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Nichts wie es war

Zur Autorin:

Kathrin Heinrichs wurde 1970 im Sauerland geboren, studierte in Köln Germanistik und Anglistik und arbeitet seit 1999 als Autorin und Kabarettistin. Bekannt wurde sie mit ihrer Krimireihe um Hauptfigur Vincent Jakobs.

Kathrin Heinrichs hat drei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in Menden.

Mehr zur Autorin unter www.kathrin-heinrichs.de

Kathrin Heinrichs

Nichts wie es war

Kriminalroman

Blatt-Verlag, Menden

2016 by Kathrin Heinrichs

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung & Satz: Olaf Warburg

Umschlagfoto: istockphoto, sreenath_k

ISBN 978-3-934327-27-6

eISBN 978-3-934327-28-3

Für Zofia
in großer Dankbarkeit

Er kam, als es windstill war. Er kam immer, wenn es windstill war. Dann hörte man sie atmen. Vorsichtig hob er das Gartentor an, damit es nicht quietschte, und ging den Weg am Haus vorbei Richtung Garten. Streifte den Rhododendron, als er die Garage passierte, umrundete die Terrasse. Manchmal, im Sommer, hatte er sich auf einen der Gartenstühle gesetzt, mitten in der Nacht, hatte nur dagesessen und es genossen, in ihrer Nähe zu sein, während sie schlief. Heute allerdings ging er zu ihrem Fenster. Es stand eine Handbreit offen, er mochte diese Arglosigkeit. Die letzten zwei Schritte machte er in Zeitlupe, vermied jedes Geräusch, drückte sich dann sachte an die Wand neben ihrem Fenster und versuchte zur Ruhe zu kommen. Es brauchte immer eine Weile, bis er sie hatte. Bis er ihren Atem vernahm, im Einklang mit ihr war. Irgendwo im Garten knackte es. Ein Vogel. Oder ein Eichhörnchen. Er lauschte, meinte ihren Atem zu hören, schloss die Augen. Sah ihr blondes Haar auf dem Kissen, ihre helle Haut, die langen Wimpern, die sich im Schlaf zur Ruhe gelegt hatten. Wie gern würde er sie streicheln, ihr Haar durch seine Finger gleiten lassen, mit der Hand auf ihrer Wange verharren. Dann – plötzlich – von drinnen ein Schnauben. Er hielt den Atem an. Ein Rascheln, das Knistern der Bettdecke, sie drehte sich um. Schließlich ein sanftes Schnarchen. Er musste lächeln. Dann beugte er sich vor, um das Fenster weiter zu öffnen.

1

Man fand die Leiche an einem Montagmorgen um Viertel vor acht. Man fand sie, weil die Leerung der Gelben Tonne anstand. Der Müllmann kannte die Straße, er machte die Leerung dort seit über fünf Jahren. Die Tonne stand rechts vom Haus, neben dem Regenauffangbehälter. Er hatte schon die Hand am Griff, als er ein Wimmern wahrnahm. Eine Katze, war sein erster Gedanke. Dann aber bekam das Wimmern eine andere Färbung. Man konnte einzelne Worte verstehen. Das Wimmern wurde lauter, als er ein paar Schritte am Haus entlangging. Er erreichte die Hausecke, zögerte kurz, traute sich dann weiter, an einer Terrassentür vorbei. Es war jetzt klar, woher das Geräusch kam. Das übernächste Fenster im Erdgeschoss stand auf Kippe.

„Hallo?“, rief der Müllmann. Er fand das Ganze etwas unheimlich. „Hallo?“

Jetzt hatte er das Fenster erreicht und blickte hinein. Er musste sich an die Scheibe drücken, um innen etwas erkennen zu können. Was er dann sah, ließ seinen Atem stocken.

Später sollte er sich immer wieder an den Anblick erinnern – an die leblose Gestalt auf dem Bett. An ihr wächsernes Gesicht. An das Blut. Aber auch an den alten Mann, der da auf dem Fußboden gesessen hatte, mit wirrem Haar, den Pyjama rot verschmiert. Er war es, der da gewimmert hatte wie ein kleiner Hund.

2

Anton Wieneke war 77 Jahre alt und er hatte Angst. Schon seit Minuten saß er auf dem Klo und kam nicht wieder hoch. Wenn ich mir nie wieder selbst den Hintern abputzen kann, schwor er sich, dann bringe ich mich um!

Er packte den Haltegriff fester, verlagerte sein Gewicht auf das gesunde Bein und zog sich mit aller Macht hoch. Jetzt stand er, er stand, Gott sei Dank, das gesunde Bein trug ihn, der gesunde Arm hielt ihn. Das Problem war nur, wie man sich jetzt noch den Hintern abputzen sollte.

„Herr Wieneke?“ Die Stimme der Pflegerin durch die Badezimmertür. „Ihre Tochter ist zu Besuch.“

Anton brach der Schweiß aus. Seine Tochter vor der Tür. Die Schwester vor der Tür. Wie sollte man da in Ruhe zurechtkommen?

„Ich kann nicht!“, bölkte er nach draußen. „Ich bin gerade beschäftigt!“

Beschäftigt war eine interessante Umschreibung für seinen Zustand. Er war damit beschäftigt stehen zu bleiben.

„Papa?“, hörte er jetzt Sabines Stimme. „Ich warte auf dem Balkon. Lange wird’s ja nicht dauern!“

Anton schnaubte. Woher wollte sie das wissen? Dann testete er seine Standfestigkeit, indem er kurz den Haltegriff losließ. Sofort schwankte er gefährlich und griff wieder zu. Dieser verdammte Schlaganfall hatte ihm die halbe Seite weggerissen. Natürlich sagten ihm alle, dass er noch Glück gehabt hatte, weil er ja denken konnte wie vorher und sprechen konnte wie vorher. Anton fühlte aber kein Glück. Er fühlte sich wie ein halber Mensch. Seine ganze Fröhlichkeit war offenbar in der anderen Hälfte gewesen.

„Herr Wieneke?“ Wieder die Stimme der Schwester. „Darf ich hineinkommen und Ihnen helfen?“

Anton schloss die Augen. „Bitte!“, sagte er leise.

Zehn Minuten später saß Anton in seinem Rollstuhl auf dem Balkon und schämte sich, weil er so barsch gewesen war. Seine Tochter war zu Besuch – kein Anlass sich zu ärgern. Sabine stand mit einem Plastikbecher in der Hand an das Balkongeländer gelehnt und schaute in die Ferne. „Ist das nicht schön?“

Anton folgte ihrem Blick. Der Klinikparkplatz, dahinter ein paar Verwaltungsgebäude, dazwischen zumindest ein Kirchturm.

„Ich weiß schon“, kam Sabine ihm zuvor, „zu Hause ist es schöner.“

Anton wurde verlegen, es stimmte. Er hatte Heimweh.

„Ich möchte gern zurück“, traute er sich deshalb zu sagen, schaute dann aber schnell auf den Parkplatz hinunter. Ein Mann ging zu seinem Auto, den Blick fest auf sein Handy gerichtet. Er schrieb etwas, möglicherweise lief er gleich vor eine Laterne.

„Papa, dein Schlaganfall liegt noch keine sechs Wochen zurück. Falls die Reha weiter gut läuft und du wieder der Alte wirst –“

Anton zuckte. Falls! Was war, falls nicht?

