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Reinshagen, Gerlind

nachts

Suhrkamp Verlag

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

eISBN 978-3-518-76680-4

www.suhrkamp.de

 

There is another Loneliness

That many die without –

Not want of friend occasions it

Or circumstance of Lot

 

But nature, sometimes, sometimes thought

And whoso it befall

Is richer than could be revealed

By mortal numeral –

Emily Dickinson

1

 

DIE MENSCHEN REDEN UND REDEN . . . Unangefochten. Unaufhörlich. Indezent. Zeitalter der Beredsamkeit. Worauf will es hinaus? Von der ganz gewöhnlichen Zerstreuung zur Erläuterung, Verdeutlichung; jedermann wünscht, sich zu erklären.

Der Mensch, der ewige Bildermacher, entwirft, kaum daß er auf zwei Beinen stehen kann, sich selbst zu einem größeren Gemälde als dem, das er im Spiegel sieht; so verlängert sich das Gespräch.

Eine Frau, nachts in ihrer Küche allein, möchte sprechen, wählt eine Nummer, verwählt sich, entschuldigt sich wortreich.

Ein Mann, vom langen Arbeitstag zermürbt, doch noch nicht gänzlich erschöpft, noch nicht verstummt, nimmts auf die leichte Schulter und lacht – kleines Geplänkel hin und her, und schon . . . finden sie nicht mehr auseinander. Sprechen von Stund an Nacht für Nacht; das heißt: einer spricht, der andere hört zu. Auf Antworten legen sie keinen Wert.

 

Ja, so begann es. Ich sprach, sie hielt ihre Worte im Zaum. So ging es bis heute, nächtelang. Und wollte nicht enden am Tage, im Kopf.

Fanden wir nicht mehr zu uns zurück? Ich meine: jeder zu sich allein? Bin auch ich schon einer von diesen, den Rednern, Erklärern, Verdeutlichern?

Da sei Gott vor! Oder der Teufel! Lächerlich!

 

 

Erzählen Sie mir Ihr Leben, sagte sie, und ich dachte: Du liebe Zeit. Wie denn, woher denn, fragte ich, mein ganzes langes, oder mein halbes Leben, oder nur das beste Stück davon? Da mußten wir lachen, und so verblieb es.

Doch im Grunde, wenn ichs noch mal im nachhinein denke, wars mir gleich auf der Stelle klar, daß ich es liebend gern erzählen wollte, mein Leben mit allen Schlaglöchern, Fallgruben, An- und Abwürfen, doch aber den Großartigkeiten auch, den unbeschreibbaren, so wie ichs früher, als Junge, versucht hab, bei Freunden, Bekannten, Wildfremden manchmal – was eben greifbar war –, so als wärs möglich, als gäbs das tatsächlich noch in der Welt, ein einziges Geschöpf, das aufhorcht und zuhört und stillehält und – ohne mit den Augen abzuirren – sich anhört, was du zu sagen hast. Das dir gewissenhaft folgt, aufmerksam, begierig, womöglich . . . atemlos? Das war bei einem unserer ersten nächtlichen Gespräche. Doch wer kann schon sein Leben erzählen, ohne zu schwindeln?

Nein, sagte sie, niemand, glaube ich, schafft es. Es sei denn, man kennt sich nicht. Muß keinem Menschen in die Augen sehn beim Sprechen . . .

So wie wir beide, sagte ich, die sich nur hören, aber nicht sehen wollen. Wie wir zwei Verrückten. Erinnern Sie sich?

Nein, sagte sie. Ich erinnere nichts. Nein, mein Herr Unbekannt. Nur eben den Satz, diesen seltsamen: Sind wir denn verrückt? Das hörte sie nicht gern. Als hätte ichs ernst gemeint. Wollte das Wort nicht. Verstand sie mich? Oder verstand sie nichts? Sie schien geschickt im Umgang mit Leuten, hielt aber sich und ihr Leben geheim. Dann plötzlich, mit einem Wörtchen, einem Gelächter, traf sie ins Schwarze. Und das Unternehmen begann.

 

Erzählen Sie aus Ihrem Leben, sagten Sie kürzlich, und dieses aus ist heute nacht mein Glück. Aus dem Leben erzählen bedeutet soviel wie nichts. Du hast freie Wahl, bleibst schön unverbindlich, springst vor und zurück, von hier nach da, bringst dich aufs günstigste heraus . . .

