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Siegfried Jäger

Kritische Diskursanalyse

Eine Einführung

Image Edition des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung im UNRAST Verlag, Münster Image

Die Edition DISS wird im Auftrag des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung herausgegeben von Gabriele Cleve, Margarete Jäger, Siegfried Jäger, Jobst Paul, Thomas Quehl, Alfred Schobert (†) und Iris Tonks.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Siegfried Jäger: Kritische Diskursanalyse
ebook UNRAST Verlag, August 2016
ISBN 978-3-95405-022-2

Edition DISS Bd. 3
6., vollständig überarbeitete Auflage, Oktober 2012
© UNRAST-Verlag, Münster 2012
Postfach 8020, 48043 Münster,
Tel. (0251) 666293, Fax. (0251) 666120
www.unrast-verlag.de

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Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Umschlag: Unrast Verlag
Satz: Unrast Verlag

Inhalt

1. Vorwort. Nicht am grünen Tisch …

2. Einleitung: Es geht nicht um Sprache, sondern um Wissen

2.1. (Nicht nur) ein Konzept qualitativer Sozial- und Kulturforschung

2.2. Die Rezeption Foucaults in der Sprachwissenschaft

2.3. Die Rezeption in den Sozialwissenschaften

3. Ein bisschen Theorie muss sein: Diskurs und Dispositiv

3.1. Diskurstheorie und Diskursbegriff

3.1.1. Diskurstheoretische Ansätze im Überblick

3.1.2. Die Rezeption der Foucaultschen Diskurstheorie bei Jürgen Link

3.1.2.1. Nach erneuter Lektüre … Links Diskursbegriff im Wandel, wirklich?
3.1.2.2. Der Diskursbegriff der KDA und seine Erweiterung durch den Raumbezug

3.1.3. Widerständige Räume und widerständige Zeiten: Heterotopien und Heterochronien

3.2. Diskurse »spiegeln« nicht. Zum Verhältnis von Diskurs und »Wirklichkeit«:

3.3. Der Macht-Wissens-Komplex, das Subjekt und die Vielfalt von Widerstandspunkten

3.4. Vom Diskurs zum Dispositiv: Äußerungen und Aussagen, der Streit der Disziplinen um das Diskursverständnis und das Problem der Wirkung von Diskursen

3.4.1. Vorbemerkung: Ein Vorgriff auf die Methode

3.4.2. Foucault ist kein Sprachwissenschaftler, aber …

3.5. Diskurstragende Kategorien und einige Überlegungen zur Wirkung von Diskursen: Normalismus und Kollektivsymbolik

3.5.1. Normalismus: locker-flexibel- und/oder knallhart-proto-normalistisch

3.5.2. Wir kennen sie alle: Kollektivsymbole

3.5.3. Erkennungskriterien für die Kollektivsymbolik

3.5.4. Eine diskurstragende Katergorie: Die Bedeutung der Kollektivsymbolik

3.6. Über die Kollektivsymbolik hinaus? Weitere Versuche, die Analyse von Bildern für die Diskursanalyse nutzbar zu machen

3.6.1. Pictorial und Iconographic Turns: Nicht-sprachliche Bilder

3.6.2. Schlussfolgerungen für die KDA

4. Diskurs und Dispositiv: Diskursanalyse als Herzstück der Dispositivanalyse

4.1. Der Geruch der Sprache

4.2. Definitionen und Defizite

4.3. Die Erweiterung der Kritischen Diskursanalyse zur Dispositivanalyse

5. Die Methode der Diskurs- und Dispositivanalyse

5.1. Das Wissen der Diskurse? Und was ist mit den Dispositiven? Vorbemerkung

5.2. Methode, Wahrheiten und Träume

5.3. Die Diskurstheorie ist keine Sprachtheorie

5.4. Analyse und Struktur sprachlich performierter Diskurse

5.4.1. Hinweise zur Gliederung

5.4.2. Terminologisch-pragmatische Vorschläge zur Strukturierung sprachlich performierter Diskurse

6. Die Methode der Diskurs- und Dispositivanalyse: eine »Gebrauchsanweisung«

6.1. Der Gesamtverlauf einer Diskursanalyse sprachlicher Performanzen: Analyseschritte im Überblick

6.2. Erläuterung der Analyseschritte bei sprachlich performierten Diskursen 91

7. Die Methode der Dispositivanalyse

7.1. Vorbemerkung: Die Werkzeugkiste ist offen

7.2. Einige Bemerkungen zur Terminologie

7.3. Wie kann man ein Dispositiv analysieren?

7.4. Der Ablauf einer Dispositivanalyse

7.4.1. Vorbemerkung

7.4.2. Gesamtverlauf der Analyseschritte bei Dispositivanalysen

7.4.3. Erläuterung der einzelnen Analyseschritte

7.4.3.1. Vorbemerkung
7.4.3.2. Die Analyseschritte im Einzelnen

8. Weitere Hinweise für Diskurs- und Dispositivanalysen: Zeit und Raum, Materialgrundlagen (Archiv, Korpus, Dossier), Kontext, Vollständigkeit, Prognose, Kritik, politischer Nutzen, Vorschläge zur politischen Praxis

8.1. Zeiten und Räume, in denen die Diskurse »fließen« und die Dispositive prozessieren

8.1.1. Der Fluss der Diskurse/Dispositive durch die Zeit

8.1.2. Der Fluss der Diskurse durch die Räume

8.1.3. Heterotopien und Heterochronien

8.2. Das Problem der Gewinnung von zuverlässigen Materialgrundlagen für Diskurs- und Dispositiv-Analysen

8.2.1. Vorbemerkung: Archiv, Korpus und Dossier für die Analyse aktueller und historischer Gegenstände

8.2.2. Das gesamtgesellschaftliche Archiv »ist in seiner Totalität nicht beschreibbar.« (AW, S. 189)

8.2.3. Die Materialgrundlage für aktuelle Diskurse und Dispositive: Korpus und Dossier sind der Analyse nicht äußerlich

8.3. Historisch-diachrone Diskurs- und Dispositivanalyse

8.4. Noch einmal: Kontext

8.5. Das Problem der Vollständigkeit: Überlegungen zur Möglichkeit qualitativer Analysen beim Vorliegen großer Materialmengen 129

8.6. Zur prognostischen Kraft von Diskursanalysen

8.7. Kritische Diskurs- und Dispositivanalyse

8.7.1. Überlegungen zur Arbeit der WissenschaftlerInnen und insbesondere zur Arbeit der DiskursanalytikerInnen

8.7.2. Reflexion eigener Erfahrungen in Verbindung mit diskursanalytischen Untersuchungen

8.7.3. Weiterführende Schlussfolgerungen: Über den Positivismus hinaus

8.7.4. Was aber heißt kritische Diskursanalyse?

8.7.5. Also doch eine Standpunktkritik?

8.7.6. Noch einmal: Kritische Diskursanalyse, die Wahrheit und die Moralen

8.8. Der politische Nutzen der Diskurs-/Dispositvanalyse: Widerstand

8.9. Vorschläge zur politischen Praxis

9. Ausstieg

Anhang

Leben im Brennpunkt. Der öffentliche Diskurs über den Stadtteil Gelsenkirchen-Bismarck/Schalke-Nord und seine Auswirkungen auf die Bevölkerung.Auf dem Weg zur Dispositivanalyse …

Vorbemerkung im Sommer 2012

Einordnung und Zielsetzung

Inhaltliche und methodische Voraussetzungen

Die Sicht von ›Sozialmanagern‹ auf den Stadtteil Gelsenkirchen-Bismarck/Schalke-Nord

Die Probleme des Stadtteils

Die Probleme im Stadtteil

Die Perspektiven

Ergebnisse der Analyse von Printmedien

Außenwahrnehmung des Stadtteils bzw. der Region

Analyse der Berichterstattung in der TAZ seit 1986

Ergänzende Analyse weiterer Print-Medien

Binnensicht der Presse auf den Stadtteil Gelsenkirchen-Bismarck/Schalke-Nord

Der Stadtteil-Diskurs in den Medien

Der Stadtteil im Alltagsdiskurs. Analysen von Tiefeninterviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern des Stadtteils Gelsenkirchen-Bismarck/Schalke-Nord

Analyse der Einzelinterviews

Vergleichende Analyse der Tiefeninterviews

Das Bild von sich und den anderen

Einwanderung im Stadtteil

Der Geschlechterdiskurs im Stadtteil

Der Sozialdiskurs im Stadtteil

Der Generationendiskurs im Stadtteil

Krankheit im Stadtteil

Der Politikerdiskurs im Stadtteil

Gelsenkirchen-Bismarck/Schalke-Nord: lohnens- und lebenswertes Quartier?

Zusammenfassung und Bewertung

Lösungsansätze

Ausnutzung unterschiedlicher Diskurspositionen stärken Gemeinsamkeiten

Handlungsfähigkeiten entwickeln und mit Kompetenzen ausstatten

Bürokratische Verkrustungen aufbrechen, Hürden überwinden: Von der Betreuung zur Beratung

Von der Diskurs- zur Dispositivanalyse.

Überlegungen zur Weiterführung eines Stadtteilprojekts.

Vortrag auf dem Workshop des DISS im Mai 2001 (Auszüge)

Weitergehende Fragestellungen

Gibt es ein Stadtteildispositiv?

Analyseschritte einer Dispositivanalyse

Schlussfolgerungen für eine Dispositivanalyse des Stadtteils

Ausblick

Literatur zum Anhang

Literaturverzeichnis

1. Werke Michel Foucaults

1.1. Bücher (chronologisch)

1.2. Vorlesungen

1.3. Kleine Schriften Foucaults (nach Nummern der DE)

1.4. Texte Foucaults und Textsammlungen außerhalb von DE

2. Weitere zitierte und herangezogene Literatur

1. Vorwort. Nicht am grünen Tisch …

Die hier vorliegende 6. Auflage der Kritischen Diskursanalyse (KDA) ist, wie auch die vorangegangenen 5, nicht am grünen Tisch entstanden, sondern beruft sich auf Erfahrungen mit einer Vielzahl empirischer diskursanalytischer Projekte, die seit den frühen 90er Jahren bis in die Gegenwart im Duisburger Institut für Sprachund Sozialforschung (DISS) durchgeführt worden sind.1 Flankiert wurden diese Projektarbeiten durch die intensive Lektüre insbesondere der Foucaultschen Schriften, aber auch durch die verfügbare Sekundärliteratur dazu, wobei die Texte von Jürgen Link und der zeitschrift für angewandte diskurstheorie kultuRRevolution besondere Hervorhebung verdienen. Diese Arbeit fand über weite Strecken in Verbindung mit der 1992 gegründeten Diskurswerkstatt im DISS statt. Daneben hat eine fortlaufende Auseinandersetzung mit Schriften aus dem Bereich der Sozialwissenschaften stattgefunden.

In den Ausgaben der KDA von 1993 und 1999 waren daher die meisten wichtigen Fragen zur Diskursanalyse bereits gestellt und vielfach, so scheint mir, auch angemessen beantwortet, wenn auch nicht in jedem Detail.2

Mit der hiermit vorgelegten Neufassung habe ich versucht, den Duktus der Einführung beizubehalten, auch wenn es sich um eine weitgehende inhaltliche Revision der ursprünglichen Einführung handelt. Diese geht einher mit einer Präzisierung des Diskursbegriffs und des immer noch umstrittenen Konzepts des Dispositivs und damit auch der Dispositivanalyse. Dabei versuche ich die Annahme zu plausibilisieren, dass der Dispositivanalyse im Wesentlichen dieselben diskurstheoretischen Annahmen zu Grunde zu liegen haben, wie der traditionellen Diskursanalyse, die sich nahezu ausschließlich mit sprachlich performierten Diskursen befasst hat. In beiden geht es ja darum, das Wissen zu bestimmen, das sprachlich performierten Diskursen und nicht-sprachlich performierten Diskursen zugewiesen wird.3 Im Zentrum dieser neuen Einführung steht nach wie vor die Frage nach dem politischen Nutzen der Diskursanalyse, der zwar gelegentlich noch bestritten wird, letztlich jedoch weitgehend anerkannt ist.

Kritische Diskursanalyse ist keine beliebige Methode, die sich vorhandener sozialwissenschaftlicher oder auch germanistisch-linguistischer Verfahren bedient, sondern sie ist dicht an eine Theorie rückgebunden: die Foucaultsche Diskurstheorie. Daher kann man sie auch als angewandte Diskurstheorie bezeichnen. Deshalb habe ich auch versucht, die wichtigsten Elemente dieser Theorie im Zusammenhang zu entfalten, so dass diese Einführung auch als Hinführung zur Foucaultschen Diskurstheorie gelesen werden kann, bevor eine Methode der darauf basierenden Diskurs- und Dispositivanalyse vorgeschlagen wird. Damit ersetzt sie die Primärlektüre der Werke Foucaults nicht, im Gegenteil: sie kann nur zu ihrer intensiven Lektüre anregen.4 Zuzugeben ist: Foucault selbst hat keine in sich geschlossene Methode der Diskursanalyse aufgeschrieben. Sein Verfahren, besser: seine Verfahren lassen sich jedoch aus seinen Schriften heraus rekonstruieren. Und, wie angedeutet, Foucault verfährt nicht nach Schema F und wendet nicht eine bestimmte Vorgehensweise immer wieder an, sondern bereichert, verändert, verbessert, umkreist seine eigene Vorgehensweise immer wieder aufs Neue. Dem versucht diese Einführung dadurch Rechnung zu tragen, dass sie sich als offenes Konzept versteht, als »Werkzeugkiste«, in die je nach Notwendigkeit immer wieder neue Werkzeuge hineingelegt werden können und oft auch müssen. Und es gilt auch das Umgekehrte: Nicht alle Instrumente müssen oder können verwendet werden, wenn dies der untersuchte Gegenstand nicht verlangt. Denn die Vielfältigkeit und Komplexität des »diskursiven Gewimmels« ist niemals zu antizipieren; die Werkzeugkiste, die für die Analyse der Diskurse bereit steht, ist daher immer offen. Die eigene intellektuelle Kreativität der Diskursanalytikerin soll nicht, ja kann nicht in ein schematisches Prokrustesbett gezwängt werden, und spanische Dressur-Stiefel, die diese in ein Schema zwängten, sind nicht angesagt.

Kritische Diskursanalysen, wie sie hiermit angezielt werden, sind nur am Rande an Sprache interessiert, denn »Die Sprache existiert nur als Konstruktionssystem für mögliche Aussagen.« (AW, S. 124). Und darum geht es: Die Ermittlung von möglichen Aussagen als den Atomen der Diskurse. Kritische Diskursanalyse ist an Inhalten und Verhältnissen interessiert, die sie kritisiert. Sie tut dies, ohne sich im Besitz objektiver Wahrheit zu wähnen, und übt Wahrheitskritik an solchen Wahrheiten, die als angeblich objektiv und ewig gültig durchgesetzt werden, sei dies mit Drohmitteln oder Heilsversprechen. Diskursanalysen haben zwar auch den Charakter von Rauchmeldern, denn wo Rauch ist, ist auch Feuer. Man könnte sie als Frühwarnsysteme auffassen. Sie können auf Gefahren hinweisen, die noch nicht aktuell sind, es aber unter genauer zu definierenden Bedingungen werden können und in aller Regel auch werden. Zudem erfasst Diskursanalyse historisch relevante, aber auch in der Gegenwart noch mit einem Wahrheitswert aufgeladene Diskurse und macht sie damit kritisierbar und potentiell veränderbar. Sie untermauert damit Proteste und motiviert zu Protesten. Sie selbst versteht sich als absolut gewaltfrei und antifundamentalistisch und widersetzt sich jeglicher Herrschaft von Menschen über Menschen. Sie ist zugleich ein Manifest gegen Duckmäusertum und macht Mut zum Widerstand gegen Ungerechtigkeiten und Unterdrückung/Herrschaft und gegen Blockaden von Macht-Wissensverhältnissen aller Art, die Foucault auch als Herrschaftsverhältnisse bezeichnet.

Somit hat die hiermit vorgelegte Kritische Diskursanalyse einen dreifachen Charakter. Sie versteht sich erstens als Lehrbuch und »Gebrauchsanweisung« für die Erarbeitung von Diskurs- und Dispositivsanalyen, zweitens als wissenschaftlichen Text zum Thema »Diskurs und Dispositiv« und drittens als politischen Text, indem sie Möglichkeiten linker Politik nach dem Ende realsozialistischer Ideologie aufzuzeigen versucht.5

In gewisser Weise »schreibt« jeder Leser/jede Leserin dieses Buches an diesem Buch mit. Zumindest denkt sie oder er mit, wenn er oder sie dieses Buch liest. Das gilt natürlich auch für die Abfassung dieses Buches selbst, an dem viele mitgeschrieben haben. Das gilt zum einen für die Verfasser all der Werke, auf die ich mich bezogen habe (siehe Literaturverzeichnis), deren Texte ich jemals gelesen habe, ohne sie hier alle zitieren zu können, aber auch diejenigen, mit denen ich zusammengearbeitet und diskutiert habe. Das gilt in erster Linie, aber nicht nur, für die MitarbeiterInnen im DISS und in der Diskurswerkstatt im DISS. Sie alle haben sich an diskursanalytischen Projekten beteiligt. Hervorheben möchte ich die MitverfasserInnen des »Lexikons Kritische Diskursanalyse«, das 2010 erschienen ist und an dem 16 Leute mitgearbeitet haben.6 Dieses Lexikon ist für die Abfassung dieser Einführung überaus hilfreich gewesen bis hin zu der dadurch gegeben Möglichkeit zu teils wörtlichen Übernahmen ganzer Passagen und Definitionen. All den damit Angesprochenen möchte ich danken, und mit jedem Zitat in diesem Buch wird sich dieser Dank wiederholen.

Danken möchte ich zusätzlich Frank Oynhausen, der mich bei der Herstellung und technischen Umsetzung der Abbildungen unterstützt hat.

Siegfried Jäger, Duisburg, im August 2012

2. Einleitung: Es geht nicht um Sprache, sondern um Wissen

2.1. (Nicht nur) ein Konzept qualitativer Sozial- und Kulturforschung

Die Kritische Diskursanalyse (KDA) versteht sich im Kern als ein Konzept qualitativer Sozial- und Kulturforschung, wobei sie sich zugleich auch auf linguistische Phänomene bzw. die Linguistik und weitere Disziplinen bezieht, zumindest auf eine Reihe interessanter Instrumente aus den Human- und Sozialwissenschaften.7 Diese sind immer, ob sie es zugeben oder nicht, politisch, auch wenn sie beanspruchen, rein deskriptiv vorzugehen.8 Reine Beschreibung verfestigt den Status quo und lässt ihn als selbstverständlich und kaum hinterfragbar erscheinen. Dem gegenüber ist davon auszugehen, dass Human- und Sozialwissenschaften immer schon gesellschaftliche Wirklichkeit gedeutet haben, und das geschah und geschieht immer auf dem Hintergrund eines Wissens, das das jeweilige, auch wissenschaftliche Subjekt im Lauf seines Lebens erworben hat, in das es sozusagen hineingeboren worden ist, das ihm vermittelt wurde, das aber auch während seines Lebens in bestimmten Zeiten und Räumen mancherlei Veränderungen erfahren hat. Dies zu reflektieren, wenn es um die Deutung von »Wirklichkeit(en)« geht, zu wissen, dass man auch als Wissenschaftler immer Position bezieht, auch wenn man sich dessen vielleicht nicht bewusst ist, hat Leitlinie aller Wissenschaft (und nicht nur der Wissenschaft) zu sein.

Der Historiker Ulrich Brieler spricht in seinem Buch von der »Unerbittlichkeit der Historizität« (Brieler 1998) und meint damit, dass in jede wissenschaftliche Aussage die jeweilige historische Position des/der Sprechenden eingeht.

Michel Foucault konstatierte: Der Wissenschaftler »wirkt oder kämpft auf der allgemeinen Ebene dieser Ordnung der Wahrheit, die für die Struktur und das Funktionieren unserer Gesellschaft fundamental ist. Es gibt einen Kampf ›um die Wahrheit‹, oder zumindest ›im Umkreis der Wahrheit‹, wobei … gesagt werden soll, daß ich unter Wahrheit nicht ›das Ensemble der wahren Dinge, die zu entdecken oder zu akzeptieren sind‹ verstehe, sondern ›das Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet wird‹; daß es nicht um einen Kampf ›für die Wahrheit‹ geht, sondern um einen Kampf um den Status der Wahrheit und um ihre ökonomisch-politische Rolle. Man darf die politischen Probleme der Intellektuellen nicht in den Kategorien ›Wissenschaft/Ideologie‹ angehen, sondern in den Kategorien ›Wahrheit/Macht‹.« (Foucault 1978a, S. 53)

Das aber heißt, da wir der Wirklichkeit keine Wahrheiten entnehmen können, dass wir sie immer nur auf der Grundlage unseres eigenen Wissens deuten und es immer einen Kampf um unterschiedliche Deutungen geben wird. Mit anderen Worten: Wissenschaft ist immer schon politisch. Das bedeutet nicht, dass wir als WissenschaftlerInnen und damit Forschende nicht auf möglichst klare Begriffe angewiesen wären, und somit auch keine Beliebigkeit. Es bedeutet aber, dass kein Begriff und keine Theorie den Anspruch auf immer gültige Wahrheit erheben kann. Es gibt keine Werturteilsfreiheit. Man beachte dazu auch die Zuflucht Max Webers zum Konzept der »Idealtypen«, mit denen seiner Ansicht nach oft über lange Zeiträume hinweg sinnvoll gearbeitet werden kann, die gelegentlich aber auch der Revision bedürfen. So spricht er von der Notwendigkeit der »Konstruktion von Zusammenhängen, welche unserer Phantasie als zulänglich motiviert (…) erscheinen« (Weber 1985, S. 192).9

Mag dieses Verständnis von Wahrheit und Begriff irritieren, so vielleicht auch die Charakterisierung dieses Konzepts als inter- und transdisziplinär. Es lässt sich auf Inhalte aller Art ein, auf Themen der Wissenschaften und der Medien, auf Themen der Politik wie des Alltags. Insofern kann man die KDA auch als eine Abteilung der Cultural Studies ansehen, die sich als prinzipiell kontextuell, theoriegeleitet, interventionistisch, inter- und transdisziplinär sowie selbstreflexiv verstehen.10

Diese Einführung beruft sich auf die Schriften Michel Foucaults, ohne die Absicht zu verfolgen, eine Einführung zu Foucault insgesamt darzustellen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf einer Methode der Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse (KDA), also einer »Gebrauchsanweisung«11 für konkrete theoriegeleitete empirische Analysen. Dass diese Methode theoriegeleitet ist, das will ich besonders betonen, denn ich gehe von dem Grundsatz aus, dass die Methoden aller empirischen Verfahren theoretisch begründet zu sein haben, insbesondere aber auch, was die Analyse der empirisch gewonnen Ergebnisse betrifft, also die eigentliche Diskurs- und Dispositivanalyse, die auf die theoretische Rückkopplung angewiesen ist. Diese besteht in der Diskurstheorie Foucaults und lehnt es ab, schematisch anwendbar zu sein. Etwas lockerer formuliert: Es ist Unfug, sich irgendeine Methode beliebig oder auch zufällig auszusuchen und nach Schema F anzuwenden. Es ist daher unerlässlich, dass diese Theorie zunächst in einer ausführlichen Skizze als ausgespanntes begriffliches Netz dargestellt wird.12 Das gilt auch für den hohen und letztlich philosophischen Anspruch, kritisch zu sein und fundierte Kritik überhaupt möglich zu machen. Die primäre empirische Analyse ist allerdings bereits als solche kritisch, weil sie nicht einfach beschreibt, was der Fall ist, sondern weil sie z. B. zeigen kann, was in einer Gesellschaft gesagt und gedacht werden kann und damit zugleich, was nicht gesagt werden kann und/oder einfach nicht gesagt wird, also was jeweils als Wahrheit gilt und was nicht, und was bereits eine Geschichte hat bzw. ein historisches Apriori.13 Es geht also darum, herauszufinden, was als jeweiliges Wissen mit dem Anspruch, wahr zu sein, jeweils kursiert oder gar behauptet, absolut und objektiv wahr zu sein.14 Darüber hinaus versucht die KDA, ethische Maßstäbe an die gefundenen diskursiven Tatsachen anzulegen, die jedoch nicht als absolute Wahrheiten an die Diskurse herangetragen werden, also ihre Kritik/Haltung von außerhalb des diskursiven Gewimmels an dieses anlegt, sondern sich an den diskursiven Kämpfen15 selbst beteiligt und dabei ihre Position zur Diskussion stellt. Hier handelt es sich um nichts anderes als um die politisch-ideologische Diskurs- Position der AnalytikerIn, die bei jeder Analyse immer mit zu reflektieren ist.

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine interdisziplinäre Einführung, nicht um eine linguistische oder auch nicht um eine primär linguistische Einführung, sondern um eine Hinführung zu Diskurs- und Dispositivanalyse, die in allen wissenschaftlichen Disziplinen Verwendung findet oder doch finden kann.

Diese 6. Auflage stellt die erste gründliche Überarbeitung der KDA seit 1999 dar und versucht, Diskursanalyse und Dispositivanalyse zu »versöhnen«, indem sie beide zu Grunde liegende Theorien darauf hin befragt, was ihr gemeinsamer Fluchtpunkt ist. Dieser Fluchtpunkt ist für beide Theorien das Wissen, das mit Diskursen und Dispositiven transportiert bzw. aufgerufen wird. Damit wird ein eindeutig anti-essentialistischer Zugang möglich und die immer noch verbreitete Auffassung, Diskurse seien allein an Sprache gebunden und für die Analyse des Handelns und von Sichtbarkeiten und sog. Vergegenständlichungen seien andere wissenschaftliche Zugänge zuständig, etwa Handlungstheorien und soziologische Theorien, grundsätzlich in Frage gestellt. Bei diesem Versöhnungsversuch hatte ich es mit der Hauptschwierigkeit zu tun, dass es inzwischen zwar eine riesige Fülle von Diskursanalysen gibt, aber kaum Dispositivanalysen.16 Dies schlägt sich auch in den folgenden Ausführungen nieder, die vor allem von sprachlich performierten diskursanalytischen Projekten profitiert haben und die dabei auftretenden Probleme zu lösen versucht haben. Die Ausführungen zum Dispositiv konnten sich teilweise ebenfalls auf solche Erfahrungen stützen,17 bedürfen aber sicherlich der weiteren Differenzierung auf der Grundlage von Erfahrungen mit dispositivanalytischen Projekten, da sich dabei Fragestellungen ergeben werden, die am grünen Tisch kaum zu antizipieren sind.

Ich werde in einem nächsten Schritt den Versuch machen, anhand der diskursanalytischen Bemühungen der Sprachwissenschaft und der Sozialwissenschaften einige typische Probleme zweier Zugänge zu Foucaults Erkenntnissen kritisch deutlich werden zu lassen.18

2.2. Die Rezeption Foucaults in der Sprachwissenschaft

Die Rezeption der wichtigsten Arbeiten Michel Foucaults in den deutschen Sprachwissenschaften hat inzwischen recht erfreuliche Formen angenommen, zumindest im Vergleich zu 1993/99. Das gilt vor allem für die AW, aber in gewisser Weise auch für die OD, die in der sprachwissenschaftlich orientierten Historischen Semantik seit Mitte der 80er Jahre eine Schlüsselrolle spielen.19 Arbeiten Foucaults zu den Macht-Wissens-Beziehungen und zur Genealogie werden jedoch vor allem in Ansätzen Kritischer Diskursanalyse rezipiert.

Insbesondere Dietrich Busse (Düsseldorf ) entdeckte die Bedeutung der AW für die Historische Semantik (Busse 1987). Busse ging und geht es um Begriffe und deren Wandel im Fluss der Zeit. Dieser Wandel wird in den jeweiligen Diskursen sichtbar, wobei er einer »diskurslinguistischen Kontextualisierung« besondere Aufmerksamkeit widmet. »Linguistische Diskursanalyse«, so konstatiert er, »dient der Erfassung des (…) verstehensrelevanten Wissens und schreibt sich damit (…) ein in den die Linguistik überschreitenden Rahmen einer umfassenderen Epistemologie.« (Busse 2007, S. 81).

Busse geht es um Begriffsgeschichte als Bewusstseinsgeschichte. Sein Ziel ist eine historische Semantik als Diskurssemantik. Er versteht »Das Aussagenfeld als Ort des Auftauchens der Begriffe.« (Busse, 1987, S. 230) Nun weiß er jedoch: »Die Diskursanalyse ist zunächst einmal, das ist Foucaults Einstieg, keine Begriffsgeschichte« (ebd., S. 238). Das liege daran, dass Foucault nur über einen »reduzierten Sprachbegriff« (ebd. S. 240) verfüge. Das wird folgendermaßen begründet: »Für die Analyse des Sprechens als Praxis selbst fehlte das Vokabularium, das diese Praxis als genuin sprachliche hätte definieren können.« (ebd. S. 246) Weiter heißt es: »Interpretation ist immer ein aufgrund von Vorannahmen wertender Eingriff in die vorliegenden Phänomene; dieser Eingriff entfernt sich dann von völliger Willkür, wenn die Vorannahmen und die Kriterien des Eingreifens bewußt gemacht werden.« (ebd.)

In Auseinandersetzung mit Busses Arbeiten entwickelte sich in der Diskurslinguistik eine rege Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der Begriffsgeschichte, die zugleich an entsprechende Vorläufer wie Reinhart Koselleck etc. fruchtbar anschließen. (Koselleck 1979, S. 19-36)

Zu erwähnen ist ferner die Heidelberg/Mannheimer Gruppe, zu der Dietrich Busse vom Ursprung her selbst zu zählen ist, sowie Fritz Hermanns (Hermanns 1995) und Wolfgang Teubert (Teubert 1999), die Düsseldorfer Schule, die Mitte der 1980er Jahre von Georg Stötzel gegründet wurde und sich zunächst der Sprachgeschichte seit 1945 widmete20, später jedoch auch einen Foucaultschen Diskursbegriff adaptierte.

Diskursanalyse, die im Sinne Foucaults Diskurs als Kette von Aussagen bzw. von Atomen der Diskurse versteht und Diskurse als Ganze analysieren möchte, tat sich gegenüber den skizzierten begriffsgeschichtlichen Ansätzen im Hinblick auf die Rezeption Foucaults zunächst erheblich schwerer. Sie sah sich von Foucault selbst eher auf die Ebene der Äußerungen verwiesen und zögerte lange, sich auf das Gebiet der Aussagen sowie auf Fragen von Macht-Wissens-Beziehungen einzulassen. Infolge dessen verharrte sie lange in der (auch noch relativ jungen) Tradition der Textlinguistik, mit der seit Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts die Sprachwissenschaft den Sprung vom Satz zum Text gewagt hatte:

Beredten Ausdruck findet dieses Zögern etwa in Arbeiten von Ingo Warnke (Kassel). Warnke bezieht sich zwar auf Textfolgen und nicht allein auf lexikologische Fragen, aber er fasst Diskurslinguistik als dezidiert »performanzorientiert« auf. Ihr Gegenstand sei »eine Menge von Aussagen im Sinne sprachlicher Oberflächenphänomene (…) insoweit sie zur selben diskursiven Formation‹ (AW, S. 170) gehört.« (Warnke 2007, S. 13)

Die interdisziplinäre Öffnung, die zugleich Möglichkeiten von Macht- und Herrschaftskritik beinhaltet, hat jedoch in der Sprach- (und Literatur-)Wissenschaft längst stattgefunden.

In die Richtung einer Öffnung der Diskurslinguistik weist ein Artikel von Albert Busch (Busch 2007). Weiterführend sind auch Arbeiten von Martin Wengeler (Wengeler 2003 sowie Wengeler 2007), in denen er Topoi als feste Bilder und Bestandteile diskursiven Wissens untersucht, das aus sprachlichen Äußerungen zu erschließen sei. Topoi seien als »Aussagen« zu verstehen. Es handle sich wie bei Metaphern und Begriffen auch um Diskurssegmente. Gemeint sind spezifische Argumentationstopoi, die stereotyp bei bestimmten Themen auftauchen, z.B. Missbrauch in Verbindung mit Einwanderung. (Wengeler, S. 169) Man könne sie auch als kontextspezifische Argumentationsmuster bezeichnen. (ebd. S. 170) Sie erscheinen nicht an der sprachlichen Oberfläche, sondern seien Abstraktionen aus Äußerungen bzw. Texten. Es handele sich um Denkfiguren des Herangehens an eine politische Fragestellung. (ebd., S. 172f.)

Die Diskurslinguistik bewegt sich so teilweise noch vor der Demarkationslinie zur eigentlichen Foucaultschen Diskursanalyse, gleichzeitig ist sie aber sichtlich dabei, diese Demarkationslinie zu überschreiten: Das gilt insbesondere für Warnke/ Spitzmüller (Hg.) 2008, ein Sammelband mit einer Reihe durchaus anregender Ansätze.

2.3. Die Rezeption in den Sozialwissenschaften

Die Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, insbesondere vertreten von einer Arbeitsgruppe um Reiner Keller, vereint mit der hermeneutischen Wissenssoziologie in Anschluss an Berger/Luckmann und der Diskursforschung in Anschluss an Foucault zwei Traditionen der sozialwissenschaftlichen Analyse von Wissen. Diskurstheoretische und diskursanalytische Perspektiven werden in der Tradition der soziologischen Wissensanalyse verortet. Diskurse bezeichnet Keller als »institutionell-organisatorisch regulierte Praktiken des Zeichengebrauchs.« (Keller 2005, S. 10.) Wie in der KDA wird davon ausgegangen, dass in und vermittels von Diskursen von gesellschaftlichen Akteuren im Sprach- bzw. Symbolgebrauch die soziokulturelle Bedeutung und Faktizität physikalischer und sozialer Realitäten konstituiert wird. Ziel der wissenssoziologischen Diskursforschung sei es, Prozesse der sozialen Konstruktion von Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. kollektiven Akteuren zu erforschen und deren gesellschaftliche Wirkungen offen zu legen.

Mit dem zweibändigen »Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse«, das seit 2001 von Keller/Hirseland/Schneider/Viehöver in mehrfachen Ausgaben und einer Reihe von Erweiterungen herausgegeben wurde, hat die sozialwissenschaftliche Diskursanalyse eine Art Siegeszug durch sämtliche Disziplinen der Sozialwissenschaften und darüber hinaus angetreten und erheblich dazu beigetragen, das neue Paradigma sozusagen wissenschaftsfähig zu machen. Die beiden Bücher versammeln eine Vielzahl von Ansätzen zu Theorien und Methoden der Diskursanalyse, die sich größtenteils auf Foucault berufen, diesen aber teilweise sehr unterschiedlich rezipieren. Sie dokumentieren damit einen intra-disziplinären Pluralismus, der zugleich durch die unterschiedlichen akademischen Herkünfte der AutorInnen gekennzeichnet ist. Dieser »Alb der alten Disziplinen« könnte nur und auch nur teilweise überwunden werden, wenn eine dichtere Foucault-Rezeption stattfände, worauf auch die kritische Diskussion zum Stand der Forschung aufmerksam macht. Die Lektüre dieser Bände ist in jedem Fall aber dringend zu empfehlen, wenn sie nicht mit der Erwartung verbunden ist, die eine und einzig richtige Methode der Diskursanalyse ausfindig zu machen. In den inzwischen vergangenen über zehn Jahren seit dem ersten Erscheinen des Handbuchs hat eine lebhafte Diskussion der verschiedenen Ansätze stattgefunden, die zugleich zu einer Fülle von Projekten, Artikeln, Monographien und Einführungen aus unterschiedlichen Fachperspektiven geführt hat.21

3. Ein bisschen Theorie muss sein: Diskurs und Dispositiv

»Wir sind überzeugt, wir wissen, dass alles in der Kultur spricht.«
(Foucault DE 1, S. 794)

»Der Diskurs ist genauso in dem, was man nicht sagt, oder was sich in Gesten, Haltungen, Seinsweisen, Verhaltensschemata und Gestaltungen von Räumen ausprägt. Der Diskurs ist die Gesamtheit erzwungener und erzwingender Bedeutungen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse durchziehen.«
(Foucault DE 3, S. 164)

»Es gibt keinen Gegensatz zwischen dem, was getan, und dem, was gesagt wird.« (Foucault 1976, S. 118)

»›Diskurs‹ ist (bei Foucault) lediglich die sprachlich-schriftliche Seite einer ›diskursiven Praxis‹.«
(Link/Link-Heer 1990, S. 90)

Solche Bemerkungen machen stutzig: Alles spricht? Der Diskurs ist genauso in dem, was man nicht sagt? Also auch in Gesten, in Haltungen, Seinsweisen, Gestaltungen? Wir werden sehen!

3.1. Diskurstheorie und Diskursbegriff

3.1.1. Diskurstheoretische Ansätze im Überblick22

Es kann mir im Folgenden nicht darum gehen, die Diskurstheorie Michel Foucaults im einzelnen und in all ihren Verzweigungen, Veränderungen und unterschiedlichen Rezeptionen nachzuzeichnen, zumal die Debatte zu Foucault und seine Rezeption andauert und weiter andauern wird. Dazu verweise ich auf die Fülle von Untersuchungen und einführenden Darstellungen, die sich genau dies zum Ziel gesetzt haben. Hervorheben möchte ich die Arbeiten von Jürgen Link und Ursula Link/Heer (bes. seit 1982)23, Kammler 1986, Dreyfus/Rabinow 1987, Demirovic 1988b, Kögler 1994; Brieler 1998, Sarasin 2003, Keller 2004 sowie Keller u.a. 2001ff. und ihr verdienstvolles Handbuch, das einen Überblick über eine Vielzahl von theoretischen und methodischen Annäherungen an Foucault und seine Rezeption ermöglicht.24 Besonders hinweisen möchte ich auf die Untersuchung von Lemke 1997, die nachweist, dass Foucaults Werk keineswegs so uneinheitlich und ziellos ist, wie einige Kritiker ihm das vorwerfen, insbesondere aber auch, dass von einer radikalen (ethisch-moralischen) Wende im Spätwerk Foucaults nicht die Rede sein kann. Lemke zeigt, dass sich Foucaults Konzept »entwickelt« und in dieser Entwicklung durchaus gedankliche Kontinuität aufweist, ohne dass gewisse Sackgassen und Irrwege zu übersehen seien.25 – Hinzuweisen ist zudem auf die Gouvernementalitätsstudien von Bröckling/Krasmann/Lemke (Hg.) 2000 und auf Demirovic 2008, wo es um das Verhältnis von Foucault zu Marx geht.26

Die für mich überzeugendste Einführung zu Foucaults Gesamtwerk aber enthält die Arbeit von Ulrich Brieler mit dem Titel »Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker«, das 1998 erschienen ist und unbedingt parallel zur Rezeption der Arbeiten Foucaults gelesen werden sollte. Diese profunde Einführung ist keineswegs nur für HistorikerInnen wichtig, wie der Titel vielleicht suggerieren könnte.27 Überaus wichtig ist auch das von Kammler/Parr/Schneider 2008 herausgegebene Handbuch Foucault, in dem die Werke Foucaults, seine zentralen Begriffe, wie auch die wichtigsten disziplinären Verzweigungen der Foucaultschen Diskurstheorie diskutiert werden.

Im Unterschied zu solchen Darstellungen verfolgt das vorliegende Buch das Ziel, Grundlagen zu schaffen für ein praktikables Verfahren der Diskursanalyse, für eine »Herangehensweise« bzw. eine Art »Gebrauchsanweisung« mit deren Hilfe empirische Analysen durchgeführt werden können.28 Der theoretische Hintergrund, der zu diesem Behufe ausgebreitet werden muss, kann sich demzufolge nur als »Skizze« verstehen, das vorgeschlagene Verfahren als die Bereitstellung einer »Werkzeugkiste«, mit der man durchaus kreativ und eigenständig umgehen sollte. Dieser Terminus »Werkzeugkiste« stammt im übrigen von Foucault selbst, welcher schreibt: »Alle meine Bücher … sind kleine Werkzeugkisten. Wenn die Leute sie aufmachen wollen und diesen oder jenen Satz, diese oder jene Idee oder Analyse als Schraubenzieher verwenden, um die Machtsysteme kurzzuschließen, zu demontieren oder zu sprengen, einschließlich vielleicht derjenigen Machtsysteme, aus denen diese meine Bücher hervorgegangen sind – nun gut, umso besser.« (Foucault 1976, S. 53) Die theoretische Rückbindung der Methode ist allerdings unverzichtbar, denn Methode allein hängt gleichsam beliebig und oft positivistisch in der Luft. Dem gegenüber ist Diskursanalyse in gleicher Weise auf Methode und Theorie angewiesen, was sofort einleuchten wird, wenn man Arbeiten sichtet, die z. B. auf die Macht-Wissens-Theorie Foucaults verzichten zu können glauben. Der Leser/ die Leserin mag dabei staunend vor der angehäuften Tatsachenfülle stehen und die Texte danach jedoch ratlos zur Seite legen.

Als erstes möchte ich nun knapp und im Überblick einige Ansätze vorstellen, die sich selbst als diskurstheoretisch begreifen, sich aber auf unterschiedliche Diskursbegriffe bzw. unterschiedliche Erläuterungen vorgegebener Diskursbegriffe stützen.29 Auf diesem Hintergrund wird es möglich sein, meinen eigenen an Foucault orientierten Ansatz deutlicher herauszuarbeiten.

So geht etwa Konrad Ehlich (Ehlich 1986) von der Pragma-Linguistik aus und knüpft an der angelsächsischen Version des Diskursbegriffs an, ohne sich restlos mit ihr zu identifizieren. In seinem »funktional-pragmatischen Ansatz« fasst Ehlich Diskurs lediglich als spezifische Verbindungen von sprachlichen Handlungen auf (vgl. ebd. S. 27) und geht davon aus, dass »der Diskurs über die Kombinatorik von Sprechsituationen verstanden werden kann.« (ebd. S. 28) Er definiert:

»Diskurse verstehe ich als über den Zusammenhang von Zwecken konstituierte Musterfolgen, die sich an der sprachlichen Oberfläche als Abfolge sprachlicher Handlungen darstellen.« (ebd. S. 27)

Damit setzt er sich sowohl gegenüber dem Habermasschen wie auch gegenüber dem »französischen« (= Foucaultschen) Diskursverständnis ab.30

Stephen C. Levinson kritisiert Konzepte der Diskursanalyse der angelsächsischen Tradition (etwa van Dijk 1972, Labov /Fanshel 1977) und wirft ihnen methodologische und theoretische Schwächen vor; er favorisiert die sog. Konversationsanalyse von Sacks/Schlegloff/Jefferson 1978, Pomerantz 1978 und anderen, weil sie streng empirisch arbeiteten und voreilige Theoriebildung vermieden. (Vgl. Levinson 1990, S. 285-293) Zu beachten ist jedoch, dass etwa van Dijk in späteren Arbeiten theoretisch sehr differenzierte Analysen vorgelegt hat, die an die KI-Forschung anknüpfen (Vgl. etwa van Dijk/Kintsch 1983), sowie eine Fülle empirischer Untersuchungen, die sich auf eine Vielzahl von Diskursebenen beziehen (vgl. u. a. van Dijk 1993, 2008, 2009).31

Norman Fairclough (1992, 1993 und 2009) versucht eine Art kritischer Diskurs-Linguistik zu entwickeln, bei der er sich gelegentlich auch lose an Foucault orientiert, linguistisch zudem an der multifunktionalen Sprachtheorie Michael A. K. Hallidays (Halliday 1978, 1985).32

Im Unterschied zu Konrad Ehlich setzt Wolfgang Luutz bei seiner Untersuchung zum Zerfall der DDR einmal an der Textlinguistik und zum zweiten in Abgrenzung zum Habermasschen Diskursbegriff bei Foucault an. Auf diese Weise will er

»einen Zugang zur sozialen Wirklichkeit, allgemeiner gesprochen, zu Seinsstrukturen über Sprachstrukturen bzw. Texten suchen. Der Ausgangspunkt seiner Untersuchung sind also Sprachpraktiken, nicht die soziale Wirklichkeit, wie sie irgendwie unabhängig von Sprache existiert. (s. Luutz 1994) –

In seinem Buch »Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand. Sprache im Nationalsozialismus« hat Utz Maas (1984) eine Diskurstheorie vorgestellt und in Gestalt einer Reihe von Textanalysen anzuwenden versucht. Maas begreift Texte als »Inskriptionen sozialer Praxis«. Für ihn ist – im Unterschied zu Michel Foucaults Diskursverständnis – ein Text »Ausdruck, bzw. Teil einer bestimmten gesellschaftlichen Praxis«. Ihm geht es also nicht darum, beabsichtigte oder gar tatsächliche »Wirkungen« bzw. Folgen eines Textes zu bestimmen, sondern er sieht in Texten den »Ausdruck« bestimmter zeitgeschichtlicher Denkweisen, die mittels der Analyse herauszufiltern, zu rekonstruieren seien. Diese Art von eher ideologie-kritisch orientierter Diskursanalyse stellt einen Beitrag einer diskurstheoretisch aufgeladenen Sprachwissenschaft zur Geschichtsforschung dar. –

Franz Januschek versteht unter Diskurs sowohl das komplexe System zusammengehörender Äußerungen33 und Texte (institutionell, sozial, thematisch, ökonomisch) wie auch einzelner Äußerungen und Texte, die Bestandteile dieses Komplexes sind oder sich auf ihn beziehen bzw. beziehen lassen. Nach Januschek vermittelt der Diskurs die Sprache mit dem Sprechen. Die Entwicklung des Diskurses geschieht durch die Tätigkeit des Sprechens oder Schreibens. (Januschek 1986, s. auch Bredehöft 1994) Dieser Ansatz steht dem Foucaultschen deshalb nahe, weil er Sprechen als Praxis versteht, die Wirklichkeit konstituiert. Januschek entwickelt sein Konzept von Diskursanalyse im Rahmen einer »Linguistik der Anspielung« (Januschek 1991). Für ihn ist zentral für das Verständnis des Diskurses, dass sich seine Bedeutung erst auf der Ebene von Anspielungen erschließt. Anspielungen sind dabei nicht als individuelle Assoziationen aufzufassen. Er untersucht systematisch Anspielungen, indem er die Verstehensmöglichkeit ermittelt, die eine sprachliche Ausdrucksform im Unterschied zu allen anderen Ausdrucksformen im Diskurs eröffnet. Januschek hat eine Vielzahl von Analysen vorgelegt, insbesondere auch solche, die sich mit den Auslassungen des österreichischen Rechtspopulisten Jörg Haider auseinandersetzen (Januschek 1991, 1994)34 oder auch mit der Grabrede für einen ehemaligen Nazi-Richter und wichtigen Politiker in der BRD nach 1945. (Januschek 2008)

Einen diskursanalytisch und kritisch orientierten Ansatz vertritt auch die Wiener Arbeitsgruppe um Ruth Wodak (vgl. z. B. Wodak/Nowak/Pelikan/Gruber u.a. 1990).35 Die Arbeitsgruppe untersucht eine Vielfalt von Textsorten und begründet damit die Notwendigkeit »vielfältiger Methoden«. (ebd. S. 32) Genannt werden die Theorie sprachlichen Handelns, die Soziolinguistik, die linguistische Vorurteilsforschung und die linguistische Argumentations- und Erzählforschung. Erwähnt werden ferner die qualitative Textanalyse, Stilistik, Fragen der Rhetorik und der persuasiven Kommunikation. Diese Ansätze sind hier die Basis für eine »diskurshistorische Methode«. (vgl. ebd. S. 33ff.)363738