„Ich habe vier Wochen Reha hinter mir“, entgegnete er. „Ich kann den Rest der Anwendungen zu Hause wahrnehmen, hat mir die Schwester gesagt.“

Sabine runzelte die Stirn. „Wie stellst du dir das vor? Meinst du, die Therapeuten kommen zu dir nach Hause?“

„Ich werde hingebracht. Und abgeholt – mit einem Taxi.“

„Und zu Hause? Da versorgt dich der Taxifahrer?“

„Zu Hause – da komm ich schon zurecht.“

„Papa!“ Sabine drückte ungeduldig an ihrem Plastikbecher herum. „Wenn ich nicht irre, hast du gerade auf der Toilette Hilfe gebraucht. Du brauchst überall Hilfe. Wie soll das gehen?“

Anton atmete tief durch. Er hatte nicht erwartet, dass er dieses Gespräch schon jetzt führen musste. Das kam sehr abrupt.

„Ich habe mir überlegt, es so zu machen wie Hannes.“

Hannes war Antons Freund. Er war drei Jahre älter und er hatte Alzheimer von der übelsten Sorte. Aber er lebte zu Hause. Er hatte eine Polin.

„Hannes?“ Sabine schaute ihn erschrocken an. „Wie kommst du jetzt auf den?“

„Hannes ist viel kränker als ich. Und trotzdem lebt er zu Hause. Wenn das bei Hannes klappt, dann klappt es auch bei mir.“

Sabine starrte ihn immer noch an. Offenbar gingen ihr die Argumente aus. Anton freute das ein bisschen.

„Papa“, Sabine fing sich jetzt wieder. „Zu Hause ist es nicht mehr wie früher.“

„Das weiß ich!“ Anton streckte sein gesundes Bein aus. Natürlich war es nicht mehr wie früher! Theres war tot, seine Frau, nach 48 Jahren Ehe. Die Kinder lebten weit weg. Hannes war dement und dann hatte auch noch der Laden im Dorf zugemacht. Natürlich war es nicht mehr wie früher.

„Weißt du – Hannes –“, Sabine wirkte plötzlich verkrampft und Anton beschlich ein ungutes Gefühl. Seine Tochter war nicht zufällig zu Besuch gekommen. Sie war gekommen, um ihm etwas zu sagen!

„Es ist so, mit Hannes hat es einen Vorfall gegeben“, Sabine hatte sich gesammelt und sprach jetzt mit ihm wie mit einem Kind. „Du weißt ja, diese Demenzkranken können aggressiv werden. Und Hannes ist immer noch ein kräftiger Kerl. Auf jeden Fall wurde seine Pflegerin –“, Sabine bemühte sich krampfhaft um die richtigen Worte, „– also, angeblich hat er sie – mit einem Messer erstochen.“

„Er hat was?“, hörte Anton sich fragen.

Sabine schwieg. Als wüsste sie, dass er sie richtig verstanden hatte. Dass es nur brauchte, bis diese Information vollständig in sein Bewusstsein eingedrungen war.

Antons Blick suchte fahrig auf dem Balkon umher, als könnte er dort irgendeinen Halt finden, eine Erklärung für den Satz, den er gerade gehört hatte.

Das Bild seines Freundes trat ihm vor Augen. Seine hochgewachsene Gestalt, das immer noch dunkle, schüttere Haar, die grüne Kleidung, die er nach wie vor jeden Tag trug, obwohl er schon ewig als Förster pensioniert war.

„Es ist wirklich unfassbar“, gab Sabine zu, „und natürlich geht die Polizei allen Möglichkeiten nach. Aber zunächst mal scheint alles eindeutig. Hannes saß vor dem Bett, als man ihn am Morgen entdeckte. Und das Messer lag nur zwei Meter entfernt.“

„Aber er hat sie gemocht“, sprudelte es aus Anton heraus. „Er hat Frau Gabriela gemocht! Warum hätte er ihr etwas antun sollen?“

„Papa!“, beschwor ihn Sabine. „Es ist diese Krankheit. Menschen verändern sich unter der Demenz. Sie haben Halluzinationen. Wer weiß, wen Hannes in dieser Nacht gesehen hat? Einen Einbrecher, ein Ungeheuer, was weiß ich?“

„Aber –“, Anton fehlten die Worte. Er hätte gerne zum Ausdruck gebracht, wie sehr ihm diese Nachricht den Boden unter den Füßen wegzog. Dass soeben eine weitere Säule seines Lebens zusammengebrochen war – und dass da jetzt nicht mehr viel war, das ihn noch hielt!

„Wo ist er jetzt?“, kam es ihm plötzlich in den Sinn.

„In der Psychiatrie. Geschlossene Abteilung.“

„Geschlossene Abteilung“, wiederholte Anton monoton. „Und da soll er jetzt bleiben?“

„So genau weiß ich das nicht“, Sabine zuckte die Achseln. „Ich habe zwar mit Beate gesprochen, aber die wusste noch nichts. Offenbar hängt das von verschiedenen Gutachten ab.“

Beate, das war Hannes’ Tochter. Sie wohnte ebenfalls weit weg. Verdorri, wie sollte das Leben auch funktionieren, wenn alle Kinder weit weg wohnten, anstatt sich um ihre Eltern zu kümmern?

Anton verfiel ins Grübeln. Er bemerkte, dass Sabine nach drinnen ging, um ihren Becher in den Papierkorb zu werfen. Er blickte vom Balkon hinunter, über den Parkplatz, über die Häuser, wo irgendwo in weiter Ferne endlich die herbstliche Landschaft begann. Er dachte an die Trauerbuche, die er zu Hause von seinem Fenster aus sah. Und an den Apfelbaum in seinem Garten. Er dachte an die Kirche im Dorf, an die Gaststätte, die es noch gab, und an alle, die jetzt dort sein konnten, während er in dieser Reha-Klinik saß. Dann fasste er einen Entschluss.

Sabine hatte noch telefoniert, sie steckte gerade ihr Handy weg, als sie wieder zu ihm auf den Balkon trat.

„Es wird kühl“, stellte sie fest, „willst du nicht reingehen?“

Er sah ihr einen Moment in die Augen, um zu zeigen, dass es ihm ernst war.

„Was ich wirklich will“, sagte er dann, bemüht, seine Stimme klar und fest klingen zu lassen, „ist nach Hause zu gehen.“

3

Himmel noch mal, dachte Thomas, als er vor seinem Elternhaus stand, was genau mache ich hier? Sie steckten mitten in einer Ermittlung. Sie waren dabei, einen Crystal Meth-Ring auszuheben. Und er drückte sich hier in seinem Heimatdorf herum! Aber Sabine hatte ihm diesmal keinen Spielraum gegeben: „Thomas, ich habe mir den Arsch aufgerissen, um diese Polin herzuzaubern. Normalerweise dauert es Wochen, bis man so etwas eingestielt hat. Ich habe es innerhalb weniger Tage geschafft. Es ist nicht zu viel verlangt, wenn du auch mal was tust!“

Da hatten ihm dann ein bisschen die Argumente gefehlt.

Nun stand er hier und starrte auf eine hölzerne Rampe, die die drei Treppenstufen ins Haus überbrückte. Hatte bestimmt Martin gebaut, Papas Ersatzsohn. Warum war er dann nicht auch hier, um einzukaufen, nach dem Rechten zu sehen und die Polin abzuholen?

Im Haus roch es muffig. Wahrscheinlich normal bei acht Wochen Leerstand. Thomas ging deshalb in der Küche gleich zum Fenster und riss es auf. Ein Geräusch drang herein, das ihn mit einem Schlag in seine Kindheit versetzte: eine Kreissäge – da machte jemand Holz. Die Erinnerungen überwältigten ihn – die Samstagsschufterei auf dem Land bis zur Vorabendmesse. Leute, die sich auf der Straße grüßten. Hannes, der vorbeikam, um ein Feierabendbier mit Papa zu trinken. Hannes – verdammt! Thomas verdrängte das Bild und nahm stattdessen die Küche unter die Lupe. Zwar roch es muffig, aber zweifellos hatte Sabine jemanden zum Putzen engagiert. Die Ablagen waren sauber, der Kühlschrank leer, aber frisch ausgewischt. In den Schränken das alte Geschirr, ein paar Konserven, eine unversehrte Packung Kaffee. Beim oberen Schrank zuckte Thomas zurück. Ein Foto von Mama, innen an die Schranktür geklebt, fransig und vergilbt. Sie saß im Garten unter dem Apfelbaum und lachte dem Fotografen ausgelassen zu. Die Ähnlichkeit mit Sabine war unverkennbar. Er selbst glich seinem Vater. Konnte man sich nun mal nicht aussuchen.

Esszimmer, Flur, gutes Wohnzimmer. Gutes Wohnzimmer – auch so ein Name. Ein Ausstellungszimmer, in dem es immer eiskalt war. Auch das Schlafzimmer lag ebenerdig. Zum Glück, mit einer Halbseitenlähmung kam man sicher nicht die Treppe hinauf.

Thomas checkte das Badezimmer. Die grünen 70er Jahre-Fliesen glänzten, behindertengerecht war das Bad allerdings nicht – wenn man von den Haltegriffen absah, die während Mamas Krankheit angebracht worden waren. Man konnte nur hoffen, dass da nicht so ein Püppchen aus Polen kam. Es musste schon jemand sein, der anpacken konnte.

Wenn man Sabine glauben durfte, konnte sie das. „Die hat ihren Vater gepflegt mit allem Drum und Dran. Aber lange wird sie nicht bleiben. Die ist 33! Die ist nur hier, um einen deutschen Mann abzugraben. Pass auf dich auf!“

Thomas hatte die Augen verdreht. Er stand nicht auf rosa Polyesterdecken, zu blond gefärbte Haare und polnischen Kitsch. Und mit Heiraten hatte er sowieso abgeschlossen.

Als er die Treppe hinaufstieg, fragte er sich, wie lange er nicht mehr oben gewesen war. Selbst bei der Beerdigung seiner Mutter war er abends noch nach Hause gefahren.

Sabines Zimmer lag nach vorne zur Straße. Thomas entdeckte den alten Plattenspieler, auf dem er früher seine Märchenplatten gehört hatte. In seinem eigenen Zimmer standen Enid-Blyton-Bände im Bücherregal. An der Wand trashige Bilder von London und Paris. Großstadtträume eines Dorfjugendlichen. Dumm gelaufen. Thomas hatte es nur bis nach Bielefeld geschafft.

Sein alter Schreibtisch war noch da. Naja, kein richtiger Schreibtisch, es war ein einfacher Tisch. Selbstgemacht natürlich, in diesem Haus gab es nichts anderes. Vielleicht lebte er deshalb heute in Möbeln von der Stange.

Erst jetzt bemerkte Thomas, dass das Bett frisch bezogen war. Hier sollte also die Polin schlafen? In seinem Zimmer? Gut, der Raum war größer als der von Sabine, auch heller und nach hinten raus, aber trotzdem: Warum hatte man ihn nicht gefragt?

Sein Handy surrte. Eine Nachricht von Matthes, seinem Kollegen. „Wir haben ihn. Ist heute Morgen in der Wohnung aufgetaucht.“

Es musste sich um den Junkie handeln, der aussagen wollte – Matthes hatte ein Bild mitgeschickt, das sie auf dem Präsidium gemacht hatten. Thomas überkam ein Schauder. Der Knabe war 23, wenn er es richtig im Kopf hatte. Auf den Fotos aber sah er einen Fünfzigjährigen. Entzündete Haut, verfaulte Zähne, Haarausfall. Crystal Meth in seiner übelsten Ausprägung. Thomas klickte es weg, aber sofort summte sein Handy erneut. Diesmal eine SMS von Sabine. Du denkst doch an die Polin? Ankunft 9:45 Uhr.“

Thomas sah auf die Uhr. Mist!

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Berge, viele Berge. Und Wald, viel Wald! Zofia hatte ihre Nase an die Scheibe der Regionalbahn gedrückt und schaute hinaus. Jetzt allerdings lehnte sie sich zurück und griff nach dem Wörterbuch. Den Ausdruck Sauerland fand sie nicht, so hieß die Gegend, in die sie jetzt fuhr. Aber sie fand Land und sie fand sauer. Kwašny kraj, kein schöner Name. Dabei sah die Landschaft ganz hübsch aus. Keine großen Städte mehr, seitdem sie in Hagen vom Fernbus in die Bahn umgestiegen war. Nur noch Städtchen und Dörfer, manchmal nicht mehr als eine Ansammlung von Häusern. Alles sehr gepflegt.

Noch vierzehn Minuten bis zur Ankunft. Der Zug war ganz pünktlich. Ein deutscher Zug.

„In Deutschland ist alles pünktlich“, hatte ihr ihre Tante gesagt. „Das Essen muss immer zur selben Zeit auf dem Tisch stehen. Das ist den Deutschen wichtig. Achte darauf!“

Zofia war nicht sicher, ob sie das alles hinkriegte. Ob sie das Richtige kochte. Und dann noch pünktlich. Der alte Mann aß bestimmt am liebsten Kartoffeln. Zumindest hatte das ihre Tante vermutet. Alle alten Leute in Deutschland äßen am liebsten Kartoffeln. Zofia aß am liebsten Spaghetti, aber sie hatte sich deutsche Rezepte kopiert. Die musste sie jetzt nur noch gekocht kriegen.

Elf Minuten. Die Tochter des alten Mannes würde sie am Bahnhof abholen, hatte die Agentur ihr gesagt. Ob die Tochter nett war? Ob sie so alt war wie sie? Ihre Tante hatte gesagt, die Deutschen wären pyszni, dabei hatte sie den Finger unter die Nase gelegt, um zu zeigen, wie hochnäsig sie waren. Aber es gäbe auch Deutsche, die wären so – und dann hatte sie die Hand aufs Herz gelegt, um zu demonstrieren, dass es tatsächlich Deutsche mit Herz gab. Demnach verfügten die Deutschen im Großen und Ganzen über zwei ausgeprägte Körperteile: entweder eine viel zu hoch getragene Nase oder ein Herz, das so laut pochte, dass man es durch den Brustkorb hören konnte.