Also werd ich Ihnen nur das Interessanteste berichten aus der sonst ziemlich öden Praxis eines Feld-, Wald- und Wiesenarztes, nur ein paar Merkwürdigkeiten aus meinem Leben, das – verglichen mit dem Ihren – nun schon reichlich lange angedauert hat. Ein paar Wichtigkeiten und basta!

Aber gab es Wichtigkeiten?

 

Ich wurde geboren, acht Jahre bevor der letzte Krieg begann, und kam zu Verstand etwa im dritten Jahr nach dem Endsieg. Die Zeit dazwischen liegt als eine schwere schwarze Decke über meinem Kopf, denn in der kleinen Stadt, in der ich aufwuchs, beherrschte diese Farbe alles: Die Zeitungen am Morgen waren schwarz von eisernen Kreuzen auf Todesanzeigen. Die Kleider der Frauen, die kleinen Schleier vor ihren Gesichtern, so schwarz wie die Nächte, denn die Laternen blieben ausgeschaltet; wir Kinder schlichen leise durch die düsteren Straßen, doch die feindlichen Bomber fanden uns trotzdem.

Ich aber . . . nun, eigentlich wollte ich Landarzt werden. Weiß der Himmel, welcher Film oder Schmöker mir das vorgegaukelt hatte: eine Existenz in Freiheit, selbstbestimmt und unabhängig.

Sah mich da über Felder reiten, täglich von Hütte zu Hütte, Herr über viele Leben, viele Dörfer; der Doktor, der, jenseits aller Schulweisheit, für jeden armen Schlucker eine eigene Therapie erschafft. Der mittels genialer Erfindungen dem Alter beikommt und selbst dem Tod, der beiden ihre Zeit zuweist; ja, der das Alter überhaupt abschafft!

Hat es nicht sollen sein? Der Traum vom eigenen Pferd zerrann. Der von der unerhörten medizinischen Entdeckung. Bin dann ziemlich lange noch zu Fuß gegangen nach dem Krieg. Spät erst im alten unheizbaren Kabrio durch zerbombte Vorstadtstraßen geholpert, auf Umwegen über Stock und Stein. Kaum je ein Ziel rechtzeitig erreicht. Sehn Sie, das war mein Schicksal: die Trümmer, der Holzweg . . . die Lebensverspätung. Der Krieg schafft Träume. Der Nachkrieg weiß nichts mehr davon. Habs immerhin hierher, in diese unsere Stadt geschafft.

 

 

Hören Sie zu? Ich meine: interessiert es Sie? Können Sie folgen?

 

Schwer, schwer, mein Herr hinter den sieben Bergen, mit meinem langsamen Verstand. Kanns aber nicht anders. So sagts mir der Lehrer, kaum daß ich lesen konnte, schon in der Schule: Wärst du schneller, Kind, du könntest meine Beste sein! Blieb doch immer die Letzte. Macht aber nichts! Reden Sie nur, wenn Sie reden müssen.

 

Ach, junge Frau, was heißt hier: müssen? Sind wir nicht frei, zu sprechen, wie und was wir wollen?

Haben wir nicht die Wahl? Wo war ich stehengeblieben?

 

Beim »Immerhin«.

 

Immerhin! Sie hören gut zu! Verdammt gut, wie es scheint. Ich sollte solche Worte nicht gebrauchen. Ein Immerhin verklebt dir schon im Augenblick, da du es aussprichst, die Begriffe: die Absicht und ihr Gegenteil. Den Plan und sein Scheitern. Du siehst von allem Anfang an die Dinge doppelt; ein regelrechtes Kleisterwort, das Immerhin! Bin immerhin ein Landarzt in der Stadt geworden, sozusagen. Aber – hören Sie – doch auch wieder nicht in der Stadt. Was soll ich Großartiges erzählen von diesem schwer versehrten Trümmerviertel, das sich im Frieden nur langsam erholte, dann allerdings fürchterlich. Das sich zu einem der häßlichsten Stadtteile auswuchs, mit nichts als Plattenbauten, Supermärkten, Drogenkellern, mit Pornoshops und Bordellen, alles billig, billig . . . Bedaure, Ihnen nur ein ebensolches Leben präsentieren zu können: billig, ereignislos und stets am Rande der Erschöpfung. Ein Dasein ohne Höhepunkte, denn selbst die Hirngespinste meiner Jugendjahre, die spärlichen Liebeserschütterungen, liefen damals, zu unserer Zeit, verborgener, nein, leiser, nein, unterirdischer ab. Oder sollte ich sagen: geheimnisvoller? Doch selbst über so ein Wort würden Sie vermutlich heutzutage lachen.

