesten Einheimischen in den Leib. Dessen Kumpane wiederum schlugen mit Holzprügeln auf die Marktbesucher ein. Endlich erschien die Polizei, beendete das Tohuwabohu und nahm den Messerattentäter fest. Dessen Opfer überlebte zwar, aber einer der geflüchteten Gäste aus dem Nachbarort blieb verschwunden. Erst am nächsten Morgen fand ihn ein Waldarbeiter am Rande eines Gartenwegs. Er war tot, erlegen seinen schweren Kopfverletzungen.

Das letzte Wort hatte schließlich der Richter. Im Sommer 1926 waren die umfangreichen juristischen Untersuchungen abgeschlossen. Fünf Männer wurden zu Freiheitsstrafen zwischen drei Monaten und zweieinviertel Jahren verurteilt. Darunter übrigens auch ein allseits angesehener Bauunternehmer.

* * *

Die Gaststätte Müller hat längst dichtgemacht. Und nicht nur sie, in Malberg existiert inzwischen überhaupt keine Kneipe mehr. Wenn die Kunos einen trinken wollen, müssen sie nach Kyllburg gehen. Sie bekommen ihr Bier, keine Frage. Auch erschlagen wurde hier in letzter Zeit niemand mehr.

Blickt man in die Vergangenheit, waren Kyllburg und Malberg jahrhundertelang Frontstaaten, getrennt durch einen Hügel und eine Flussschleife. Auf der einen Seite regierte der kurtriersche Erzbischof, auf der anderen die Noblen der limburgisch-luxemburgischen Hemisphäre. Grün waren sie sich selten, auch wenn man interessehalber zuweilen an einem Strang zog. Dass die Karikatur des Malbergers ausgerechnet der Kuno wurde, basiert jedoch letztlich auf einer historischen Verwechslung. Oder genauer: auf einer Verschmelzung. Denn Ritter Kuno von Malberg, gern auch »der Große« genannt, war in der Eifel hoch angesehen. Er galt als gerechter Herrscher von unzweifelhaftem Lebenswandel. Schon zu Lebzeiten rankten sich allerlei volksnahe Legenden um ihn. Zum existenziellen Wendepunkt sollte ihm die Teilnahme am Zweiten Kreuzzug 1147 werden. Der für die christlichen Heere desaströse Marsch weckte seine Religiosität. Kuno sagte dem weltlichen Leben Lebewohl und trat als Mönch ins Kloster Himmerod ein. Dort starb er 1180 als ergebener Diener des Herrn.

Alles prima also, sollte man meinen. Ein großer Malberger, vor dem selbst der Schmino den Hut zieht. Richtig böse wird die Geschichte dann auch erst unter einem seiner Nachfolger, Rudolf von Malberg. Nachdem dessen Tante Agnes 1236 ohne männliche Erben verstorben war, hatte er sich große Hoffnungen auf ihre Hinterlassenschaft gemacht. Sämtliche herrschaftlichen Güter jedoch hatte die alte Agnes der Abtei im nahen St. Thomas vermacht. Rudolf übernahm zwar die Regentschaft über Malberg und die Burg, aber ohne Wald- und Landbesitz war er aufgeschmissen.

Als echter Machtpolitiker wusste Rudolf Rat und handelte, wie sieʼs noch heute tun: Nehm ichʼs mir halt von den Schwachen, sagte er sich. Und das waren in seinem Fall die Nonnen von St. Thomas. Wie eine Räuberbande fielen Rudolf und seine Genossen über die Schwestern her. Sie erschütterten die Klosterstille mit dem Geschepper ihrer Waffen und forderten das Erbe der Tante zurück. Irgendwann wussten sich die Frauen nicht mehr anders zu helfen, als an den Hof ihres Erzbischofs in Trier zu flüchten. Erst nach einer langen Belagerung seiner Burg durch das kurtrierische Heer lenkte Rudolf ein.

Ein Jahr später begann man auf Betreiben des Erzbischofs mit dem Bau der Burg auf dem Kiliberg. Deren Turm, damals rund zehn Meter höher als heute, sollte fortan Kunos Machenschaften in Malberg kontrollieren helfen. Aber Rudolf war nicht zu bremsen. Des Raubritters Schergen schlugen ihr Holz im Nonnenwald, überfielen wahllos fahrende Händler und streckten ihre Fühler gen Kyllburg aus. Um sein Treiben ein für alle Mal zu beenden, griff man zum Äußersten: 1254 wurde über Rudolf die Reichsacht verhängt. Von diesem Moment an war jedermann berechtigt – sogar dazu aufgefordert –, ihn auf jede erdenkliche Art zu töten. Straffreiheit war garantiert.

Aus den beiden jeweils auf ihre Weise herausragenden Malbergern, dem berühmten guten und dem ohne jenen wohl vergessenen bösen, wurde der Gesamt-Kuno. Und der Bau der Kyllburger Burg gab schließlich Anlass für die Malberger Retourkutsche »Schmino«. Das Wort stammt vom hebräischen šḁmar (= bewachen) ab. Über das jiddische »schmiro« mutierte es schließlich zum gaunersprachlichen »Schmiere stehen«.

Ist ein Schmino also nichts weiter als ein Wachhund? Dort der heißblütige Raubritter, hier der schnöde Kläffer?

Die Frage wollte ich mir so nicht stellen. Ich war entschlossen, unter die Schminos zu gehen. Denn in Malberg, wie erwähnt, gibt es ja nicht einmal eine Kneipe.

* * *