San Franzisko 1906

von Konrad Kölbl

 

Inhalt

Der „Traurige“

In San Franzisko

Der „Mandarin“

Mary Dunkley

Die Schlacht an der Barbaren-Küste

Inferno

In San Franzisko

Wie scharf umrissene, noch halb in Dämmergrau gehüllte Silhouetten erhoben sich die Türme der großen Kathedrale, der Ignatius- und St.-Franziskus-Kirche, zwischen den weitgeschwungenen Straßenketten, die wie breite Bänder die Riesenstadt durchzogen, aus der unübersehbaren grauen Masse des Häusermeeres.

Es war am 16. April des Jahres 1906 um die fünfte Morgenstunde. Der kalifornische Frühlingsmorgen war wunderschön. Am Firmament verblasste das leuchtende Glitzern der Sterne. Schon zogen unwirklich langsam die ersten Küstendampfer durch die sanfte Dünung der San-Franzisko-Bai. An der Reling der Fahrzeuge drängten sich die Menschenscharen, die darauf warteten, dorthin gebracht zu werden, wo sie durch die gewohnte tägliche Arbeit ihr ehrliches Brot verdienten.

Wohl ging es im Jahre 1906 in dieser lebenshungrigen Stadt an der Bucht des schimmernden Pazifik nicht mehr so wild, nicht mehr so gefährlich und heißblütig zu wie vor dreißig Jahren, als 1848 ganze Stampeden von Strolchen, Strauchdieben, Falschspielern, Glücksrittern, Kneipenwirten und anderen fragwürdigen Existenzen in Richtung Kalifornien im Anmarsch waren – das gewohnte Bild des echten, alten Wilden Westens war schon seit Jahren verblasst, jenes Bild, das trotz seiner mitunter verwerflichen Auswüchse doch etwas ungemein Heroisches, Heldenhaftes, Pionierartiges an sich hatte. Und im Grunde genommen war dieses Bild geblieben – es hatte sich nur gewandelt! Die verschiedenen Weltanschauungen hatten sich getrennt und mancher Mann, der als blutjunger Boy mit zerrissenen Stiefeln, an denen noch die Erde seines zurückgelassenen Goldgräber-Claims klebte, in jener Stadt ankam, die für ihn das Himmelreich bedeutete, mit ihren zahlreichen Palmengärten, ihren Zypressen-Hainen und Eukalyptusbäumen einen unauslöschlichen Eindruck in seiner Seele hinterließ, spazierte heute als älterer, graumelierter Herr im vornehmen Dress und in einem eleganten Abendmantel, den er mit einer lässigen Bewegung seiner brillantengeschmückten Rechten um die Schulter zu werfen pflegte, durch die nächtliche Market-Street. Die gleiche Hand, die einmal die verkrustete Spitzhacke geführt hatte, mit der er das goldhaltige Metall aus der harten Erde geschlagen hatte, trägt heute den schlanken Bambusstock, der in einer Kugel aus purem Gold endet. Es ist das Gold aus seinem ehemaligen Claim, das einzige Andenken, das ihn noch an jene schaurig-schöne Zeit erinnert, die wohl vergangen und versunken sein mochte, aber von ihm und vielen Schicksalsgefährten nie vergessen werden konnte.

Und auch die Sitten und Lebensgewohnheiten hatten sich gewandelt und geändert. Sie waren in der äußeren Form kultivierter, städtischer, gesellschaftsfähiger geworden und Vieles war dahingegangen, um nicht mehr wiederzukehren. Vieles Schöne, manches Ruhmbedeckte, Geniale ... ein Stück Romantik, wie es wilder und heldenhafter nicht gedacht werden konnte – – dahin ... vorbei ...

Eines aber war geblieben – der alte Pioniergeist, und er hatte sich weiterhin darin bewährt, Großes zu leisten ...

Und er hatte in der Stadt am Goldenen Tor Großes – ja Gewaltiges geschaffen – –

1848 war San Franzisko ein Dorf von sechshundert Einwohnern gewesen – 1900 zählte es bereits dreihundertzweiundvierzigtausend und zu Beginn des Jahres 1906 schon über vierhunderttausend Einwohner – –

Der schon mehrfach ausgebrochenen Erdbeben wegen hatte man die Stadt zunächst aus Holz gebaut. Bald aber vergaß man diese Sicherungsmaßnahmen – herrliche Steinbauten, prachtvolle Luxuspaläste, mächtige Straßenfronten waren entstanden.

Langsam zog hinter den hochgewölbten Hügeln der Landzunge, auf deren Höhen die Prachtvillen von Nabob-Hill lagen, die riesige Feuerkugel der aufgehenden Sonne am wolkenlosen Firmament empor. Sie vergoldete mit ihrem Purpurschein den gewaltigen, alles überragenden Kuppelturm des Rathauses, das mit seinen doppelreihigen korinthischen Säulen aus weißem Marmor wie ein Gebilde aus dem fernen Morgenlande wirkte ...

Langsam erloschen die Lichter der Stadt, jener Stadt, die man nur mit Sodom und Gomorrha vergleichen konnte, dem Sündenpfuhl des Vergnügens und der schlimmsten Leidenschaften, der Gottlosigkeit und des übelsten Verbrechertums – dem Dorado der Goldgräber Kaliforniens, dem Sammelbecken aller Abenteurer der ganzen Welt ...

San Franzisko – Herz des Goldenen Westens!

Jener Mann, der diese Bezeichnung für die Stadt am Goldenen Tor gefunden hatte, musste ein Weiser gewesen sein. Oder ein Süchtiger, der ihrem Rausch verfallen war. Wenn irgendwo im Mittelwesten Gold gefunden wurde – und das war in jenen Jahren in unvorstellbar reichem Maße der Fall gewesen – dann musste es als ein Gotteswunder bezeichnet werden, wenn diese erfolgreichen Männer, die monatelang nichts anderes gesehen hatten als Dreck und Lehm und Sand und Wüste, nicht wenigstens einen Teil ihres Gewinnes für Vergnügen, guten Schnaps und schlechte Weiber fortwarfen. Nirgends in den Staaten war die Gelegenheit dafür so günstig wie in San Franzisko. Riesenvermögen wechselten Nacht für Nacht ihre Besitzer – die zahlreichen Bars, die Luxuslokale, die riesigen Spielsäle, in denen arme Menschen reich und reiche Menschen arm wurden – innerhalb weniger Stunden – sie waren die ganze Nacht hindurch geöffnet gewesen, genauso wie die üblen Spelunken in den Verbrechervierteln der Riesenstadt, der Barbary Coast oder Barbarenküste und den anschließenden Straßenzügen, die nur von Chinesen bewohnt waren. Dem Slum von San Franzisko – dem Morast, in dem die Unterwelt zu Hause war – –

Dort lag das Reich des „Mandarins“, eines Verbrecherkönigs, wie ihn selbst diese Riesenstadt noch nicht erlebt hatte. Niemand wusste, wer sich hinter diesem Namen verbarg, niemand konnte oder wollte irgendetwas Positives über diese unheimliche Persönlichkeit aussagen – es hatte fast den Anschein, als würde es sich um ein Phantom handeln, um eine Erscheinung, die man wohl in ihrer ganzen Schwere und Gemeinheit fühlen, aber nicht sehen und erfassen konnte. Selbst die Polizei, die fieberhaft nach dem Haupt der weitverzweigten Verbrecherbande suchte, die schon zahllose Razzien, vor allem an der berüchtigten Barbarenküste und im Chinesenviertel angesetzt und schon zum wiederholten Male buchstäblich Haus um Haus umgestülpt hatte, stand vor einem Rätsel. Noch nicht einmal die Frage war geklärt, welche Persönlichkeit oder Nationalität sich hinter diesem Namen verbarg – hinter diesem ungewöhnlichen Namen – der „Mandarin“ –

Handelte es sich um einen Chinesen? Um einen Japaner? Oder vielleicht nur um einen Menschen, den die Natur mit einer auffallend blassen Hautfarbe und etwas schiefsitzenden Augen ausgestattet hatte – um einen Mischling, von denen ja die Tatsache bekannt war, dass sie gerne von beiden Elternteilen nur die schlechtesten Eigenschaften ererbten? –

Und Chinesen, Japaner, Mischlinge gab es eine ganze Menge in San Franzisko – sie waren überall anzutreffen – in allen Vergnügungsstätten der Riesenstadt, in der zu einem ausgelassenen Amüsiertempel herabgewürdigten Tivoli-Oper, in dem gewaltigen Marmorbau der City-Hall, in den Prunksälen des märchenhaft schön angelegten Lyric-Baues, der „Big-Paradies-Bar“ oder wie die Stätten der Lustbarkeit in der Market- oder Kearney-Street alle heißen mochten. San Franzisko war von einem einzigen Taumel der Genusssucht erfüllt. Bis in die Morgenstunden spielten auf den großen Plätzen der Stadt Musikkapellen, sangen oder grölten aus allen Fugen geratene Menschenmassen die neuesten Schlager. Lachend, schreiend, sich zu immer neuen Ekstasen aufrüttelnde Scharen wälzten sich tanzend und übermütig lärmend durch die Straßen. Um Partner brauchte niemand verlegen zu sein. Diese waren in reichem Maße vorhanden. Männer wie Frauen. Niemand kannte sich, man lernte sich kennen, man blickte sich in die Augen und schon tauchte man unter im unkontrollierbaren Meer des Genusses, der Wollust – –

Jeder Tag wurde so gelebt, als wäre er der letzte, als käme morgen schon die große Ernüchterung, das bittere Erwachen aus einem unwirklich schönen Traum, der einem etwas vorgegaukelt hatte, was niemals Wirklichkeit werden konnte ...

Es war, als ginge ein großes Ahnen durch die Massen, ein Ahnen um schreckliche Dinge, die da kommen konnten.

Und vielleicht kommen mussten, weil die Menschen die gesteckten Grenzen frivol und mit einer wahrhaft brutalen Herausforderung an das Schicksal schon seit langem überschritten hatten.

Vielleicht bewirkte es der leicht verdiente Wohlstand der Bewohner, der sagenhafte Reichtum der Nabob-Hill-Bewohner, die das Geld mit vollen Händen ausgaben, für alles, was Lust und Freude bringen konnte, vielleicht war es das innere Empfinden, dass dieser ganze Glücksrausch nur ein vorübergehender sein konnte und dass es lediglich darauf ankam, möglichst viel davon zu erhaschen – vielleicht war es auch der Umstand, dass San Franzisko die erste, an der pazifischen Seite Nordamerikas entstandene Stadt war oder das Bewusstsein, vielleicht eines schönen Tages das Opfer des in allen Teilen der Stadt vorhandenen, unvorstellbaren Verbrechertums zu werden, dass die breiteste Masse solchen unsinnigen Orgien zugänglich war.

– – –

Die schmiedeeisernen, kunstvoll geschwungenen Uhrzeiger der St. Patrick-Kathedrale zeigten am Morgen dieses 16. April 1906 die sechste Morgenstunde an, als Samuel Brady das untere Ende der Market-Street erreichte. Er hatte im Richmond-Hotel ein einfaches, aber geschmackvoll eingerichtetes Zimmer genommen und auch für seine liebe „Lady“, von der er sich nur im äußersten Notfalle trennte, eine richtiggehende Pferdebox gefunden. Nachdem die Stute untergebracht und mit reichlichem Futter versehen worden war, beschloss Samuel Brady, die Stadt zu besichtigen. Es war das erste Mal, dass er sich in San Franzisko befand ...

Und er hatte sich auf seinem mehrtägigen Herritt ein wunderschönes Plänchen zurecht gelegt. Ehe er aber an die Ausführung desselben gehen konnte, wollte er erst einmal die vornehmen Lokale der Stadt, die ja vorwiegend in der Market-Street lagen, in Augenschein nehmen. Vielleicht fand sich schon hier ein Anhaltspunkt, der ihm seine Suche nach dem mysteriösen „Mandarin“ erleichterte. Aber nur vielleicht. Samuel Brady war davon überzeugt, dass er sich schon in das Chinesenviertel oder gar in den Slum von San Franzisko am Barbaren-Strand, begeben musste, um Näheres über den Aufenthaltsort dieses Verbrecherkönigs zu erfahren. Oberst Sinclar hatte in seiner Depesche davon gesprochen, dass Verstärkung unterwegs sei. Er brauchte also diese gefährliche Aufgabe nicht allein und ohne jegliche Hilfe zu lösen. Wer mochte es wohl sein, der ihm in diesem gigantischen Kampf zur Seite gestellt wurde? Vielleicht die „Unzertrennlichen“? Oder Ed Springs, der mit ihm schon einmal einen wahren Heldenkampf gekämpft hatte, damals, als es galt, der Gomorro-Bande den Garaus zu machen. Es war aber auch nicht ausgeschlossen, dass der Oberst den „Kleinen Benjamin“ nach San Franzisko beorderte, da gerade dieser faustgewaltige G-Mann die Sprache der Großstadtgangster meisterhaft beherrschte, jene Sprache, die darin bestand, ohne viele Worte ganze Kneipen zu zerhämmern und für jeglichen weiteren Aufenthalt unbrauchbar zu machen. Für solche Jobs war der „Kleine“ wie kein anderer mehr geeignet. Samuel Brady wusste, dass an der Barbaren-Küste sehr viel geschossen wurde – nicht nur mit Sektpfropfen – sondern mit tödlichen, vernichtenden Bleikugeln, und da wäre die Nummer „Eins“ der richtige Mann dazu gewesen, hier einmal gründlich aufzuräumen. Samuel Brady wollte aber nicht daran glauben, dass es ihm vergönnt sein sollte, mit Conny Cöll in San Franzisko zusammen zu arbeiten! Nein, dieser Boy war nichts für die Großstadt, den konnte keine Macht der Welt von der weiten Prärie trennen, und sicherlich jagte er jetzt zur Stunde hinter irgendeinem Banditen in Texas oder Arizona her.

Als Samuel Brady die großen Häuser in der Market-Street erreicht hatte, wurde ihm fast vor seiner Aufgabe bange. Er kam sich vor wie ein kleiner Wurm, den das Schicksal in einen Termitenhaufen gestoßen hatte, damit er dort, umgeben von tausend Feinden, umschwirrt von einem hundertfachen Todesurteil, elend zugrunde gehen sollte. An der kleinen Kapelle, kurz vor der Sankt-Anna-Mission, blieb er stehen und seine Blicke wanderten bewundernd über den marmornen Kuppelturm der City-Hall, über das Prachtgebäude der Tivoli-Oper und blieben lange und nachdenklich an dem Wolkenkratzergebäude der Zeitung „The Call“ haften.

Dann erst betrachtete er die Menschen, die trotz der frühen Morgenstunde, noch trunken von der durchzechten und durchtanzten Nacht, einen Lärm vollführten, der jedem ausgeschlafenen Menschen in der tiefsten Seele zuwider sein musste. Eine ausgelassen lärmende Gesellschaft wälzte sich die Straße entlang, Männer in eleganten Frackanzügen und Frauen in großer Abendtoilette. Sie grölten mit halbheiseren Stimmen immer und immer wieder den gleichen Song; er musste es ihnen besonders angetan haben und sicherlich hatten sie sich stundenlang nach dessen Rhythmen auf den Parkettböden irgendeines Amüsiertempels nach Herzenslust gedreht.

Oh deadly dust ... deadly dust ... deadly dust, den einst Opapa fand, er rinnt uns wie Pulver ... wie Pulver ... wie Pulver durch die Hände ...

In der Mitte der lustigen Gesellschaft saß auf einem prachtvollen Schimmel ein weibliches Wesen. Eine junge Dame, die vollkommen aus den Fugen geraten sein musste. Sie war nicht mehr in der Lage, einen ganzen Satz dieses damals so beliebten Schlagerliedes zu singen. Sie lallte nur noch ...

„Deadly dust ... deadly dust ... deadly dust ...“

Mit ausgebreiteten Armen begrüßte sie die Menge, die teils gaffend, teils mitjohlend den lärmenden Zug bestaunte. Das enganliegende, seidenglänzende Abendkleid war weit über die Knie der Reiterin zurückgerutscht. Zwei nackte, üppig gewachsene Beine wirbelten im tollen Rhythmus durch die Luft.

„Deadly dust ... deadly dust ... deadly dust ...“

Der hohe, graue Zylinderhut auf dem üppigen Blondhaar der schönen Frau stand ihr verwegen zu Gesicht. Er mochte einem der zahlreichen Kavaliere gehören, die der Reiterin folgten.

Soeben passierte der lärmende Zug jene Stelle, an der Samuel Brady stand.

Der G-Mann hatte sich etwas in eine kleine Mauernische gedrückt, er wollte die Schar vorüberlassen, da stutzte er ...

Seine Augen wurden groß und rund. Sie hingen wie gebannt an der Gestalt der Reiterin, an ihrem Gesicht ...

Samuel Brady war ein Mann, dem man nachsagte, dass er seine Nerven immer in eiserner Kontrolle hatte, dass ihn nichts – auch nicht der schlimmste Anblick des Todes – aus der Ruhe bringen konnte. Diesmal aber hätte er beinahe einen Schrei der Überraschung ausgestoßen – diesmal hätte er buchstäblich um ein Haar seine sprichwörtliche Ruhe verloren. Er hatte nämlich diese Frau erkannt. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Das war Mary Dunkley, jene Mary Dunkley, die einmal seine Frau gewesen war und dann mit Darnell Parker ...

Samuel Brady war nicht mehr in der Lage, seine Gedanken, die wild auf ihn einstürmten, zu Ende zu denken. Sie überwältigten ihn. Sie machten ihn kopflos.

Schon war der lärmende Zug vorüber! Von weitem sah er noch die Gestalt der Reiterin, sah er, wie die brillantengeschmückten Arme wilde Bewegungen nach allen Himmelsrichtungen vollführten, wie die nackten Beine die Luft durchwirbelten, wie der Zylinderhut in hohem Bogen in die johlende Menge flog – von weitem hörte er noch die kreischende Stimme Mary Dunkleys, immer leiser und leiser werdend ...