Herrgott, was red ich? Sie sind jung und möchten unterhalten werden! Sie sind etwa halb so alt wie ich – oder ein wenig, eine Spur darüber? –, ich hörs an der Stimme, an dieser kleinen, angerauhten Stimme, und ich . . . ich komme Ihnen mit Schicksalsproblemen! Sie wünschen es sich amüsant, nicht wahr, wenn Sie schon wachbleiben in der Nacht, ein wenig Ablenkung, Trubel, Nonsens zur Geisterstunde!

 

Kennen Sie mich denn? Wie wollen Sie wissen, was ich mir wünsche? Wo ichs selber nicht weiß! Nie je weiß, was ich will und wie weiter und wo hinaus – Ich bin die Flickschneiderin, sehen Sie! Was ich zu hören krieg, lieber Mann! Was mir unterkommt, täglich: Schiefe und Krumme, Verwachsene oft, Junge und Alte, Schweißfüße manchmal, was rumläuft: verzweifelt, verkorkst; existiert und will reden, und ich hörs mir an! Muß hören und schweigen und runterschlucken; bin die, die alles auf die Reihe bringen soll: die Jacke, die Hose, das Kleid, die Frau! Solls richten, ausrichten, aufrichten wieder, da sinds bald zu viele, da kommst du nicht nach . . . und alle Welt spricht, nicht wie du denkst, daß sie sprechen könnte, sondern wies jedem einfällt im Augenblick. Auch wenn ich Ihnen, Doktor, nicht das Wasser reichen kann mit Ihrem Titel und Ihrem Namen, oder die Antwort nicht weiß . . . ich kann ja doch hören, immerhin. So scheint es schließlich eingerichtet in der Welt: Einer muß sprechen, der andere zuhören, damit es kein Unglück gibt.

Also erzählen Sie von Ihrem Holzweg. Könnte ja sein, womöglich . . . ist es trotz allem zum . . . Lachen.

 

Sagte ich Holzweg? Nun gut. Warum nicht? Auch ich hab schließlich einiges begriffen von der Welt. Sie haben recht: Die lustigen Geschichten sind vorbei. Und was Sie in Wahrheit wissen wollen, was Sie ergründen wollen, junge Frau, ist – ja, was?

Ein wenig Schimpf und Schande, nicht wahr?

Die peinlichsten Epochen meines Lebens. Das Scheitern des Helden. Das Schlußkapitel allein interessiert Sie, wie alle! Das Lebensdesaster. Der Crash!

 

Bin ich alle?

 

Pardon! Wollte sagen: wie alle Jungen heutzutage. Das ist merkwürdig, nicht wahr? Das Geschnüffel in anderer Leuts Schicksalsresten. Und es sind fast ausschließlich die Jungen, die danach fragen, oder richtiger: die Noch-nicht-Alten. Ich spreche aus Erfahrung:

All diese kerngesunden jungen Götter, sie kommen – was kostet die Welt – mit nichts als einem Kratzer in die Praxis, einem glasklaren Beinbruch; ich schiene den Knochen, ich schreib ein Rezept, sie sind mir dankbar für nichts, oder einfach dafür, daß da einer ist, der sie wahrnimmt – sie ganz speziell –, der ihnen ihre Zukunft deutet, die selbstverständlich einzigartig sein wird; da wollen sie gleich noch etwas fragen, ich will etwas sagen, man schwatzt noch ein wenig in der Tür, doch für heute wirds nichts, wir halten uns höflich im Allgemeinen.