Vier Minuten noch. Am nächsten Halt musste sie raus. Zofia zog ihre Winterjacke an. Sie war zu warm für einen milden Herbst. Aber sie wollte gerüstet sein, wenn der Winter kam. Sie kannte kalte Winter, in Śląsk hatte es oft minus zwanzig Grad. Zofia packte ihren Leinenbeutel links, die Reisetasche rechts. Ihr Puls stieg. Der Zug wurde langsamer, ein kleiner Bahnsteig tat sich auf. Durch das Türfensterchen warf Zofia einen Blick auf das Schild. Der Name stimmte, sie musste raus. Aufgeregt drückte sie den kleinen Knopf neben der Tür. Nichts tat sich und Zofia bekam sofort Panik: Was tun, wenn der Zug weiterfuhr, ohne dass sich die Tür geöffnet hatte? Schließlich schob die Tür sich zur Seite, eine Stufe senkte sich nach draußen. Zofia hastete hinunter, zog dann hektisch ihre Reisetasche hinter sich her und blickte sich um. Der Bahnhof war menschenleer.

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Im Jahr zuvor – 29. November

Es stürmt an diesem Samstag wie Sau, es regnet in peitschenden Böen – ein Wetter, bei dem man eigentlich den ganzen Tag im Bett bleiben möchte. Sie allerdings ist unterwegs. Sie hat ihre beschissene Regenjacke an, die kein bisschen abhält, und zieht die Zeitungskarre hinter sich her. Es ist nur noch dieses eine bekloppte Haus, das sie versorgen muss, es liegt abseits, ein Riesenaufwand, die Zeitung dort abzuliefern. Aber sie weiß, dass die scheiß Firma ihre Leute kontrolliert, sie hat es selber erlebt. Einzelne Haushalte werden angerufen und gefragt, ob sie am vergangenen Samstag das Anzeigenblatt im Kasten hatten. Wenn nicht, gibt es Stress. Eine Verwarnung, dann ist man als Austrägerin raus. Sie muss also an jede Tür – jede verfickte Zeitungsrolle füllen – es sei denn, da hängt ein Aufkleber, dass man Werbung und Anzeigenblätter nicht einwerfen darf. Der hängt am Gutshof leider nicht, deshalb muss sie dorthin.

Der Wind peitscht ihr ins Gesicht, der Schotterweg ist mit riesigen Pfützen übersät, sie kommt mit ihrer Karre nur mühsam voran. Irgendwann hält sie an, wischt sich mit klammen Fingern durchs nasse Gesicht, wippt auf ihren Chucks, die längst durchgeweicht sind. Bloß nicht den Stundenlohn ausrechnen, sagt sie sich, nicht nachrechnen, was mir das Austragen dieser einen beschissenen Zeitung bringt. Sonst kann ich mir sofort die Kugel geben.

Schließlich stellt sie die Karre am Wegrand ab, nimmt eine Zeitung heraus und macht sich ohne die blöde Karre auf den Weg. Um sich abzulenken, zählt sie ihre Schritte. Nur jeden zweiten: zwei, vier, sechs. Das macht sie auch bei anderen Gelegenheiten. Wenn ihr Vater ausrastet: Die Fliesen auf dem Boden zählen. Wenn der Unterricht nicht auszuhalten ist: Sekunden zählen. Total sinnlos, aber es hilft. Achtunddreißig, vierzig. Bei vierundneunzig ist sie am ersten Nebengebäude. Sie kommt von hinten, der Hauptweg geht über die Allee, da würde sie noch länger brauchen. Sie geht an der komischen Schreinerei vorbei, die in einem Nebengebäude untergebracht ist – alles tot, Wochenende. Bei zweihundertachtzig erreicht sie endlich das verdammte Haupthaus, in einigen Fenstern brennt gedämpftes Licht. Ihr läuft die Nase, sie bleibt stehen, wischt sich mit dem Jackenärmel durchs Gesicht, sieht, dass die Zeitung klitschnass geworden ist. Scheiße! Scheiße! Scheiße! Ihr kommen die Tränen, wie aus Trotz legt sie den Kopf in den Nacken und lässt den Regen aufs Gesicht prasseln, bis die Tränen weggespült sind – sowieso alles egal. Dann jedoch geht neben ihr im Fenster ein Licht an, sie tritt zurück, fühlt sich ertappt. Stolpert gleich noch ein paar Schritte zur Seite, erkennt aus der Entfernung eine orangefarbene Wand. Nein, nicht orange, ein sanfter, erdiger Farbton. Niemand erscheint am Fenster, sie traut sich etwas vor. Ihre Neugier ist geweckt, daher noch zwei vorsichtige Schritte. Von hier aus kann man ins Innere schauen. Das Wohnzimmer. Oder besser: ein Teil vom Wohnzimmer, dieser Raum geht in einen anderen über. Ganz hinten ein Ofen, ein schwarzer, gemütlicher Ofen, in dem ein Feuer brennt, daneben eine Bank mit ganz vielen Kissen. Die Wände in unterschiedlichen Farben. Eine in diesem karamellfarbenen Ton, eine andere in einem warmen Gelb, eine in Blau. Das Zimmer ist bunt und auch wieder nicht. Die Farbtöne harmonieren miteinander wie ein gutes Bild. Im hinteren Zimmer sitzen Personen an einem Tisch, offensichtlich zwei Frauen. Michelle kann nur die eine erkennen, die andere sitzt mit dem Rücken zu ihr. Sie scheint jünger zu sein, wahrscheinlich die erwachsene Tochter. Die beiden basteln etwas, die Ältere hat eine Schere in der Hand, aber keine normale Schere, eine Gartenschere. Sie haben Tannengrün vor sich, sie machen einen Adventskranz! Jetzt spricht die Frau jemanden an, Michelle erschrickt, denn sie schaut zu ihr herüber! Nein, doch nicht, das täuscht. Es ist nur so, hier im vorderen Teil des Zimmers ist eine weitere Person! Ein junger Typ liegt auf einem Sofa. Ein dunkelrotes Sofa, und er liest in einer Zeitschrift. Die Frau spricht immer noch mit ihm, aber Michelle kann nichts verstehen. Jetzt auf einmal lacht die Frau, lehnt sich nach hinten und lacht. Und die junge Frau genauso. Sie legt weg, was sie in den Händen hält, und schüttet sich aus vor Lachen. Und plötzlich spürt Michelle, dass sie mitlacht. Sie kennt diese Menschen nicht, sie versteht nicht, was sie sagen, aber die Atmosphäre in diesem Haus ist so warm und so frei und so schön, dass sie mitlachen muss. Verlegen fährt sie sich mit der Hand durchs Gesicht, als wolle sie das Lachen wegwischen oder zumindest betasten. In diesem Moment merkt sie, dass sie ihre Finger nicht mehr spürt. Sie sind eiskalt und unbeweglich. Sie sind nass und dunkelrot. Sie passen nicht zu dem Ofen im Innern, zu den lachenden Menschen, zu der Farbe der Wände. Sie passen bestenfalls zur triefnassen Zeitung und ihrer billigen Jacke. Abrupt dreht Michelle sich um. Sie muss endlich die verfickte Zeitung einwerfen.

______

Die Tochter war ein Sohn. Und das war noch nicht alles. Er war nadąsany, muffig, schlechtgelaunt. Und das Allerschlimmste: er nuschelte, Zofia hatte seinen Namen nicht richtig verstanden. Das einzige Wort, das sie sicher verstanden hatte, war Sohn gewesen. Und das war ein Schock. Wenn dieser oblech der Sohn war, dann musste sie immer wieder mit ihm sprechen – und würde immer wieder kein Wort verstehen!

Zofia hatte in den letzten Monaten alles getan, um Deutsch zu lernen, und man hatte ihr bescheinigt, dass sie das inzwischen gut konnte. Aber nun musste sie einsehen: Die Deutschen zu verstehen, war eine ganz andere Sache. Dieser Deutsche hier sprach kein bisschen wie die nette Stimme auf ihrer Lerncassette. Er sprach nicht mal wie die Leute im deutschen Fernsehen. Er sprach schnell und undeutlich. Und er sprach, als wäre es ihm furchtbar egal, ob sie ihn verstand. Klarer Fall von Nase hoch.

Jetzt gingen sie zu seinem Auto, das direkt vorm Bahnhof geparkt war. Ein sportliches Auto, das ganz bestimmt schnell fuhr. Dafür war es innen drinnen drin kein bisschen gepflegt. Auf dem Boden lag Papier herum, eine leere Dose, ein Stiel von einem Eis – und dann noch etwas. Zofia hielt den Atem an. Eine blaue Lampe, wie man sie auf dem Arztwagen hatte oder bei der Polizei. Dieser Mann war ein Polizist! Oder ein Arzt. Oder ein Betrüger! Jetzt sagte er wieder etwas, während Zofia ins Auto kletterte, und wieder verstand sie kein Wort.

Ihr Herz war inzwischen ganz klein geworden, aber dann nahm sie doch ihren ganzen Mut zusammen und sagte: „Entschuldigen Sie mich bitte vielmals sehr – ich verstehe Sie nicht!“

Der Sohn hatte gerade den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt, aber ihre Worte hielten ihn ab, das Auto zu starten. Er wandte sich um und starrte sie an mit seinen stechend grünen Augen, als würde er sich schon jetzt fragen, wie das klappen sollte mit seinem Vater und ihr. Sie schwitzte unter seinem Blick, denn sie wusste ja selbst nicht, wie das gehen sollte, wenn sie die Deutschen nicht verstand.

„Bitte“, schob sie noch hinterher und suchte krampfhaft nach weiteren Worten. „Bitte – etwas mehr langsam!“

Der Sohn atmete ebenfalls tief ein und dann sagte er langsam und sehr laut: „Mein Vater – ist noch nicht da. Noch nicht zu Hause. Wir könnten jetzt einkaufen fahren.“ Und als sie nicht sofort reagierte, wiederholte er noch lauter: „Einkaufen fahren!“

Zofia musste schlucken. Sie hätte sich gern frisch gemacht oder sogar ein wenig geschlafen, aber dann schob sie alle Wünsche beiseite.

„Sehr gerne“, sagte sie. Und um zu beweisen, dass sie ihn verstanden hatte: „Würde ich einkaufen fahren sehr gerne.“

Sie war froh, dass ihr jetzt die Grammatik wieder einfiel und noch froher war sie, dass er sie nicht mehr anstarrte, sondern stattdessen den Wagen startete.

Ihre Tante hatte ihr gesagt, dass es am Anfang schwer werden würde. Aber dass es so schwer werden würde, hatte Zofia nicht gedacht. Tief im Inneren hatte sie auf eine nette Tochter gehofft. Stattdessen nun dieser oblech, dieser Kotzbrocken, dem sie garantiert nichts recht machen konnte. Der da in seiner teuren Lederjacke saß, einer Lederjacke, die auf alt gemacht war, und der sich die Locken ins Gesicht hängen ließ, als wäre das cool.

Zofia zwang sich zum gleichmäßigen Atmen. Tatsächlich beruhigte sie sich nach einer Weile – so sehr, dass sie über einen neuen, korrekten Satz nachdenken konnte. Ehrlich gesagt war es ein Satz, den sie sich schon auf der Bahnfahrt ausgedacht hatte. Erneut nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und sagte: „Es ist sehr schön bei Ihnen in Sauerland.“

Der Sohn runzelte die Stirn, dann runzelte er den Bereich um die Lippen, was wie ein Grinsen aussah. „Das ist wohl Geschmackssache.“

Geschmack war ein Wort, das Zofia aus der Lektion Essen und Kochen kannte. Sie nahm sich vor, erst einmal nichts mehr zu sagen. Stattdessen warf sie einen Blick aus dem Fenster. Sie fuhren durch ein Städtchen mit kleinen Geschäften. Keine Secondhand-Läden. Diese Geschäfte hier waren bestimmt alle sehr teuer.

„Dies hier ist, wo Ihr Vater wohnt?“, fragte Zofia. Dann fiel ihr ein, dass sie eigentlich nichts mehr sagen wollte.

Der Sohn antwortete nicht sofort. „Nein, mein Vater wohnt auf dem Land“, sagte er dann. „Dies hier – ist die nächstgelegene Stadt.“

Er machte eine Handbewegung, um ihr zu zeigen, dass er diese Stadt meinte und nicht eine, die hundert Kilometer entfernt lag. „Hier kauft man ein, wenn man auf dem Dorf wohnt.“

Zofia war froh. Jetzt wo der Arzt-Polizist-Betrüger laut und langsam sprach, konnte sie das meiste verstehen.

„Eine sehr schöne Stadt“, sagte sie und bemerkte im selben Moment, wie oft sie schön sagte. Sie sollte mal ein anderes Wort nehmen. „Sehr ordentlich“, sagte sie deshalb.

Bei dem Sohn zuckte es wieder um den Mund herum. „Finde ich auch.“

Daraufhin beschloss Zofia zum zweiten Mal, nichts mehr zu sagen. Ins Gespräch kamen sie erst wieder, als sie mit einem Einkaufswagen bewaffnet den Supermarkt betraten.

„Im Haus ist nicht viel“, brüllte der Sohn. „Sie müssen alles neu anschaffen – alles neu kaufen.“

Zofia nickte mechanisch. Eigentlich brauchte sie jetzt ihre deutschen Rezepte, aber die lagen in ihrer Reisetasche. Jetzt musste sie gleich zu Anfang beweisen, dass sie eine gute Hausfrau war – auch wenn sie es in Wirklichkeit kein bisschen war.

„Was isst Ihr Vater am gernsten?“ Noch während sie es aussprach, zuckte sie zurück. Gernsten hörte sich nicht richtig an, irgendetwas stimmte da nicht.

„Am gernsten?“, fragte der Sohn und dachte nach. Zofia jubilierte – war also doch richtig.

„Ehrlich gesagt weiß ich das nicht.“

Sie standen jetzt beim Obst. Eine Millionen Äpfel strahlten sie an.

„Vielleicht Äpfeln?“, fragte Zofia.

„Äpfeln“, sagte der Sohn und dachte wieder nach. „Bei meinem Vater steht ein Apfelbaum im Garten. Er muss im Sommer ordentlich Äpfel getragen haben, aber ich habe keine Ahnung, wo die alle sind.“

Zofia war irritiert. Ordentliche Äpfel! Wollte der Sohn sich lustig machen über sie? Und mochte der alte Mann jetzt Äpfel oder nicht? Zofia entschied, dass der Sohn nicht zu gebrauchen war. Sie musste sich hier selbst durchwurschteln und hoffen, dass sie ein paar richtige Dinge erwischte. Energisch griff sie eine abgepackte Tüte mit Äpfeln. Bananen waren auch gut. Vielleicht hatte der alte Mann Probleme mit dem Kauen. Blumenkohl, Kartoffeln, Zwiebeln. Dann sah sie Lauch. Lauch war gut für Suppen, wenn sie das richtig im Kopf hatte. Lauch klang außerdem sehr professionell. Wenn man Lauch einkaufte, hatte man als Hausfrau die Sache im Griff. Sie nahm sechs Stangen, der Sohn schaute ein wenig überrascht. Offenbar hatte er sie nicht für eine gute Hausfrau gehalten. Warte ab!, dachte Zofia.

Es schlossen sich Kühlregale an, eine ganze Kühlregallandschaft. Die Deutschen mochten es offenbar kühl.

„Welchen Joghurt mag dein Vater gern essen?“ Zofia bemerkte den Fehler sofort. Nicht dein Vater, Ihr Vater.

Der Sohn zögerte nur minimal. „Keine Ahnung“, nuschelte er. „Aber meine Freundin mag den hier am gernsten.“

Er zeigte auf eine Palette mit knallbunten Joghurtbecherchen. Sie sahen wie Kinderjoghurts aus.

„Dann wir nehmen die.“

Zofia packte vier Stück ein. Die arme Freundin, fügte sie in Gedanken hinzu. Offenbar reichte den deutschen Frauen ein schnelles Auto. Auch wenn darin ein Kotzbrocken saß.

______

Anton war so aufgeregt, dass er es nicht länger im Auto aushielt. Der Taxifahrer war bereits zur Haustür gegangen, „schauen, wer so da war“. Anton wusste, wer da war: Thomas, sein Sohn. Schließlich stand sein Auto direkt vor der Tür. Vielleicht war aber auch seine Hilfskraft schon da – die Vorstellung machte ihn nervös. Die Angst, dass es nicht klappen könnte mit ihnen beiden, hatte ihn die letzten Nächte umgetrieben. Genauso wie die Sache mit Hannes ihn umgetrieben hatte. Da gab es nur eins: Auf in den Kampf!

Beim Aussteigen gab er sich alle Mühe. Er hatte in den letzten Tagen viel geübt. Immerhin, jetzt hatte er endlich beide Beine draußen, nun noch etwas drehen und dann in den Stand! Anton drückte sich mit der rechten Hand an der Rückenlehne hoch. Es kostete Kraft, außerdem stieß er mit dem Kopf an, aber wenn er es schaffte, etwas weiter nach vorn –

„Papa?“

Resigniert sank Anton zurück. Warum konnte man ihn nicht in Ruhe machen lassen?

Die Hände in einer abgenutzten Lederjacke stand Thomas neben dem Auto und sah ihn skeptisch an.

Einen Moment lang passierte gar nichts. Thomas sagte nichts. Anton sagte nichts.

„Ich nehm dann schon mal die Sachen hinten raus“, hörte Anton den Taxifahrer sagen. Dann ging hinten die Klappe auf.

„Soll ich dir beim Aussteigen helfen?“ Thomas zog jetzt die Hände aus der Jacke, nur um sich im nächsten Moment durch die Locken zu gehen.

Anton rutschte ein Stückchen nach vorn. „Ich möchte versuchen allein zurechtzukommen.“

„Verstehe, na dann –“ Thomas drehte ab. Anton seinerseits stemmte sich mit der Kraft seiner gesunden Seite hoch und kam tatsächlich in den Stand. Er umklammerte noch immer die Rückenlehne, aber – er stand! Freudig blickte er sich um. Suchte nach Thomas. Er war nirgends zu sehen.

Wer aber zu sehen war, war seine Hilfe. Sie kam zögernd vom Haus auf ihn zu. Natürlich hatte er vorher in den Bewerbungsbogen geschaut. Um genau zu sein, hatte er ihn an die fünfzig Mal gelesen. Das hier war Zofia Bartoirgendwas. Den Nachnamen konnte er nicht aussprechen. Er fing einigermaßen normal an – Barto, aber dann kam die typisch polnische Mischung von Buchstaben, die nicht zusammenpassten: z – s – w und am Ende natürlich ein i. Anton hatte irgendwann aufgegeben, den Namen zu lernen – er hoffte, dass er Frau Zofia sagen durfte. Deshalb hatte er fleißig geübt, vorne das Z zu sprechen, das war schließlich im Deutschen nicht üblich.

Zofia Barto-irgendwas kam näher und lächelte freundlich. Im Bogen hatte gestanden, sie sei Anfang dreißig, und Anton hatte insgeheim befürchtet, dass sie auf Abenteuer aus war. Da durfte sie in seinem Dorf nicht viel erwarten. Die echte Zofia Barto-irgendwas sah allerdings nicht aus, als sei sie auf Abenteuer aus. Nicht, dass sie nicht hübsch gewesen wäre. Nicht, dass sie nicht eine weibliche Figur gehabt hätte. Aber ihr kurzes braunes Haar, ihre riesengroßen Augen und ihre rundlichen Bäckchen verliehen ihr etwas so Jugendliches, dass man sich eher fragte, ob sie gleich auf einem Mofa davonbrausen würde.

„Guten Tag“, sie kam noch näher heran und streckte die Hand aus.

Anton mochte die Rückenlehne nicht loslassen, unhöflich wollte er aber auch nicht sein.

„Guten Tag“, sagte er deshalb und bemühte sich, seinen kranken Arm in ihre Richtung zu schicken. Die Polin bemerkte das und griff nach seiner Linken. Er spürte ihre Hand in seiner und wusste nicht, worüber er sich mehr freuen sollte: darüber, dass seine kranke Hand etwas spürte, oder darüber, dass er ein gutes Gefühl hatte, was Frau Zofia anging.

„Habe ich gesehen Ihre Aussteig aus den Auto“, sagte sie jetzt. „Sind Sie eine gute Sportler!“

Anton musste lächeln. Das hatte ihm lange keiner gesagt.

„Aber jetzt wir sollten gehen zum Haus, sonst wird kalt.“ Sie bot ihm ihre rechte Seite, und er hakte sich mit der schlappen Linken ein, ohne mit der anderen die Rückenlehne loszulassen. Frau Zofia war fest und stark und griff nach seiner Hand, um ihn noch besser halten zu können.

„Geht gut“, sagte sie und wartete auf seinen ersten richtigen Schritt.

Anton war davon keineswegs überzeugt. Dann aber ließ er los und tatsächlich – er ging! – ein Glücksgefühl überkam ihn!

„Habe ich gedacht, Sie können nicht laufen“, begeisterte sich die Polin an seiner Seite. „Aber sind Sie Weltmeister in Laufen. So können wir gehen überall hin.“

„Das müssen wir auch“, brachte Anton außer Atem heraus. „Das müssen wir für meinen Freund Hannes.“

„Hannes?“, wiederholte die Polin und sah ihn von der Seite aufmerksam an.

Anton nickte. „Dazu kommen wir später.“

______

Thomas sah sich um – fast alles geregelt. Vom Sanitätshaus war ein Rollstuhl geliefert worden, von der Apotheke Medikamente. Sabine hatte vor ihrer Abreise alles telefonisch organisiert, sie war auf Zack, da gab es nichts. Jetzt mussten nur noch die Tabletten in Tagesportionierer einsortiert werden. Als sein Vater das mitbekam, orderte er alles zu sich: „Das mache ich selbst.“

Die Polin hatte ihr Zimmer bezogen, sie schien ganz begeistert, dass sie eine Etage für sich hatte. Sogar am Bücherregal hatte sie sich zu schaffen gemacht. Offenbar waren kindliche Detektivgeschichten die passende Lektüre für sie. Thomas hatte sich die Bemerkung verkniffen, dass es sein Zimmer war, das sie da in Beschlag nahm.

Nach kurzer Zeit allerdings war die Polin unruhig geworden. Wenn der Vater unten schliefe, hatte sie gemeint, könne sie ihn dann nachts überhaupt hören, wenn etwas wäre?

„Der macht sich schon bemerkbar“, hatte Thomas gemeint.

Sie war bereits einmal mit ihm zur Toilette gegangen, und da er weder Gezeter von Seiten seines Vaters noch Hilferufe von der Polin gehört hatte, schien das einigermaßen glattgelaufen zu sein. Die Lebensmittel waren verstaut – Zeit für den Abflug.

Sein Vater saß im Esszimmer und ordnete irgendwelche Papiere, während die Polin in der Küche mit dem Mittagessen herumwerkelte.

„Papa“, versuchte es Thomas. Sein Vater blickte hoch. Er hatte noch erstaunlich volles Haar, komplett weiß, aber wellig und dicht. „Ich würde dann jetzt wieder verschwinden.“

„Natürlich“, sein Vater lehnte sich zurück. „Allerdings möchte ich vorher noch etwas mit dir besprechen. Schließt du bitte die Tür?“

Was kam jetzt? War ihm seine Polin nicht recht? Oder war es wegen Hannes? Thomas schloss die Tür und setzte sich seinem Vater gegenüber. Die Situation missfiel ihm, es hatte etwas von Antreten. Trotzig verschränkte er die Arme und versuchte sich nicht beeindrucken zu lassen.

„Es ist wegen Hannes.“

Aha, Treffer versenkt.

„Du hast bestimmt gehört, was da passiert sein soll.“

Thomas versuchte sich zu entspannen. Sein Vater war ein alter Mann, er hatte Schlimmes erlebt, man sollte nett zu ihm sein. Vor allem, wenn man in fünf Minuten sowieso aus dem Haus war.

„Hab ich“, antwortete Thomas in sachlichem Ton. „Sabine hat erzählt, dass Hannes seine Betreuerin erstochen haben soll.“

Sein Vater faltete die Hände. Nein, er faltete sie nicht, er nahm mit der rechten die linke in die Hand. Es sah etwas unbeholfen aus. „So hat sie es mir auch erzählt, aber ich glaube das nicht.“

„Was glaubst du denn?“

Sein Vater war sehr konzentriert. Man wurde den Eindruck nicht los, dass er sich auf dieses Gespräch gut vorbereitet hatte.

„Ich glaube, dass Hannes seine Pflegerin nicht erstochen hat. Wer das stattdessen getan hat, dazu kann ich nichts sagen.“

Thomas lehnte sich zurück. Das war sein Vater! Der Ortsvorsteher. Der Unternehmer. Das Familienoberhaupt. Klare Ansage.

Er hätte seinem Vater am liebsten eine Standpauke gehalten. Das Problem war nur: Er konnte ihn verstehen! Thomas hatte auch gestutzt, als Sabine ihm die Sache erzählt hatte. Die Vorstellung, dass Hannes – eine Seele von Mensch – nachts aufgestanden war, um seine Pflegerin zu erstechen, war ihm absurd vorgekommen. Andererseits kannte er sich medizinisch zu wenig aus. Und deshalb hielt er sich mit einem Urteil zurück.

„Sabine sagt, die Beweislage sei recht eindeutig“, sagte er vorsichtig. „Niemand anderes im Haus, keine Einbruchspuren, Hannes neben der Toten, die Tatwaffe nahbei.“

Sein Vater nahm sich Zeit für eine Antwort und betrachtete dabei seine Hände. „Ich finde die Beweislage zu eindeutig“, sagte er schließlich. „Einem Demenzkranken kann man alles Mögliche anhängen.“

Thomas streckte die Beine aus. „Aber warum sollte jemand Hannes etwas anhängen wollen?“

„Es ging nicht um Hannes“, sagte sein Vater bestimmt. „Es ging darum, die Polin zu ermorden. Und diesen Mord dann Hannes in die Schuhe zu schieben.“

Thomas rieb sich das Gesicht. Er hätte jetzt sagen können, was Sabine vorgebracht hatte. Dass Demenzkranke häufig aggressiv wurden. Dass sie Psychopharmaka nahmen, deren Nebenwirkungen manchmal unberechenbar waren. Er konnte es aber auch lassen.

„Meinst du nicht, dass meine Kollegen diesen Fall in Betracht gezogen haben?“, versuchte er es.

Sein Vater holte tief Luft. „Ich weiß es nicht. Vielleicht. Und deshalb möchte ich dich bitten, Einsicht in die Akten zu nehmen, um das zu prüfen. Das dürfte doch für dich kein Problem sein.“

Thomas konnte ein Schnauben nicht unterdrücken. Das war nun wirklich ganz und gar sein Vater! Mal eben Einsicht in die Akten nehmen! Am besten brachte er die Sachen mit her, damit Anton Wieneke sie persönlich durchsehen konnte. Vorausgesetzt, das Medikamentesortieren ließ ihm ausreichend Zeit!

„Aber du weißt schon, dass ich in Bielefeld arbeite?“, versuchte er ihn auf den Teppich zu holen. „Im Drogendezernat?“

„Natürlich weiß ich das, aber du wirst doch deine Kollegen in Dortmund kennen. Man hilft sich doch aus!“

Thomas musste grinsen. Was sich da offenbarte, war dörfliche Denke par excellence. Wenn man eine Spaltmaschine brauchte, fragte man eben den Nachbarn.

„Du stellst dir das einfacher vor, als es ist.“

„Vielleicht“, sagte sein Vater kleinlaut, was nichts anderes hieß, als dass er sich verdammt gut auf dieses Gespräch vorbereitet hatte. „Aber kannst du es nicht wenigstens versuchen?“

Thomas atmete tief durch und wog ab, welche Antwort jetzt klug war. „Mal sehen, ob ich dazu komme“, sagte er schließlich und beendete das Gespräch, indem er einfach aufstand. „Da hilft es, wenn ich nicht unnötig Zeit verplempere.“

______

Zofia hatte sich für Bratkartoffeln und Spiegelei entschieden. Ein einfaches Essen ohne Lauch. Sie hoffte, dass das okay war, aber heute zum Einstieg war ja sowieso alles ein bisschen speziell. Der alte Mann zumindest hatte freudig genickt, als sie das vorgeschlagen hatte. „Bratkartoffeln an Spiegeleier“, hatte sie gesagt. So oder so ähnlich hatte es in ihrer Deutschlektion zum Thema Essen und Kochen gestanden. Sie hatte die Vokabeln ausgiebig gepaukt.

Die beiden Männer hatten sich zurückgezogen, offenbar hatten sie etwas zu besprechen. Jetzt aber sah sie sie in den Flur treten, erst den Sohn mit dem Autoschlüssel in der Hand, kurz darauf den alten Mann, der umständlich mit seinem Rollator um die Ecke bog.

Der Sohn blieb an der offenen Küchentür stehen. „Soo“, sagte er. Offenbar war soo eine mögliche Einleitung, wenn man sich in Deutschland verabschieden wollte. Zofia suchte indes selbst nach den richtigen Worten. Sie musste dringend noch etwas klären.

„Entschuldigen Sie mich bitte sehr“, begann sie, das war eine Wendung, die sie bis zum Abwinken geübt hatte, sie schien eigentlich immer zu passen. „Stelle ich mir noch eine Frage: Gibt das Haus ein Internet her?“

Der Sohn stutzte. „Internet? Bislang hat das hier niemand benutzt.“

Zofia schluckte. Kein Internet! In der Agentur hatte man ihr gesagt, dass es hier Internet gab.

„Es gibt natürlich ein Telefon, drüben im Wohnzimmer“, der Sohn zeigte hinüber, als hätte sie noch nicht verstanden, wo das Wohnzimmer war. „Aber Internet ...“

Zofia schrappte in den Bratkartoffeln herum. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen. „Hat Agentur nicht gesagt, dass Internet wichtig?“

„Da muss ich meine Schwester fragen. Sie ist geschäftlich für ihre Firma unterwegs, aber angeblich erreichbar.“ Der Sohn zog sein Handy aus der Tasche und quetschte sich an seinem Vater vorbei. Der wirkte irritiert. „Gibt es Probleme?“

„Nein, keine Probleme“, sagte Zofia, „nur Frage – ist kein Internet da.“

„Internet“, wiederholte der alte Mann betreten, „das ist wahrscheinlich wichtig für Sie?“

„Ist für Telefonieren“, erklärte Zofia. „Skypen“, schob sie hinterher, auch wenn der alte Mann damit vermutlich nichts anfangen konnte. „Habe ich Kontakt nach Polen mit Internet.“

„Und mein Sohn hat sich nicht darum gekümmert?“, der alte Mann sah sich unwillig um. „Sie können natürlich telefonieren, aber das wäre dann ein teures Auslandsgespräch.“

Zofia schabte weiter in den Bratkartoffeln herum. Sie waren inzwischen ziemlich bröselig geworden.

„Hallo?“ Der Sohn rief. Zofia legte den Holzlöffel ab und schob sich am alten Mann vorbei in den Flur. „Meine Schwester sagt, ein Internetanschluss ist beantragt und wird zeitnah freigeschaltet. Wir müssen dann nur noch einen Router installieren.“

Zofia konzentrierte sich. Der Sohn hatte sehr schnell gesprochen. Beantragt und Router und freischalt. Was musste sie tun?

„Entschuldigen Sie mich bitte sehr“, begann sie. „Was muss ich – freischalt?“

Der Sohn zögerte, als wäre sie nicht ganz bei Trost.

„Schon gut“, sagte er dann, langsamer jetzt. „Internet – kommt – bald.“ Dann sagte er noch etwas. Vielleicht entschuldigte er sich, denn er sagte etwas von Entschuldigung, aber richtig nett sagte er es nicht. Zofia konnte nicht länger abwarten. Aus der Küche roch es verbrannt.

______

Thomas überprüfte noch, ob der Fernseher funktionierte. Lief. Außerdem testete er die Waschmaschine im Keller. Ebenfalls in Ordnung. Mehr konnte er beim besten Willen nicht tun. Doch erstaunlicherweise – so sehr er den ganzen Tag weggewollt hatte – nun fiel ihm der Aufbruch plötzlich schwer. Zum ersten Mal spürte er, dass er Verantwortung hatte. Mit Sabine war nicht zu rechnen. Sie war für ihre Firma in Schweden, mindestens noch eine Woche. Sein Vater war alt und klapprig. Alleine kriegte er nicht viel auf die Reihe. Diese Polin war jung und unerfahren. Gerade eben war ihr das Essen angebrannt. Sie würde Fragen haben, vielleicht schon heute Abend, spätestens morgen. Wie ging das mit dem Müll? Was, wenn eine Sicherung raussprang? Und wo rief sie an, wenn sein Vater einen zweiten Schlaganfall bekam?

Thomas notierte 112 auf einem Zettel, schrieb Notfall daneben und hängte den Zettel an den Schrank in der Küche. Dann nahm er ihn wieder ab und schrieb seine eigene Handynummer mit auf den Zettel.

Die Polin entsorgte gerade einen Teil der Bratkartoffeln im Müll. Sie sah abgekämpft aus.

„Soo“, sagte er.

Die Polin blickte hoch. „Entschuldigen Sie mich bitte sehr“, sagte sie. „Will ich mit dem Internet nicht viel Arbeit machen. Ich habe schon einen SMS nach Polen geschickt, dass ich gut angereist bin. Ist nicht eilig, das Internet. Es ist nur, diesen SMS sind mit meinen Handy sehr teuer –“

„Der Internetanschluss ist sowieso beantragt“, erklärte er, „und bitte, entschuldigen Sie sich nicht dauernd.“

Die Polin sah ihn fragend an.

Entschuldigen Sie mich bitte sehr!“, rief er. „Es ist nicht nötig, das dauernd zu sagen. Sie machen Ihren Job, Sie haben Fragen, das ist völlig normal. Haben Sie verstanden?“

Sie hatte verstanden, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Er biss sich auf die Lippen. Das war unnötig gewesen, Mist! Sie kümmerte sich um seinen Vater, sie war wahrscheinlich seit Ewigkeiten auf den Beinen, und jetzt mühte sie sich ab, um es allen recht zu machen.

„Entschuldigen Sie bitte!“, brachte er heraus.

„Nichts Entschuldigen Sie bitte!“, fauchte sie ihn an. „Nicht nötig, dauernd das zu sagen.“ Dann schimpfte sie etwas auf Polnisch – oblech und so weiter. Nur ein deutsches Wort war dazwischen – soo.

Mist, dachte er erneut. Dann verließ er das Haus.

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Da endlich zeigte sie sich! Er hatte eine ganze Stunde am Waldrand ausgeharrt, um sie zu sehen, fast die ganze Zeit in derselben Stellung. Jetzt wurde sein Warten belohnt. Da war sie, im oberen Zimmer, und blickte aus dem Fenster. Sie konnte ihn nicht sehen, da war er ganz sicher, er war sehr gut versteckt. Und er selbst sah sie ja auch nur mit seinem Fernglas. Ein Zeiss-Gerät, Spitzenqualität, 10 X 42.

Im Dorf hatte man von ihrem Kommen erzählt und da stand sie jetzt und schaute hinaus. Sie sah müde aus, das erkannte er durch seine Gläser, vielleicht wollte sie einen Mittagsschlaf machen. Sie hatte Ränder unter den Augen, aber sie war schön und sie wirkte nett. Er würde öfter herkommen, das wusste er jetzt. Er würde öfter herkommen, ganz sicher.

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Zofia fuhr mit einem Ruck hoch. Was war das für ein Geräusch? Und warum roch es hier anders? Eine Sekunde später wusste sie, wo sie sich befand. Dann der nächste Schreck: Wie spät war es? Sie warf einen Blick auf ihr Handy, es war aus, der Akku leer, deswegen hatte der Wecker nicht gesurrt. Hektisch kramte sie nach ihrer Armbanduhr, die sie beim Kochen in die Hosentasche gesteckt hatte. O rany, fast 17 Uhr!

„Zeit für einen Mittagsschlaf“, hatte der alte Mann nach dem Essen gesagt. Aber bestimmt hatte er nicht an drei Stunden gedacht! Zofia sprang in ihre Jeans. Warum hatte der alte Mann nicht gerufen? War etwas passiert? Dringend hätte sie eine Dusche gebraucht, stattdessen zog sie den Pulli über, den sie die ganze Nacht über angehabt hatte, und stürzte auf den Flur.