„Deadly dust ... deadly dust ... deadly dust ...“

Dann verstummte plötzlich der Song – er war untergegangen in der begeisterten Sturzflut der Zurufe, die von allen Seiten auf das kecke Weib einstürmten, überlaut, um sich dann in der Gegend des großen Market-Platzes zum wahren Beifallsorkan zu steigern ...

Samuel Brady wandte sich angeekelt ab. Einen Moment schien es, als wollte ein schwaches Mitgefühl, ein Anflug von leisem Mitleid in ihm hochkommen. Es schien aber nur so. Samuel Brady war frei von solchen Gefühlsregungen, wenn ihm auch die plötzliche, unerwartete Überraschung buchstäblich die Rede verschlagen hatte.

Mary Dunkley! – So weit war es also mit ihr gekommen ... so weit, dass sie in einem solchen Zustand, halbnackt, in dieser unberechenbaren, lüsternen Gesellschaft des Nabob-Hill, sich sinnlos betrank, um sich dann dem sensationshungrigen Pöbel als wohlfeiles Belustigungsobjekt zur Schau zu stellen – eine Verlorene unter Verlorenen.

Samuel Brady hastete weiter, vorbei an einigen Gruppen von Menschen, die ebenfalls singend und johlend die Häuserreihen entlangwankten, auf offener Straße aus großen Whiskyflaschen tranken, um dann die leeren Glasballone mit lautem Krach an eine Wand zu werfen.

Verdammtes San Franzisko – –

Und wieder musste Samuel Brady einer Horde total betrunkener Kerle ausweichen, welche die ganze Trottoirbreite für sich in Anspruch nehmen zu müssen glaubte. Bei dieser Bewegung zur Seite bot sich dem G-Mann ein neuer, unerwarteter Anblick. An der linken Straßenseite, gleich neben dem wuchtigen Gebäude der California-Bank, stand eine Hütte, die genauso gut inmitten der tiefsten Wildnis von Arkansas hätte stehen können. Es war die Hütte eines Trappers, wie es solche in den Wäldern des Westens zu hunderten gegeben hatte. Sie nahm sich genauso wackelig und windschief aus wie jene, die damals in den Jahren des Goldrausches auf den einsamen, wildromantischen Claims gestanden waren.

Wie staunte Samuel Brady, als er dieses Überbleibsel einer großen Zeit hier inmitten der wuchtigen Bauten und komfortablen Häuser der Riesenstadt entdeckte. Ein vorüberhastender Bengel blieb stehen, als er das Erstaunen des schwarzgekleideten Mannes bemerkte.

„Diese Bretterbude bewohnt ein Verrückter, Gent!“, gab er ohne Aufforderung Aufklärung. „,Happy Tim’ nennt er sich – der glückliche Tim ... Man hat ihm schon Riesensummen für sein Grundstück geboten. Er weigerte sich aber immer standhaft, zu verkaufen ...“

„Ein interessanter Boy!“

„Ein Verrückter, Gent!“, lachte der Bengel, um dann mit einem unverschämten Seitenblick fortzufahren, „und er empfängt nur Verrückte! Wenn Ihr es also einmal versuchen wollt ...?“

Und fort war er, ehe Samuel Brady ihm noch die Ohren langziehen konnte.

„Verdammter Lausejunge“, brummte er, „unverschämtes Gezücht! Aber der Boy hatte recht, dieser Happy Tim interessiert mich! Ich werde ihn besuchen! Nicht jeden Tag findet man ein Stück unverfälschte Wildnis mitten in einer Riesenstadt!“

Samuel Brady wollte gerade seine Hand nach der drahtumspannten Gartentür ausstrecken, als irgendetwas auf der Straße seine Aufmerksamkeit erregte. Irgendetwas Außergewöhnliches, das aber von keiner Seite beachtet wurde. Ein hilfloses Etwas, das über die belebte Straße gewatschelt kam, ängstlich darauf bedacht, nicht unter die Räder der vorbeiratternden Fahrzeuge, die trotz der frühen Morgenstunde schon die Market-Street belebten, zu kommen. Es war ein kleiner Hund, dem die schmutzigen, wollartigen Haare lang um die ausgemergelte Gestalt hingen. Das kleine Kerlchen hatte einen Kopf, der kaum zu sehen war. Nur zwei schwarze, angsterfüllte Augen blickten zwischen den dreckstarrenden Gesichtshaaren hindurch und aus dem spitzen Mäulchen kamen ununterbrochen laute, quietschende Töne. Es musste sich um einen herrenlosen Hund handeln, die ja zu hunderten die Straßen San Franziskos bevölkerten. Gerade war es dem Wollknäuel geglückt, einer schnellfahrenden Droschke auszuweichen, da wäre es um ein Haar unter die Räder eines fürchterlich knatternden Ford-Automobils gekommen, dessen Fahrer allem Anschein nach ebenfalls einen zu viel über den Durst getrunken hatte. Er wurde von den Hinterrädern noch leicht gestreift, überschlug sich mehrere Male, um dann ängstlich quakend am Gehsteig liegen zu bleiben.

Samuel Brady näherte sich dem Verunglückten. Er beugte sich über das hundeähnliche Wesen, das genauso gut auch eine große, total verwahrloste Angorakatze sein konnte.

Oder eine gelungene Kreuzung zwischen einem Präriehund und einer Zwergziege.

Samuel Brady bekam ein abermaliges, ängstliches Quietschen zu hören. Zwei gequälte Hundeaugen blickten ihn an, die um Hilfe und Schutz bettelten. Sie waren so traurig und melancholisch, wie Samuel Brady dies eigentlich nur dann zu sehen gewohnt war, wenn er sich einen Spiegel vor die eigene Nase hielt. Irgendetwas glaubte er, in den Augen des Hundes zu sehen, etwas ungemein Wehmütiges, was sofort seine ganze Sympathie für das hilflose Bündel Hundevieh weckte.

Etwas zögernd fuhr seine Hand über das struppige Haar. Das Hündchen legte die Ohren an. Und ließ es sich gefallen, dass der Mann es auf den Arm nahm. Das Quietschen war verstummt, die schlaksigen Bewegungen des zierlichen Körpers waren einer demutsvollen Hingebung gewichen. Ein schwaches Schütteln der Menschenhand und eine ganze Wolke Straßenstaub und feinen Sandes umhüllten die beiden wie ein dichter, bazillengespickter Nebel ...

Als sich die Staubschwaden verzogen hatten, stellte Samuel Brady befriedigt fest, dass das Tierchen Zutrauen zu ihm gefasst hatte. Es leckte nämlich die Hand, die ihm soeben über das Fell gefahren war und wahrscheinlich hatte der kleine Kerl diese Liebkosung lange entbehren müssen. Er begann mit dem kurzen, wollbehangenen Schwanz zu wedeln, was zur Folge hatte, dass eine neue Staubwolke die nähere Umgebung einnebelte. Samuel Brady begann, das Tier zu untersuchen. Es musste krank sein oder sich irgendwo verletzt haben, denn es quietschte bei jeder Berührung laut und schmerzlich auf. Samuel Brady hatte keine Erfahrung mit jungen Hunden. Er konnte nicht unterscheiden, was diese mitunter seltsamen Töne bei diesen Geschöpfen zu bedeuten hatten. Und jetzt, als er mit dem Abtasten des schmutzstarrenden Körpers fertig war, als er festgestellt hatte, dass dieser tatsächlich mit einem Schwanz, einem Kopf und vier kleinen Beinchen ausgestattet war, fuhr seine Hand abermals zärtlich über das Fell des Hündchens. Er sah abermals die traurigen, melancholischen Augen auf sich gerichtet. Und da brachte er es nicht übers Herz, das hilflose Wesen wieder in die Grausamkeit des Großstadtverkehrs zurückzustoßen. Er beschloss, sich seines Findlings anzunehmen und ihm, sofern dies in San Franzisko möglich war, einen guten Platz zu suchen.

Am altertümlichen Zaun der Blockhütte war mittlerweile eine Gestalt erschienen. Und nun geschah es innerhalb so kurzer Zeit, dass Samuel Brady zum dritten Mal in helles Erstaunen versetzt wurde.

Das Gesicht des Hüttenbewohners war so wenig zu sehen wie das des Hundes. Es war über und über mit einem dichten Bartgeflecht bewachsen, in dessen Mittelpunkt eine rötlich-blau gefärbte Nase saß. Auf dem massiven, runden Schädel befand sich ein Stetson, dessen traurig herabhängende Krempe mit zahlreichen Löchern bedeckt war. Mottenfraß oder Bleikugeln? Samuel Brady hatte keine Zeit, darüber tiefsinnige Betrachtungen anzustellen, denn er sah, dass ihn dieses Museumsstück aus längst vergangener Goldgräber-Romantik – die einmal hier auf diesem Boden, wo jetzt San Franzisko stand, die tollsten Blüten getrieben hatte – herausfordernd auslachte. Wenigstens hatte Samuel Brady das Empfinden, dass der Alte hinter seinem Bartgestrüpp lachte. Und das war etwas, was er sich stets energisch zu verbitten pflegte. Er näherte sich dem Zaun, der genauso verwahrlost war wie die Frisur dieses seltsamen Heiligen.

„Hast du gelacht, Alter?“, fragte Samuel Brady mit todernstem Gesicht.

„Ich habe!“, kam es zwischen dem Haarwirrwarr hervor.

„Warum?“

„Weil ich mich freue!“

„Worüber?“

„Über dich!“

Samuel Brady begann sich nun ebenfalls zu freuen. Aber nicht über sich, sondern über dieses Unikum von einem Kerl, der hier mitten in der verkehrsreichsten, modernsten Geschäftsstraße wohnte und noch herumlief wie zu Großvaters Zeiten. Der Westmann warf einen Blick in das Grundstück des Alten und da staunte er abermals. Hinter der armseligen Bretterhütte war doch tatsächlich ein großes Loch geschürft. Eine Menge Goldgräberwerkzeug lag im weiten Rund verstreut umher – Schaufeln, Spitzhacken; ein altertümlicher Handbohrer, Sandsieb und so fort. Mitten durch das aufgewühlte Erdloch bahnte sich ein kleiner Bach seinen Weg, der aber, wie Samuel Brady sofort ohne Schwierigkeit feststellen konnte, aus der nahegelegenen Wasserleitung kam. Wenn Samuel Brady nun die Eigenschaft besessen hätte, laut und herzlich seiner inneren Heiterkeit freien Lauf zu geben – dann wäre jetzt dem Alten ein homerisches Gelächter entgegengeprasselt. Das aber war Samuel Brady nicht gegeben und so zuckten lediglich seine Augenlider belustigt auf und ab. Dies hatte den Anschein, als würde er mit Gewalt eine aufkommende Rührung bekämpfen.

„Warum bist du so traurig, Fremder?“‘‘, war die Stimme des Einsiedlers wieder da.

„Über dich!“

„Über mich?“

Samuel Brady nickte. Ernst und langsam.

„Über dich, Väterchen!“, fuhr er dann fort, „als ich dich zum ersten Male sah, glaubte ich, dass dir vielleicht dieser niedliche Hund gehöre ...“

„Um Gottes Willen!“, unterbrach der Alte, „ich habe keinen Hund! Ich will von Tieren nichts wissen!“

„Aha!“, machte Samuel Brady, „du willst mit Tieren nichts zu tun haben? Dann kannst du auch kein guter Mensch sein! Man nennt dich aber doch den Happy-Tim?“

„Der bin ich!“

„Und dir gehört dieser Hund wirklich nicht?“

„Wirklich nicht!“

„Er hätte aber so schön zu dir gepasst! Er hat eine solch große Ähnlichkeit mit dir! Der Kopf, der Bart, das Fell ...! Verdammt, Väterchen, da kommt mir ein Gedanke! Glaubst du an die Wiedergeburt des Menschen ... an sein Wiedererscheinen in irgendeiner Gestalt?“

„Alles Blödsinn!“, knurrte Happy-Tim.

„Sage das nicht, Väterchen! Dahinter steckt eine tiefe Weisheit! Wir sind alle schon einmal auf der Welt gewesen, und wenn ich hier dieses reizende Hündchen betrachte und meinen Blick dann auf dein würdiges Haupt werfe ...? Happy-Tim, altes Väterchen ... ich glaube, dass da irgendwie eine geheime Verbindung besteht ...!“

„Glaubst du?“ Happy-Tim war plötzlich ganz Ohr. Dieses Thema begann ihn plötzlich zu interessieren.

„Bestimmt, Väterchen!“, nickte Samuel Brady heftig, „bestimmt! Das habe ich sofort festgestellt, als ich dich zum ersten Male sah! Hast du einen Vater besessen?“

„Blöde Frage!“, röhrte Happy-Tim wie ein brunftiger Hirsch.

„Wie hat er ausgesehen?“

„Wie ich!“

„Dann haben wir es, Väterchen! Und sage schnell, wie waren seine Augen?“

„Immer etwas nachdenklich und treuherzig!“

„Das ist der Beweis, Väterchen!“ Samuel Brady entfernte die dichten Wollhaare aus dem Gesicht des Hundes, „blicke dir seine Augen an! Sind sie nicht genauso nachdenklich und treuherzig wie es die deines Vaters waren?“

„Alles Blödsinn, was du da verzapfst, Fremder! Willst du grüner Bengel mich vielleicht zum Narren halten? Das würde dir schlecht bekommen!“

Samuel Brady blieb beharrlich. Er wollte seinen Findling unterbringen. Es gibt auf der Welt nichts Abergläubischeres als einen alten Goldgräber. Samuel Brady konnte reden wie ein Methodistenprediger, und er tat es ungemein sanft und eindringlich. Der kleine Dreckspatz auf seinem Arm würde sich bestimmt wohlfühlen dort hinten auf dem riesigen Schutthaufen. Als er nun die barschen Worte Happy-Tims hörte, wurde sein Gesicht noch ernster. Seine Augen nahmen einen maßlos erstaunten Ausdruck an und die Worte, die nun über seine Lippen kamen, flossen dahin wie süßer Honig in der Sommersonne.

„Aber Väterchen! Ich werde mich nie unterstehen, mich über irgendetwas lustig zu machen! Ich meine es ernst, denn ich verstehe etwas von diesen Sachen ...“

„Geh zum Teufel mit deinen verrückten Anschauungen und lass mich damit in Ruhe! Du willst mir nur das Vieh andrehen! Ich mag keine Hunde!“

„Das ist ein großer Fehler, Väterchen! Hunde bringen Glück!“

„Dann behalte ihn doch selbst!“

„Deinen Vater ...?“

„Meinen ... meinen ...?“ Happy-Tim hatte es plötzlich die Sprache verschlagen. Samuel Brady sah, dass es im Gesicht des Alten verdächtig zuckte, dass seine Nasenspitze noch eine tiefere Färbung angenommen hatte. Es war offensichtlich – Happy-Tim war wütend geworden. Ehrlicher Zorn hatte ihn übermannt.

„Du verdammter Esel!“, brüllte er plötzlich, „ich habe meinen Vater gar nicht gekannt! Habe ihn nie gesehen! Keine einzige Minute meines Lebens ...“

„Oh“, kam es enttäuscht zurück, „dann habe ich mich getäuscht! Dann war es eine Fehldiagnose! Ich werde ihn wohl behalten müssen ...“

„Den Hund?“

Samuel Brady nickte traurig: „Den Hund! Ich werde mich selber um ihn kümmern müssen, obwohl ich verdammt wenig Zeit dazu habe!“

Dann glaubte er, um die Fortführung des Gespräches sicherzustellen, ablenken zu müssen.

„Hast du übrigens vorhin den Schimmel gesehen, Väterchen“, fuhr er fort.

„Ich habe!“

„Mit der tollen Weibsperson?“

„Ich habe! Sie war ein verdammt schönes Biest!“

„Kennst du ihren Namen?“

„Warum?“

„Vielleicht braucht sie einen Hund!“

„Sie heißt Mary Dunkley!“, gab Happy wider Erwarten bereitwillig Auskunft, „wie willst du es anfangen, ihr den Köter anzudrehen?“

„Oh“, meinte Samuel Brady, einen verträumten Blick in die Ferne werfend, in die vor wenigen Minuten die lärmende Gruppe verschwunden war, „mir wird schon etwas einfallen! Frauen haben ein gutes Herz!“

„Die nicht!“, unterbrach der Alte heftig. „Sie ist ein tolles Aas, ein Schrecken für alle anständigen Frauen! Sie hat kein Interesse für Hunde, nur für Männer mit viel Moneten! Sie ist wie ein Schmetterling, der von Brillant zu Brillant flattert, wie ein Vogel, der dort zu Hause ist, wo es einen goldenen Käfig gibt! Hast du mich begriffen, mein Junge?“

„Ich habe!“, antwortete Samuel Brady mit gedehnter Stimme. Das war es ja, was er wissen wollte. Oh, er hatte eine besondere Art, einem Partner die Zunge zu lösen. Und Happy-Tim war ein wunderbares Objekt für seine begreifliche Neugierde.

„Gibt sie öfters solche Vorstellungen, Väterchen?“, fuhr er fort.

„Sie gibt!“

„Was du nicht sagst, Väterchen?“

„Seit dem sie schon einige Male im Arrest war, erregt sie wenigstens kein öffentliches Ärgernis mehr! Die Gentlemen von Nabob-Hill müssen ihr jeden Morgen das Kleid an die Haut winden! Sie hat eine merkwürdige Art, ihre Schönheit zur Schau zu stellen ...“

„Sie reitet ... sie reitet ...“

Happy-Tim nickte.

„Sie reitet! So ist es!“, brummte er in seinen Bart, „und zu ihrer weißen Haut würde eigentlich ein Rappe besser passen – wegen des Kontrastes ...“

„Allmächtiger ...“ Samuel Brady war tief beeindruckt! Mehr noch, er war erschüttert, denn so etwas hätte er nie für möglich gehalten. Wie konnte eine Frau, die einmal grundanständig gewesen war, so tief sinken? So unrettbar tief – in den dunkelsten Pfuhl ...

„Nun bist du aber bedient, wie ich sehe!“, riss ihn die Stimme aus seinem Sinnen, „du bist jetzt aber in San Franzisko und da wird für jeden Geschmack etwas geboten! Wohl vollkommen fremd hier, he?“

Samuel Brady nickte, immer noch im Banne des Schockes, den die Worte des Alten bei ihm ausgelöst hatten.

„Dachte es mir doch, Freundchen!“, nickte der Einsiedler, während er sich mit seiner mächtigen Pranke über jene Stelle fuhr, an der in einem menschlichen Gesicht der Mund zu sein pflegt, „und wenn du etwas erleben willst, was nach Liebe und losen Frauen riecht, dann musst du in die Bars und Kabarette der Innenstadt gehen! Hoffentlich hast du dich mit genügend Dollars ausgestattet?“

Ein entsetzter Blick traf den Alten.

„Ich bin kein Verschwender, Väterchen!“, entrüstete er sich, „und von der Liebe halte ich gar nichts!“

„Dann musst du in den ,Pavian’ gehen! Dort gibt es keine Weiber, die dir deine Dollar abnehmen wollen! Dafür wimmelt es dort aber von Seemännern aus aller Welt! Da kannst du was zu sehen bekommen, Söhnchen, und wenn du mitspielen willst – auch eine Menge erleben ...“

„Im ,Pavian’?“

Da schien dem Alten etwas Besonderes eingefallen zu sein.

„Nein, Söhnchen!“, fuhr er fort, nachdem er sich eine Weile am Kinn gekratzt hatte, in den „Pavian“ kannst du nicht mehr gehen! In dieser verdammten Kneipe muss vor einigen Tagen ein Privaterdbeben stattgefunden haben. Habe mir erzählen lassen, dass von dieser üblen Spelunke nur noch die Außenwände stehen ...“

„Ein Erdbeben? Ja, gibt es denn so etwas in San Franzisko?“

Happy-Tim machte ein ärgerliches Gesicht. Der naive Bursche, zu dem er anfänglich so große Sympathie gefasst hatte, schien ihm langsam auf die Nerven zu gehen.

„In dieser schönen Stadt gibt es fast ununterbrochen Erdbeben“, blökte er bissig, während sich sein Schnauzbart um die Mundpartie bedrohlich nach vorne schob, „so viele, dass man gar nicht mehr darauf Acht gibt. Und wenn wirklich einmal ein Bild vom Nagel fällt ...“

„Oder ein Spiegel ...“

„Natürlich kann es auch ein Spiegel sein! Wenn dies wirklich einmal der Fall sein sollte, dann hält sich kein Mensch darüber auf! In den ,Pavian’ kannst du also nicht mehr gehen! Ich habe mir erzählen lassen, dass dort vor wenigen Tagen ein riesenhafter Boy so vernichtend aufgeräumt hat, das es mit der Kneipenherrlichkeit vorbei sein soll. Endgültig und unwiderruflich! Es soll sich gar nicht mehr lohnen, die Spelunke wieder aufzubauen ...“

„Und wer soll dieses Kunststück vollbracht haben, Väterchen? Ein riesenhafter Boy?“

„Es soll sich um einen Sinclar-Mann gehandelt haben!“

„Das interessiert mich in höchstem Maße, Väterchen! Davon musst du mir mehr berichten!“

Ein verächtlicher Blick traf Samuel Brady. Und in diesem Blick lag mehr, als viele Worte hätten zum Ausdruck bringen können.

„Es widerstrebt mir, zu einem solch traurigen Greenhorn über diese Boys zu sprechen, wie du eines bist, Söhnchen! Dazu gehört eine Menge Überwindung! Hast du schon einmal von ihnen gehört?“

„Schon eine ganze Menge!“

„Das wundert mich ehrlich!“, brummte der Alte, „vor allem bei einem Kerl, der mit dem traurigsten Gesicht der Welt herumläuft und schauderhafte Gräuelmärchen über harmlose Straßenköter erzählt! Die Namen dieser Boys, Söhnchen, darfst du gar nicht in den Mund nehmen! Das wäre eine Schmach, die nur mit Blut abgewaschen werden könnte. Das sind Kerle, Söhnchen, wie sie hier in dieser verdammten Stadt niemals wachsen können, Kerle – wie wir sie einmal waren, als wir dieses Land, das jetzt mit gigantischen Steinhaufen überschwemmt wird, kolonisierten. Das waren Zeiten, Söhnchen, und da hat es solche Boys wie die, die Oberst Sinclar um sich geschart hat, massenhaft gegeben! Und ich, Söhnchen, ich war auch einer von ihnen gewesen!“

Samuel Brady hatte mit einem Gesichtsausdruck zugehört, der deutlich verriet, welch große Bewunderung auch er für jene Männer hegte, von denen die Bede war. Happy-Tim sah diese Bewunderung und sofort wurde er freundlicher gestimmt.

„Nichts für ungut, Söhnchen!“, sagte er dann in einem Ton, als müsste er sich für irgendetwas entschuldigen, „nichts für ungut, wenn ich vielleicht etwas zu heftig geworden bin! Aber das war die Begeisterung. Es ist ein großes Glück für jeden anständigen Menschen, dass es solche Kerle auch heute noch gibt, die mit Herz und Hand für das Gute eintreten, die rücksichtslos und ohne Gnade das Schlechte vernichten, wo immer sie es antreffen, die mit der Waffe in der Faust ihr eigenes Leben einsetzen, damit den andern – den Spießern, den Schlemmern, den reichen Taugenichtsen in der Stadt das Gesindel vom Leibe gehalten wird! Habe da einmal einen stinkreichen Protzen gekannt, der so viel Geld besessen hat, dass er es gar nicht mehr zählen konnte. Dann kam der Tag, wo es ihm an den Kragen gehen sollte, wo er die Hilfe des Obersten anrief, da er von der Polizei Friskos nicht viel hielt. Hoppi Bennet hatte nämlich öffentlich gedroht, den fetten Gent totzuschießen wie einen räudigen Hund, da er eine ganze Reihe von anständigen Farmern um Haus- und Grundbesitz gebracht hatte. Und was glaubst du, Söhnchen, was der Oberst zurückdepeschiert hat?“

„Keine Ahnung, Väterchen!“

„Er hat geantwortet, dass er nicht daran denke, seine erfolgreichen Männer in den Dienst von Menschen zu stellen, die diese Hilfe nicht wert seien! Solche Gents, Söhnchen, die wohl eine Masse Geld und schöne Häuser, dafür aber einen nichtsnutzigen, schmutzigen Charakter haben,’ gibt es hier in Frisko eine ganze Menge. Niemals aber wird sich einer der Sinclar-Leute für ihre Ziele einspannen lassen. Das hat man nun wieder deutlich im ,Pavian’ erlebt! Auch diese Spelunke gehörte trotz ihrer Erbärmlichkeit einem dieser verdammten Kerle, die im Nabob-Hill-Viertel ihren eigentlichen Wohnsitz haben. Um Geld zu verdienen, ist diesen Protzen jedes Mittel recht. Da verlegen sie ihre Tätigkeit sogar in den Slum der Stadt. Mike Howard hat eine Menge verdient an diesem Job ...“

„Wer ist das – Mike Howard?“

„Das war der Besitzer des ,Pavian’, Söhnchen! Er liebte es, starke Männer um sich zu haben. Er ließ es sich etwas kosten, als Rausschmeißer, Thekenhelfer und Barmixer ausgesuchte Boxchampions und Meisterringer zu beschäftigen! Waren verteufelt harte Schläger, die im ,Pavian’ Dienst taten! Sie waren im Handumdrehen noch mit jeder aufsässigen Gesellschaft fertig geworden! Es war eine wahre Freude gewesen, den Boys bei der Arbeit zuzusehen! Sie verstanden ihren Job! Sie beherrschten ihr Handwerk! Habe es selbst einmal mit eigenen Augen gesehen, Söhnchen, wie sie mit einer Horde Seeleute umgesprungen sind, die an den Preisen im ,Pavian’ herumzumeckern wagten. Es war furchtbar gewesen! Die Kerle hatten den Teufel im Leib und sie waren so wild wie eine Herde Mustangs, die Durst leidet. Da aber waren sie an einen Boy der Sinclar-Gruppe geraten! Söhnchen, hast du schon einmal das Wort Stampede gehört?“

Samuel Brady nickte. Was er da erfuhr, war ja hochinteressant. „Erzähle weiter, Alter!“ antwortete er schnell. Er konnte es kaum erwarten, nähere Einzelheiten über die Vorkommnisse der letzten Tage zu erfahren.

„Eine solche Stampede musste durch den ,Pavian’ gebraust sein! Die Boxchampions und Meisterringer, der ganze Stolz Mike Howards, wurden so jämmerlich zusammengehauen, dass sie schworen, keine einzige Minute mehr an ihren alten Arbeitsplatz zurückzukehren. Nicht mehr für viel Geld und gute Worte. Sie liegen mit dicken Verbänden und steifen Schienen im St.-Anna-Hospital! Das ist aber noch nicht alles, Söhnchen! Eine ganze Anzahl Kerle, Gäste des ,Pavian’, die sich in den großen Kampf eingemischt hatten, waren bei dieser Gelegenheit auch mit groggy gegangen! Das war alter Pioniergeist, Söhnchen! Das war ein Stück aus der vergangenen, guten, alten Zeit, wo der Mann noch etwas galt! Und was glaubst du wohl, wer dieses Wunderwerk vollbracht hat? Ein einzelner Mann! Und was für einer! Ein wahrer Riese ...“

„Conny Cöll?“

„Nein, der war es nicht!“, schüttelte Happy-Tim belustigt den Kopf, „der hat zur gleichen Zeit den ,Himmelskeller’ ausgeräuchert! Aber davon später! Der Boy, der aus dem ,Pavian’ einen einzigen, unförmigen Trümmerhaufen machte, der die in ganz Frisko so gefürchteten Kraftmänner Mike Howards wie singende Spielzeugkreisel zwischen den zertrümmerten Tischen und Stühlen herumtrieb, war weit über zwei Meter hoch. Er hatte Schultern wie ein junger Elefant ...“

„Der ,Kleine Benjamin’!“

„Ich staune, Söhnchen!“, grinste der Alte, „wie gut du bei den Sinclar-Leuten Bescheid weißt! Allem Anschein nach bist du doch nicht das traurige Greenhorn, für das ich dich gehalten habe. Also, in den ,Pavian’ kannst du nicht mehr gehen, wenn du in dieser schönen Stadt etwas erleben willst! Auch in den ,Himmelskeller’ nicht, denn dort liegen eine Menge Toter ...“

„Conny Cöll ...?“

„Er war auf eine Abteilung des ,Mandarins’ gestoßen und da muss es eine tolle Schießerei gegeben haben. Und nun, Söhnchen, komme ich auf einen Boy zu sprechen, den ich hoch verehre! Hast du schon einmal den Namen ,Trixi’ gehört?“

„Trixi? Der texanische Wunderschütze? Rede, Alter, sonst zerspringe ich! Du bist wahrhaftig eine Redekanone! Es ist eine Freude, sich mit dir zu unterhalten!“

„Da gibt es nicht viel zu erzählen, Söhnchen!“ fuhr Happy-Tim fort, nachdem er Sam Brady längere Zeit nachdenklich betrachtet hatte. „Die ganze Straße ist schon seit Tagen von der Polizei abgesperrt! Es dringt keine gescheite Nachricht hindurch! Nur so viel ist sicher und gewiss, dass der ,Mandarin’ eine entscheidende Niederlage erlitten hat – die erste, seitdem er in Frisko aufgetaucht ist! Aber nun sicherlich nicht die letzte! Dieser vortreffliche G-Mann hat beide Magazine seiner schweren Colts auf die gelben Halunken abgeschossen! Etwas ist aber doch an die Öffentlichkeit gedrungen, nämlich – dass es keine Verwundeten im ,Himmelskeller’ gegeben hat, sondern nur – Tote! Weitere zwei Kerle, langgesuchte Schwerverbrecher, soll man mit durchbissener Kehle aufgefunden haben ...“

„Schwarzwolf ...!“