Doch abends, wenn wir im Biereck zusammensitzen, was längst Tradition hat hier herum, beenden wir die Therapie. Dann findet die Nachbehandlung statt. Das allnächtliche Simulieren. Das Spekulieren. Entwerfen. Das Bildermachen. Es muß schön dunkel sein. Und verqualmt wie das Biereck. Denn kein Platz in der Stadt könnte geeigneter sein, wo stets ein bierdunstgeschwängerter Nebel die Lampen trübt, der sich auf die Lungen legt und die Augen und doch diese tröstliche Düsternis schafft, wie sie an jedem dieser heiligen Orte unseres Viertels herrscht. Am tiefsten Grunde dieser schwarzen Löcher, in die es uns unwiderstehlich hineinzieht.

Hier, im kreisrunden Geschwätz der Nacht, wo sich die Gedankenwege der Trinker kreuzen – die steilen, wildverwachsenen der Jungen mit den sorgsam geharkten der Alten –, hier geht es zur Sache; hier enden die Geschichten nicht wie die Märchen unserer Großväter mit Hochzeitsmusik und Happy-End, sondern ausnahmslos auf dem gefährlichsten Terrain: am Rand von Steilhängen, in verlassenen Parkhäusern, in der schärfstmöglichen Endkurve. Hier würden auch Sie auf Ihre Kosten kommen. Ah, all die spektakulären Geschichten!

Was Wunder übrigens, da es mir schon am Nachmittag bei meinen Hausbesuchen auf jedem Treppenabsatz, aus jeder Wohnungstür entgegenschallt: ein Krachen, Heulen und Geknatter, die Detonation von Mordinstrumenten; und während in der Abstellkammer nebenan ein Alter ganz leise, ganz diskret sein Leben ausröchelt, wirds gleich im Wohnzimmer vom Bildschirm überdröhnt; ich hör das Lied, das jeder hören will, das meine Jungen fürchten, aber doch erwarten, was ihr scheinbar alle miteinander braucht: das alte, alte Lied vom Tod! Die Vorabendleiche!

Warum?

Um sich den Tagesjammer aus dem Hirn zu fegen? Der Langenweile Paroli zu bieten? Um sich die echten Träume freizuhalten?

So ist es doch, so wollt ihrs haben, auch Sie, nicht wahr?

 

Wenn Sie es so sagen, mein Herr . . .

 

Und wenn Sie es so möchten . . .

 

Und wenn Sie denken, daß ichs wollte, Herr . . .

 

 

Es ist sehr seltsam, wissen Sie, dieses makabre Interesse. Oder sollte ich sagen: die Gier? Und woher kommt es bei euch Friedenskindern?

Der Tod, ach der Tod, junge Frau, was soll ich Ihnen davon erzählen? Und welchen meinen Sie überhaupt? Wir, die glaubten, ihm als Kinder im Kriegsspiel entwischt zu sein – haben wir ihn denn gekannt? Zwar hörten wir tagtäglich von ihm, er war unser Bruder, ein leider mißratener, der draußen in der Welt sein Unwesen trieb; die Erwachsenen sprachen nur flüsternd davon, nur hinter der Hand, wie mit schlechtem Gewissen sprachen sie; so wurde er uns interessant.

Der Tod war ein blinder Boxer, der tat, was ihm paßte. So schlug er zu im Krieg, millionenfach, planlos, gewissenlos, ließ Witwen und Waisen zurück; er war so unberechenbar und listenreich, daß niemand ihn zu fassen bekam. Alle Kinder fürchteten . . . und bewunderten ihn. Aus Märchenbüchern wußten wir jedoch, daß mancher Schlaukopf mit etwas Glück ihm dennoch beigekommen war – alle Märchen sind so –, also warteten wir auf unseren Tag!

Denn seine Opfer sahen wir nicht. Die lagen weit entfernt, in der Tundra vielleicht, auf den Feldern der Ehre; wir dachten sie, einen am anderen, schön bekränzt, denn nie je – auf keinem Foto, in keiner Zeitung – war einer zu sehn, einsam, auf einem Schneefeld verblutend wie unser Vater, nie einer mit Kopfschuß, mit offenem Bauch . . . Nein, meine junge, allzu junge Zuhörerin, der Tod war uns Kindern kein Problem. Eine Märchenfigur war der Tod, und wie die Märchen vergaßen wir ihn; so leise, so schmerzlos verschwinden die Bilder.

Das alles, schaun Sie, ein längst erledigtes Kapitel, das nicht einmal im Traum noch eine Rolle spielt. Ein Kasperlspiel für einen Menschen meiner Profession. Wenn Sie verstehen, wie ich es meine? Ich meine: