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Über dieses Buch:

Der Auftrag, die Familienchronik des Conte di Calvi zu schreiben, führt Laura in die Lombardei. Sie hofft, durch ihre neue Aufgabe und die idyllische Umgebung Ablenkung von schweren Schicksalsschlägen zu finden und endlich zur Ruhe zu kommen. Doch in der gräflichen Villa herrscht eine bedrückende Stimmung, die Laura immer häufiger zur Flucht in den wunderschönen Garten treibt. Dort entdeckt sie die Marmorbüste einer Frau mit traurigem Blick. Die fast unwirkliche Schönheit und Melancholie der Statue faszinieren Laura – und sie stellt Nachforschungen über deren Herkunft an. Dabei stößt sie auf ein dunkles Kapitel in der Vergangenheit der di Calvis, das die Familie noch bis heute überschattet …

Über die Autorin:

Geboren an der norddeutschen Küste zog es Constanze Wilken nach einem Studium der Kunstgeschichte, Politologie und Literaturwissenschaft für einige Jahre nach England. Im wildromantischen Wales entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Schreiben, aber auch für Antiquitäten. Die Forschungen zur Herkunft seltener Stücke und ausgedehnte Reisen der Autorin sind Inspiration und Grundlage für ihre Romane.

Constanze Wilken veröffentlichte bei dotbooks bereits ihre Romane »Die Frau aus Martinique«, »Die vergessene Sonate« und »Das Geheimnis des Schmetterlings«.

Die Autorin im Internet: constanze-wilken.de

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eBook-Neuausgabe Dezember 2016

Copyright © der Originalausgabe 2006 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin/Marion von Schröder Verlag

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/pakpoon

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-757-4

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Constanze Wilken

Was von einem Sommer blieb

Roman

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Für Magdalena,

die in Bergamo eine neue Heimat fand

Prolog

Pietro blies den weißen Staub von ihrer Stirn. Mit den Fingern fuhr er die Linien ihres feinen Profils entlang, das er in vielen Sitzungen eingehend studiert hatte. Er hatte sie beobachtet, wenn sie lächelte, amüsiert über eine seiner Bemerkungen, oder ihn ironisch in seine Schranken wies, wenn er sich ihr auf eine Weise näherte, die das in ihren Augen angemessene Maß überschritt. Ihr Verhältnis war das eines Künstlers zu seinem Modell. Nur war sie nicht irgendein Modell, das er auf der Straße oder in der Akademie aufgelesen hatte. Sie war die Frau seines Auftraggebers, und er durfte es sich mit dem Conte nicht verderben, denn dieser Auftrag war seine letzte Chance, sich einen Namen als Bildhauer zu machen und endlich den Schatten seines berühmten Meisters zu verlassen.

Seufzend legte Pietro den Meißel aus der Hand und polierte die Oberfläche der weißen Marmorbüste, bis sie glänzte. Seine Freunde in der Werkstatt hatten ihn einen Narren gescholten, daß er das sichere Einkommen als Mitarbeiter des verehrten Meisters gegen die unsichere Existenz als freischaffender Künstler eintauschen wollte. Doch Pietro hatte nur mit dem Kopf geschüttelt, alle Einwände mit seinen von der harten Steinmetzarbeit geformten Händen zur Seite gefegt und sich auf den Weg in den Norden gemacht. In einem Lederbeutel trug er sein Kapital, seine Werkzeuge, mit sich. Er war mit seinem Meister von Florenz nach Carrara in die Steinbrüche gegangen und hatte dort nach dem perfekten Stein gesucht. Atemlos hatte er daneben gestanden, als sein Vorbild mit kräftigen gezielten Schlägen aus dem Stein schlug, was in seinem Kopf als fertiges Bild vorhanden war. »Man muß die Figur nur vom Stein befreien«, sagte sein Meister immer. Pietro wußte, daß er es mit diesem begnadeten Mann, dessen Talente sich auf die Malerei wie auf die Baukunst und die Dichtkunst gleichermaßen erstreckten, niemals aufnehmen könne. Doch genauso wußte er, daß er das besondere Talent hatte, die Seele eines Menschen zu schauen und in Stein zu bannen. Im Schatten eines Genies jedoch war kein Raum für seine stille Kunst, und deshalb war Pietro, der aus dem kleinen Dorf Clusone stammte, zurück in seine Heimat gegangen, wo er hoffte, einen Auftrag bei dem für seine Liebe zur Kunst bekannten Conte in Bergamo zu erlangen.

Er hatte eine Probearbeit für den Conte anfertigen müssen, einen kleinen Engel, der sehnsuchtsvoll nach oben schaut. Diese Aufgabe war eine Leichtigkeit für Pietro gewesen, denn mit solchen Figuren hatte er Altäre und Kapellen in rauhen Mengen bestückt. Bevor er mit der Arbeit begann, beobachtete er mehrere Tage lang den kleinen Jungen des Stallmeisters, der im Garten mit den Tieren spielte. Der Engel erhielt das Gesicht des Jungen, und der Conte erkannte, wen Pietro porträtiert hatte. Damit war der Auftrag ihm sicher gewesen. Als er erfuhr, um welche Aufgabe es sich handelte, war er zuerst erschrocken, denn als er der Contessa Filomena das erste Mal angesichtig wurde, verschlug ihm ihre Schönheit den Atem. Er zweifelte, ob er dieses vollkommene Antlitz in Stein hauen und ihm auch nur im entferntesten gerecht werden könne. Daß der Conte seine Frau über die Maßen liebte und wie eine Kostbarkeit von unschätzbarem Wert behandelte, machte die Aufgabe nicht leichter. Das kritische Auge des liebenden Gatten würde keine Unvollkommenheit dulden und den geringsten Fehler sofort erkennen.

Pietros Hände zitterten, als Filomena sich zur ersten Sitzung in einen Sessel ihm gegenüber setzte und ihm unter ihren langen seidigen Wimpern einen forschenden Blick zuwarf. Sie tat genau, was er sagte, drehte, neigte oder hob den Kopf, wie er es von ihr verlangte, ohne sich zu beklagen. Als er jedoch die Kreide aus der Hand legte und auch den fünften Entwurf zerriß, begann sie zu lachen. Ihr Lachen füllte den lichtdurchfluteten Raum. Es lagen weder Kritik noch Schadenfreude in diesem Lachen. Sie lachte, weil sie sich seiner Unsicherheit ihr gegenüber bewußt war und ihm die Scheu vor ihrem vollkommenen Äußeren nehmen wollte.

»Lassen Sie mich doch einen dieser furchtbaren Entwürfe, die Sie so wütend zerrissen haben, ansehen.« Mit eleganten Bewegungen erhob sie sich aus dem Sessel und nahm eines der Blätter, die auf dem Fußboden lagen, in die Hand. Sie drehte es hin und her und meinte dann: »Ich bin keine Statue, auch wenn Sie eine aus mir machen sollen. Ich bin eine Frau aus Fleisch und Blut. Lassen Sie sich von meinem Gatten nicht einschüchtern. Ich atme. Sehen Sie sich diese Zeichnung an. Darin ist kein Leben.«

Pietro nahm das Blatt aus ihren schlanken Händen, die nur einen Ring trugen, entgegen. Sie hatte recht. Das Porträt war leblos. Was er dort abgebildet hatte, war ein Symbol der Schönheit, aber nicht diese Frau.

»Wir sollten uns unterhalten. Kommen Sie, gehen wir in den Garten. Ich zeige Ihnen meinen Lieblingsplatz.« Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sich Filomena um und verließ den Raum. Ihre Kleider raschelten, und der süßliche Duft ihres Haares hing leicht in der Luft, als er ihr folgte. Erst jetzt nahm er die Wölbung ihres Leibes unter dem sich im Wind bauschenden Stoff ihres Kleides wahr. Noch nie hatte er eine Frau gesehen, der ihre Schwangerschaft so gut stand wie Filomena. Sie schritt vor ihm durch die verzweigten Wege des kunstvoll angelegten Gartens. Hier und da strich sie mit den Fingern über eine Blüte oder einen Strauch. Nach einigen Minuten bog sie um eine dichte Buchshecke, und er glaubte schon, sie verloren zu haben, als er das Plätschern des Wassers hörte und sie auf einer Bank vor der kleinen Grotte entdeckte. Die Sonne schien warm in die Nische, in der die steinerne Bank stand, das Wasser glitzerte, und ein Vogel badete in einer Pfütze, die sich neben der Grotte im Sand gebildet hatte.

Filomena bedeutete ihm, sich neben sie zu setzen. »Ist das nicht wunderschön? Domenico hat die Grotte für mich anlegen lassen. Ich liebe das Meer, und wenn ich die Muscheln hier an den Wänden sehe und das Wasser höre, dann fühle ich mich zu Hause.«

Sie erzählte ihm, daß sie aus einer verarmten Adelsfamilie Siziliens stammte, einer Seitenlinie der Bourbonen. Ihre Kindheit hatte sie am Meer verbracht, wo die Familie in einem halbverfallenen Palazzo mehr schlecht als recht lebte. Die karge Schönheit der süditalienischen Insel erstand vor seinen Augen, während sie von den antiken Ruinen und der felsigen Küste erzählte, an der sie gelebt hatte.

Fasziniert lauschte Pietro den Worten dieser Frau, deren äußere Schönheit nur von ihrer Natürlichkeit und der Klarheit ihrer Seele übertroffen wurde. Ohne jede Scheu erzählte sie von ihrer Liebe zu Domenico und den anfänglichen Schwierigkeiten, die ihr das Leben in dem städtischen Palazzo bereitet hatte. Die Menschen im Norden waren weniger impulsiv, und Filomena lernte, ihre Direktheit hinter einem Mantel aus Verhaltensregeln zu verbergen. Ihr Mann jedoch verstand ihre Liebe zur Natur und respektierte ihren Wunsch nach einem persönlichen Rückzugsraum, in dem sie frei von gesellschaftlichen Zwängen ihren Gedanken nachhängen konnte. Der gesamte Garten wurde nach ihren Wünschen umgestaltet.

Pietro hörte zu, und in ihm entstand ein ganz anderes Bild von ihr, die er anfangs als Ikone betrachtet hatte. Wochenlang suchte er nach dem richtigen Stein, bis er einen ebenmäßig gemaserten Marmorblock fand, dessen Weiß in seiner Reinheit dem strahlenden Geist dieser Frau entsprach. Und nun war es so weit. Pietro wischte ein letztes Mal über die lebensgroße Büste und trat drei Schritte zurück. Ja, das war Filomena, das war die Contessa, die Gattin und werdende Mutter und auch das Mädchen, das das Meer liebte. Er hatte den Stein in lebendiges Fleisch verwandelt. Unter der zarten Haut pulsierten Adern, und die in die Ferne gerichteten Augen sprachen von Liebe und Sehnsucht. Eine Andeutung ihres dichten Haares schmiegte sich um die wohlgeformten Wangen. Es war ihm gelungen, ihr Wesen darzustellen, und er wußte, daß er ein Meisterwerk geschaffen hatte.

***

In den vergangenen Tagen war der Termin der Geburt immer näher gerückt. Seit zwei Wochen mußte sie liegen, weil sie von Fieber und Krämpfen geplagt wurde. Der Conte hatte alle Ärzte der Stadt in den Palazzo beordert, doch die bedrückten Gesichter, die Pietro auf den Fluren begegneten, verhießen nichts Gutes. Man schrieb das Jahr 1521, und Bergamo wurde von den Franzosen belagert. Die Lage war bedrohlich, denn die Soldaten waren von den seit zwölf Jahren andauernden Kämpfen mit Frankreich und Spanien erschöpft. Das Geld wurde knapp, und viele der Söldner hatten sich aus dem Staub gemacht, als der Sold nicht mehr gezahlt werden konnte. Der Conte behandelte seine Untergebenen mit milder Härte und wurde von den meisten geschätzt. Die Wachen hatten ihre Aufmerksamkeit im Palazzo verdoppelt. Sie sprachen mit gedämpften Stimmen, und es schien fast so, als vermieden sie es, ihren Fürsten mit dem Ernst der militärischen Lage zu konfrontieren, denn der Schmerz um seine leidende Frau stand dem Conte ins Gesicht geschrieben. Mit abwesendem Blick und tiefen dunklen Rändern unter den Augen lief er rastlos durch die Räume.

Plötzlich hörte Pietro schnelle Schritte auf den Fluren, Türen schlugen auf und zu, und dann durchzog ein erschütternder Schrei das Haus. Es war nicht der Schrei eines Neugeborenen, sondern der Schmerzensschrei eines Mannes, der sein Liebstes verloren hat. Nie in seinem Leben würde Pietro diesen Schrei vergessen, der Verzweiflung, Wut und Hoffnungslosigkeit in sich vereinte. Als die Tür aufschwang und der Conte mit blutverschmierten Kleidern und bleichem Gesicht eintrat, sah Pietro einen gebrochenen Mann vor sich. Wortlos, mit zusammengepreßten Lippen ging der Conte auf die Büste seiner soeben verstorbenen Frau zu. Pietro verharrte regungslos an seinem Platz. Der Schmerz des Mannes vor ihm ließ ihn vergessen, wem er hier gegenüberstand. Mit bebenden Händen umfaßte Domenico das marmorne Antlitz und drückte seine Lippen auf den kalten Mund. Pietro hielt den Atem an, denn er meinte, jeden Moment müsse das steinerne Bildnis zum Leben erwachen.

Im Hof ertönte Hufgetrappel und Waffen klirrten. Das Holz der massiven Eingangstür barst unter donnernden Schlägen, und schwere Stiefel marschierten zu lauten Befehlen durch die Räume.

Kapitel 1
Eine Villa in Bergamo

Ihr Blick schweifte über sanft ins Tal fallende Hügel. Das satte Grün der Wiesen wechselte sich mit dem dunkleren Grün der Weinreben ab, die sich links unterhalb der Stadtmauer hinabzogen. Zypressen säumten den Kamm einer Hügelkette zu ihrer Rechten. Sie mochte die schlanken Bäume, die immer bemüht schienen, einander an Eleganz und Höhe zu übertreffen. Die kühlen alten Steine der Stadtmauer fühlten sich rauh unter ihren Ellenbogen an, doch es machte ihr nichts aus, denn die Sonne brannte aus dem Zenit auf sie herab und jede Kühlung war willkommen.

»Die verehrungswürdige Unbekannte« hatte Le Corbusier Bergamo einmal genannt, und tatsächlich gab es wohl keine zweite Stadt in der Lombardei, die trotz ihres Zaubers so unbekannt geblieben war. Daß Bergamo noch unentdeckt war, gefiel Laura, denn Ströme von Touristen, die die Stadt begierig nach fotografierwürdigen Plätzen und Gebäuden durchkämmten, hätte sie nicht ständig ertragen. Nicht nach dem, was sie in den letzten zwei Jahren durchlitten hatte.

Sie atmete tief ein und trat einen Schritt von der Mauer zurück. Die Aussicht war fast zu schön, doch der aus der Unterstadt, der Città Bassa, herauftönende Verkehrslärm riß sie aus ihren Gedanken und kündete vom pulsierenden Leben des modernen Bergamo. Von dem sich weit ins Tal erstreckenden Häusermeer der Città Bassa glitt ihr Blick wieder hinauf zu den Zypressen. Dort oben, gerade unterhalb eines terrassenförmig abfallenden Gartens, lag die Villa di Calvi. Das fast flache rötliche Dach, das so typisch war für den italienischen Baustil, schimmerte durch die alten Bäume, und der massige Bau der Villa war auch aus der Ferne gut zu erkennen.

In diesem sandfarbenen Prachtbau sollte sich für die nächsten Monate ihr Leben abspielen. Laura drehte sich um und begann durch den kleinen Park, in dem Hunde und Kinder herumtollten, in Richtung der Oberstadt, der Città Alta, zu gehen. Die heiße Luft machte nicht nur ihr zu schaffen. Die Hunde legten sich nach wenigen Metern hin und hechelten, bevor sie ihr Spiel wiederaufnahmen, und fast alle Spaziergänger waren mit Mineralwasserflaschen ausgerüstet, was Laura daran erinnerte, selbst etwas zu trinken. Das lauwarme Wasser rann ihre trockene Kehle hinab. Laura warf die leere Flasche in einen Abfalleimer. Der Schweiß lief ihr über die Stirn, und zielstrebig steuerte sie nun die Altstadt an, in der sie Schatten in den engen Gassen finden würde.

Sie war ihrem Onkel dankbar, daß er ihr diese Arbeit vermittelt hatte, sonst säße sie noch jetzt in dem kleinen Ferienhaus ihrer Eltern an der nordfriesischen Küste und haderte mit sich und ihrem Schicksal. Anteilnahme und gute Ratschläge hatte Laura genug gehört, und sie hatte gehofft, in der Abgeschiedenheit der kargen Inselwelt zu sich selbst zu finden, denn Selbstmitleid brachte sie nicht weiter. Das endlose Grübeln hatte sich als wenig hilfreich erwiesen, weshalb sie sofort auf den Vorschlag ihres Onkels eingegangen war. Giorgio Ginori, kurz Gigi, war der Bruder ihrer Mutter und seit ihrer Kindheit ihr Lieblingsonkel. Die italienische Familie ihrer Mutter war riesig, und sie wußte manchmal nicht genau, wer alles dazugehörte. Ihre Mutter, Mariana, stammte aus Neapel, wo heute fast alle Ginoris lebten. Nur Gigi und sein Bruder Salvatore hatten zwei Restaurants im Norden Italiens aufgemacht, die sich als Goldgrube des verzweigten Familien-Unternehmens erwiesen, das aus mehreren kleinen Hotels und Restaurants in Neapel und einer Pizzeria in Crotone bestand. Gigi war mit sechsundfünfzig Jahren vier Jahre jünger als ihre Mutter und hatte drei Töchter, Nina, Ida und Franca, die ungefähr in Lauras Alter waren. Nina, mit zweiunddreißig die Älteste, lebte in Mailand, wo ihr Mann, Dino, als Chefkoch Gigis Restaurant leitete. Nina kam ganz nach ihrer Mutter, Rosa. Sie war eine resolute und praktische Person, die, ohne zu murren, mit anpackte, wenn einmal eine Kraft in dem gutgehenden Restaurant ausfiel. Dino hätte gern viele Kinder gehabt, aber Nina hatte nach der Geburt eines Jungen entschieden, daß die wenige Zeit, die das Restaurant für das Privatleben übrigließ, nur für ein Kind reichte. Laura mochte Nina sehr und bewunderte sie für ihre Gelassenheit, die sie trotz der vielen Arbeit nie verlor. Ida, die zweite der Schwestern, lebte mit Mann und zwei Kindern in Verona. Carlo und Ida hatten sich mit einem Steuerbüro selbständig gemacht und sahen den Rest der Familie eigentlich nur zu festlichen Anlässen. Laura lächelte, als sie an die kleine Franca dachte, die inzwischen auch schon sechsundzwanzig war, aber noch so quirlig und voller Ideen wie damals, als sie zusammen die Ferien an den Stränden bei Neapel verbracht hatten. Nach dem Besuch einer Schule für Modedesign hatte Franca eine Stelle bei einem bekannten Designer in Mailand gefunden und sich dann mit einer kleinen Boutique in Bergamos Altstadt selbständig gemacht. Franca brachte jeden zum Lachen, genau wie ihr Vater, und Laura besuchte sie gern auf ihren Erkundungsgängen durch die Stadt.

Vor einem kleinen Laden, in dessen Fensterauslagen getrocknete Pilze in dekorativen Holzkistchen und Olivenöl in hübschen kleinen Flaschen ausgestellt waren, blieb sie stehen. Warum war sie nicht schon längst nach Italien gefahren? Seit sie Gigi und Rosa bei ihrer Ankunft in Bergamo gesehen hatte, war ihr bewußt geworden, daß sie sie vermißt hatte, daß sie alle vermißt hatte. Fast zwei Jahre hatte sie in dem kleinen Häuschen hinter dem Deich verbracht, allein nur mit sich und der Arbeit, die sie gelegentlich bekam. In dem kaum bewohnten Koog hatte man zwar einen wunderschönen Blick auf ausgedehnte grüne Wiesen, das Meer jedoch bekam man nur bei Hochwasser zu Gesicht, und mit dem Wagen brauchte sie dreißig Minuten bis in die nächste größere Ortschaft. Ihre Eltern hatten sich besorgt gezeigt, als sie von den Plänen ihrer Tochter, dort in der Einsamkeit zu sich finden zu wollen, hörten. Ausgesprochen hatten sie es nicht, doch in ihren mitfühlenden Mienen stand die Befürchtung, ihre Tochter könne in eine Depression fallen. Aber sie war stark genug, dem Schmerz nicht die Oberhand zu gewähren. Zeit hatte sie gebraucht. Zeit, um sich mit der neuen Situation abzufinden, und dazu war es notwendig gewesen, sich ihrem gewohnten Leben für eine Weile zu entziehen. Sie warf einen letzten Blick auf die Pilze, beschloß jedoch, zuerst Gigi zu fragen, ob die Waren hier gut waren, denn manches wurde auch nur touristengerecht ansprechend verpackt. Langsam schlenderte sie weiter. Nein, die Ruhe hatte ihr gutgetan, daran bestand kein Zweifel, und jetzt war es an der Zeit, sich wieder dem Leben zu stellen. Sie war Gigi für sein Angebot sehr dankbar und beschloß, das Beste daraus zu machen. Laura strich sich die halblangen dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht, rief einer älteren Frau hinter einem Blumenstand ein freundliches »Ciao« zu. Die Alte stand jeden Tag an dieser Ecke und bot kleine Sträuße aus Seidenblumen an.

Sie schritt weiter die Via Gombito hinauf, die auf die reizvolle Piazza Vecchia mündete, und fand, daß es auch die unverbindliche und dennoch herzliche Freundlichkeit der Menschen war, die sie in Deutschland vermißt hatte. Rolf Marcussen, ihr Vater, war ein hochgewachsener blonder Norddeutscher, der in seiner stillen zurückhaltenden Art weit von der lebhaften und manchmal aufbrausenden Natur seiner Frau entfernt war. Laura liebte ihre Eltern und bewunderte die für jeden sichtbare Zärtlichkeit, mit der die beiden äußerlich so verschiedenen Menschen auch nach mehr als fünfunddreißig Jahren Ehe miteinander umgingen. Rolf war ein pensionierter Deutsch- und Lateinlehrer, der Mariana während eines Studienaufenthaltes in Neapel kennen- und liebengelernt hatte. Mariana verließ das Restaurant ihrer Eltern und folgte ihrem Mann nach Deutschland. Das Kochen liebte sie jedoch nach wie vor, und sie vermittelte ihre Leidenschaft in Kursen, die sie an der örtlichen Volkshochschule gab.

Aus den Bars und Bistros schlugen Laura die verführerischsten Düfte entgegen: gebackenes Brot mischte sich mit Pizza und Kuchen. Ihr Magen knurrte. Vielleicht sollte sie sich ein Stück der herrlich saftigen Pizza gönnen, die es in dem Bistro ihr gegenüber gab. Die Schlange wartender Menschen, die sich in der Eingangstür drängten, hielt sie davon ab. Ein Panino tat es auch. Sie kaufte sich ein schmales mit Käse und Schinken belegtes Brötchen und schlenderte weiter durch die Gasse. Seit knapp einer Woche war sie nun schon in Bergamo und hatte nichts weiter getan, als sich die Stadt anzusehen. Gigi hatte ihr nur erzählt, daß der Conte ein etwas introvertierter, aber durchaus sympathischer Mann war, mit dem sie sicher gut zusammenarbeiten würde. Laura war skeptisch gewesen, denn eine Familienchronik zu übersetzen war eine Sache, der sie sich gewachsen fühlte, sie war ausgebildete Übersetzerin, diese Chronik jedoch auch zu schreiben war etwas ganz anderes, und sie zweifelte, ob es richtig gewesen war, den Auftrag anzunehmen. Der Conte Massimo di Calvi war einer von Gigis Stammgästen, sowohl in seinem Mailänder wie auch in dem Bergamasker Restaurant. Dazu kam, daß die Kanzlei di Calvi die Rechtsbetreuung der Ginoris in der Lombardei versah.

Laura seufzte. Bisher war sie Massimo di Calvi noch nicht begegnet. Mafalda hatte sie in seinem Namen willkommen geheißen, ihr die Bibliothek gezeigt und ihr empfohlen, sich mit den Unterlagen und der Umgebung vertraut zu machen, bis er wieder zurück sei. Die Unterlagen waren ein unsortierter Haufen Bücher und Akten, mit denen Laura wenig anzufangen wußte, denn man hatte ihr noch nicht erklärt, worauf es dem Conte bei der Chronik ankam. So hatte sie begonnen, die Papiere nach ihrem Erscheinungsdatum zu ordnen. Dafür hatte sie kaum einen halben Tag gebraucht und stand nun wie auf Abruf, denn niemand in der Villa konnte ihr sagen, wann der Conte zurückerwartet wurde.

Jedesmal wenn sie die Villa verließ, gab sie Mafalda, die zusammen mit ihrem Mann Gaspare als Hausmeisterehepaar fungierte, Bescheid. Sie hatte der einsilbigen Frau, die sie auf siebzig Jahre schätzte, auch die Nummer ihres Mobiltelefons hinterlassen, obwohl sie bezweifelte, daß Mafalda überhaupt wußte, was das war, aber sie konnte sich ja auch täuschen. Laura war vor dem Geschäft ihrer Cousine angekommen. »Franca G.« stand in schön geschwungenen Buchstaben über der Tür, die beim Aufschwingen ein zartes Klingeln ertönen ließ. Mit den Fingern tippte sie das Glockenspiel an und sah sich in dem schmalen, ansprechend gestalteten Laden um. Franca verkaufte nur Stücke aus ihrer eigenen Kollektion und arbeitete daran, diese auch irgendwann auf einer der großen Modenschauen zu präsentieren. Laura strich über ein Seidenkleid und bewunderte die gewagte Farbzusammenstellung.

»Gefällt es dir? Probier es doch an.« Franca kam aus dem hinteren Teil des Ladens, in dem sich ihr Büro und eine kleine Kaffeeküche befanden.

»Ciao, Franca!« Sie drückte ihre Cousine an sich, die ihr rasch einen Kuß gab und auf das Kleid deutete.

»Warum probierst du es nicht an?« Kurzgeschnittene dunkle Haare betonten Francas ebenmäßiges Gesicht. Sie trug ein schlichtes schwarzes Shirt und enge Jeans, die auf den Hüften saßen und ihren durchtrainierten Bauch sehen ließen.

»Nein, nein, dafür bin ich nicht der richtige Typ.« Neben ihrer grazilen Cousine kam Laura sich immer blaß und unattraktiv vor und legte auch jetzt eine Hand auf ihre wohlgerundete, aber eben nicht magere Hüfte.

Franca seufzte. »Wann begreifst du endlich, daß du eine schöne weibliche Figur hast? Du mußt sie nur richtig in Szene setzen und dann ...« Sie pfiff durch die Zähne. »Dann kann ich dich nicht mehr allein auf die Straße lassen.«

Lächelnd antwortete Laura: »Das glaube ich wirklich nicht. Komm, laß uns einen Espresso trinken gehen. Bei der Hitze kauft sowieso niemand etwas. Die kommen erst wieder gegen Abend.«

»Ja, leider. Vielleicht schließe ich überhaupt bis vier Uhr einfach zu.« Franca sah sich kurz um, holte ihre Handtasche und schloß den Laden ab.

Gemeinsam gingen sie zur Piazza Vecchia, an der es eine nette Espressobar gab. Ein junger Kellner kam sofort zu ihnen, strahlte Franca freundlich an und fragte:

»Das Übliche?«

Franca nickte. »Zwei Espressi, bitte, und zwei große Mineralwasser. Was für eine Hitze! Ich wünschte, ich hätte ein Haus am See, wie diese reichen Nichtstuer, die nur zu überlegen brauchen, ob sie heute an den Lago Maggiore oder in ihre Villa an der Adria fahren. Ahhh ...« Sie streckte die Beine aus und warf Laura einen neugierigen Blick durch ihre Sonnenbrille zu. »Was Neues?«

Laura lachte. »Ich bin wirklich froh, daß du jetzt hier bist. In der Villa leben nur diese beiden Fossilien, die fast lautlos durch das Haus schleichen. Ich wage ja kaum, etwas anzufassen, aber Mafalda kocht wie eine Göttin, das muß ich ihr lassen.«

»Wahrscheinlich der einzige Grund, warum sie noch dort ist.« Franca nippte an ihrem Espresso.

»Ich weiß nicht. Sicher bin ich ungerecht. Das Haus ist riesig und in einwandfreiem Zustand. Kein Staub auf den Möbeln, die Böden glänzen, als würden sie täglich gewischt, und der Garten ist einfach ein Traum. Ich komme mir vor wie ein unerwünschter Eindringling, der den jahrhundertealten Rhythmus in dieser Villa stört.« Laura gab zwei Löffel Zucker in ihren Espresso, obwohl sie eigentlich auf Süßes verzichten wollte, aber anders schmeckte ihr der starke Kaffee nicht.

»Ich sehe sie manchmal in der Stadt. Selten. Seit sie einmal eine Bluse für ein Fest in der Villa kaufen wollte, ist sie mir bekannt. Meine Güte, die hat geschimpft wie ein Rohrspatz, als ich ihr die Preise gesagt habe. Also liebe Frau, habe ich ihr erklärt, das hier sind handgenähte Designerstücke, nicht die Fabrikware aus den Kaufhäusern.« Franca zuckte mit den Schultern. »Sie hat nichts gekauft.«

Laura sah die schmale alte Frau mit dem geraden Mund, den sie noch nie hatte lächeln sehen, vor sich, und fand Francas Schilderung mehr als glaubwürdig. »Ich hoffe nur, daß der Conte anders ist.«

»Laß es einfach auf dich zukommen. Sollte es schiefgehen, wohnst du bei mir. Und dann sind da ja immer noch Papa und Mamma.«

Laura trank einen großen Schluck Mineralwasser. »Es ist sehr lieb von dir, das zu sagen. Deine Eltern sind überhaupt großartig, aber sie haben genug mit dem Restaurant zu tun und leben ja auch nicht ständig hier. Manchmal ist Onkel Gigi in Mailand, dann in Neapel – wo er eben gebraucht wird. Es wird schon alles gutgehen. Ich soll ja nur eine Chronik schreiben und sie dann ins Englische übersetzen. Die Übersetzung macht mir die geringsten Sorgen. Aber ich habe noch nie selbst etwas verfaßt, das ist viel schlimmer. Hoffentlich hat dein Vater dem Conte nicht das Blaue vom Himmel über mich erzählt.«

Franca grinste. »Und wennschon. Dann lächelst du charmant, und er kann dir gar nicht böse sein.«

»Franca! Ich kann das nicht. Und außerdem ist er wesentlich älter.«

Ihre Cousine zog die Augenbrauen hoch. »Ich glaube nicht, daß wir über denselben Mann sprechen. Den Conte di Calvi, den ich kürzlich auf einer von Darias Vernissagen gesehen habe, ist höchstens Ende Vierzig und noch lange nicht jenseits meiner sündigen Gedanken.«

Laura errötete und räusperte sich. »Das ist mein Arbeitgeber, weißt du. Also ich würde mir die Galerie dieser Daria gern kurz anschauen, und dann mache ich mich auf den Rückweg. Ich möchte noch einige Papiere durcharbeiten.«

Die Kunstgalerie von Daria della Gherolamo, die den vieldeutigen Namen »V« trug, lag in einer Seitenstraße der Piazza Vecchia. Laura mochte die kleine Piazza, die aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammte und früh zum Treffpunkt und einer Art Vorhof des sakralen Zentrums geworden war. Am südlichen Ende der Piazza befanden sich der Dom San Vincenzo und daneben die Basilika Santa Maria Maggiore. Dicht an der nördlichen Vorhalle der Basilika stand die filigrane Cappella Colleoni mit ihrer schmuckreichen Fassade aus schwarzem, rotem und weißem Marmor. Laura bewunderte diesen ungewöhnlichen Bau, der zur lombardischen Frührenaissance gehörte und auf Florentiner Architektur zurückzuführen war. Durch ihre Arbeit an der Familienchronik der di Calvis würde sie sich in der nächsten Zeit eingehender als jeder Tourist und sicher auch mancher Bergamasker mit der Stadtgeschichte befassen.

Sie schaute über den Platz, in dessen Mitte ein mit Sphingen und Löwen geschmückter Brunnen eine kleine Fontäne aufsprudeln ließ. Nur vereinzelte Touristen und Passanten wagten sich in der heißen Mittagssonne hinaus, die Vernünftigeren hielten sich in den schattigen Bogengängen oder kühlen Innenräumen auf. Franca war Lauras Blicken gefolgt und deutete auf den Brunnen.

»Der Contarini-Brunnen, nach dem venezianischen Bürgermeister Alvise Contarini benannt. Siebzehnhundert und irgendwas gestiftet. Der Brunnen wurde im neunzehnten Jahrhundert abgebaut, weil man ein Denkmal für Garibaldi, den großen Befreier, bauen wollte. Dann hat man es sich wieder anders überlegt. Aber wir müssen hier entlang, wenn wir zu Daria wollen.«

Laura nickte. »Hast du hier mal Stadtführungen gemacht?«

»Oh nein, das nun wirklich nicht, aber siehst du den kleinen Andenkenladen dort neben dem Treppenaufgang zum Turm?« Sie blieben kurz stehen, und Franca winkte in die Richtung. Ein alter Mann löste sich aus dem Schatten der Häuserwand und winkte zurück.

»Das ist meine Quelle. Bertolino ist so eine Art Institution hier auf der Piazza Vecchia. Er kennt die Geschichte der Stadt und kann dir die abenteuerlichsten Begebenheiten erzählen, über die Zeiten unter den Venezianern, den Österreichern, einfach alles. Ein netter alter Kauz.«

Laura warf einen Blick zurück auf die schmale Silhouette des alten Mannes, dessen graue Kleidung sich kaum vom Mauerwerk unterschied, und nahm sich vor, ihn bei Gelegenheit zu fragen, was er über die di Calvis wußte. Sie bogen in eine kopfsteingepflasterte Gasse, deren gepflegte Häuserfassaden von wenigen vornehm wirkenden Schaufenstern aufgelockert wurde. Vor einer großen dreiteiligen Fensterfront blieb Franca stehen. Laura sah das große »V« über dem Eingang und betrachtete die unförmigen Gebilde aus einem undefinierbaren Werkstoff, die im ersten Fenster ausgestellt waren. Mit Kunst hatte sie sich nur wenig beschäftigt und mußte gestehen, daß sie den seltsamen Gegenständen nichts abgewinnen konnte. Hoffnungsvoll wandte sie den Blick den Leinwänden zu, die in den anderen Fenstern ausgestellt waren, doch auch dort fand sie nur düstere Farbflecken, die wahllos aufgetragen schienen.

»Nicht so dein Fall, oder?« Franca schob sie zur Tür hinein. »Meiner auch nicht. Aber ich liebe Vernissagen, und deshalb bin ich sehr nett zu Daria. Weißt du, man trifft dort interessante Menschen und vor allem auch solche, die genügend Geld haben, gelegentlich ausgefallene Designerkleidung zu kaufen.«

Bei ihrem Eintreten war keine Klingel ertönt, doch im selben Augenblick schritt aus einem der hinteren Räume, eine auffällige Erscheinung. Auf den ersten Blick schätzte Laura die in einen asiatisch geschnittenen Seidenanzug gekleidete Frau auf dreißig Jahre, revidierte ihr Urteil aber, sobald Daria della Gherolamo Franca die Hand reichte und mit rauchiger Stimme sagte: »Buon giorno, Franca, wen bringst du mir denn heute mit?« Daria musterte Laura kurz mit dem geübten Blick des Verkäufers und schien sie sofort als unbedeutend eingeordnet zu haben. »Eine Freundin?«

Franca stellte Laura vor und erwähnte, daß sie für Massimo di Calvi arbeitete, wobei sie es so darstellte, als sei Laura eine alte Freundin des Conte, die praktisch nur ihm zuliebe nach Bergamo gekommen war. Darias Augen, die größer als normal schienen, leuchteten auf. Mit neuerwachtem Interesse reichte sie nun auch Laura die Hand.

»Sie kennen den lieben Massimo? Er hat gerade wieder bei mir gekauft. Ich konnte ihn überreden, sich von moderner Kunst inspirieren zu lassen und nicht nur von den verstaubten Skulpturen, die er sonst mit leider viel zuviel Hingabe sammelt. Ich sage immer, in der heutigen Kunst liegt die Zukunft, wir leben jetzt und sollten uns mit Werken unserer Zeit umgeben, denn in dieser Stadt sehen wir die Vergangenheit doch täglich.« Sie machte eine dramatische Geste, die möglicherweise die gesamte historische Kunst und Architektur ihres Landes mit einschloß.

Laura murmelte vage: »Ja, das kann schon sein. Also eigentlich ...«

Sie wollte Francas Beschönigung in bezug auf ihr persönliches Verhältnis zum Conte richtigstellen, doch Franca kam ihr zuvor. »Wir sind ein wenig in Eile, liebste Daria. Ich wollte Laura unbedingt deine Galerie zeigen, damit sie weiß, an wen sie sich wenden muß, wenn sie fachlichen Beistand braucht. Bis bald, wir sehen uns, ciao!«

»Wie schade, aber kommen Sie mich jederzeit besuchen, Laura. Wir finden sicher etwas, das nach Ihrem Geschmack ist. Einen schönen Tag noch!«

Nachdem sie sich einige Schritte von der Galerie entfernt hatten, Laura konnte Darias Blick förmlich in ihrem Rücken spüren, sah sie Franca verärgert an.

»Warum mußtest du so übertreiben? Herrgott, die kennen sich und sprechen wahrscheinlich über mich, und wie stehe ich dann da. Wirklich, Franca!«

»Bitte, Laura. Jetzt sei mir nicht böse. Ja, gut, war vielleicht etwas dick aufgetragen, aber hast du gesehen, wie sich ihre Augen trotz Lifting noch mehr weiteten, weil sie dich als potentielle Kundin an der Angel zu haben schien?«

»Hmm.« Und ein Lächeln zog bereits über Lauras Gesicht, denn genau dasselbe hatte sie auch gedacht.

»Außerdem denkt sie jetzt, du bist Konkurrenz. Obwohl er sie natürlich längst ausgemustert hat.«

»Was?« Laura verstand nicht.

»Sie war mal seine Geliebte. Das ist Jahre her, aber immerhin. Sie sah sicher mal richtig gut aus. Nicht, daß sie keine Klasse hätte, aber heute ist das doch eher artifiziell, wenn du verstehst, was ich meine.«

Laura stellte sich Daria als junge Frau vor und mußte zugeben, daß deren klassische Schönheit in Kontrast mit ihren dunkelblonden Haaren immer noch attraktiv war.

»Franca, ich muß jetzt zurück, sonst erzählt Mafalda, ich hätte mich tagsüber nur in der Stadt herumgetrieben, und ich werde noch gefeuert, bevor ich überhaupt richtig angefangen habe.«

Sie umarmte ihre Cousine an der Haltestelle, von der aus sie den nächsten Bus in Richtung der Villa nahm. Während der Fahrt durch die schmalen Straßen den Hügel hinauf, dachte sie über das Gehörte nach, doch eigentlich war es ihr unangenehm, diese privaten Details aus dem Leben ihres neuen Arbeitgebers erfahren zu haben, denn sie wollte ihm so unvoreingenommen wie nur möglich gegenübertreten. Als der Bus anhielt, stieg außer ihr kein anderer Fahrgast aus. Die letzten fünfhundert Meter bis zum Tor der Villa mußte sie zu Fuß gehen. Die Straße, die mehr eine sandige Piste war, stieg hier steil an und ließ ihr den Schweiß über Gesicht und Körper laufen.

Die Villa erhob sich vor ihr als zweiflügeliger Bau. Mit nur einem Stockwerk war er nicht sonderlich hoch, zog sich aber durch die Seitenflügel erheblich in die Breite. Ähnlich der Villa Medici bei Fiesole nahe Florenz angelegt, öffnete sich ein Flügel auf den Eingangsbereich mit seinen terrassenförmig ausgeführten Gartenanlagen. Vom anderen Flügel aus hatte man zwar nicht den spektakulären Blick auf das Tal mit der Unterstadt, dafür lag dort ein zauberhafter kleiner Garten mit einem Labyrinth und einer versteckten Grotte. Lauras Zimmer befand sich in ebendiesem Flügel der Villa, und sie hatte bisher keinen Morgen verstreichen lassen, ohne wenigstens einmal durch den Garten zu gehen.

Schwer atmend drückte sie das schmiedeeiserne Tor auf. Sie schritt den langen Kiesweg über die sanft ansteigenden Terrassen hinauf. Von wenigen Biegungen und geschickt plazierten Zypressen abgesehen, hatte der Besucher, wenn er sich während des Aufstieges umdrehte, einen Blick wie durch ein Teleskop auf die Stadt. Die Villa mit dem Garten war die Bühne, und die Stadt in weiter Ferne schien wenig mehr als dekorative Staffage. Laura nahm die letzten drei Stufen und bog um die Hausecke, wo ein dunkelblauer Alfa Romeo vor dem Haupteingang parkte. Da Mafalda und Gaspare einen zitronengelben Fiat ihr eigen nannten, mußte sich ein Besucher oder der Conte selbst eingefunden haben.

Bevor Laura den Griff der schweren Holztür hinunterdrücken konnte, wurde die Stille auf dem weiten Hofplatz von einem lauten Scharren unterbrochen. Sie fuhr herum und entdeckte Gaspare, der mit langsamen gleichmäßigen Bewegungen die Fahrspuren des Alias mit einer Harke beseitigte. Sie hob die Hand, um dem alten Mann zuzuwinken, ließ sie jedoch schon in der Bewegung fallen, denn Gaspare drehte sich nicht um, sondern widmete sich mit einer Konzentration, die der eines buddhistischen Mönches in seinem Zengarten gleichkam, dem Aufharken der Kieselsteine. Sie drückte die Tür auf und betrat die Eingangshalle, deren Fischgrätenmuster im ausgetretenen Terrakottaboden aus dem sechzehnten Jahrhundert stammte, wie ihr Mafalda gleich am Tag ihrer Ankunft stolz mitgeteilt hatte. Für Laura war es dennoch nur ein Fußboden, wenn auch ein ausgesprochen schöner. Sie wandte sich nach rechts, ging an der Bibliothek und dem Büro des Conte vorbei und wollte direkt auf ihr Zimmer gehen, um sich zu duschen, doch aus der Küche kam ihr der Duft von frischgebackenem Mürbeteig entgegen, der sie anhalten und einen Blick in Mafaldas Reich werfen ließ. »Buon giorno, Signora.«

Mafalda stand mit rotem Gesicht und aufgekrempelten Ärmeln neben dem Steinofen und streute Puderzucker auf einen runden Kuchen. »Möchten Sie ein Stück probieren? Crostata di visciole, der Lieblingskuchen des Conte.«

Ohne auf Lauras Antwort zu warten, schnitt Mafalda ein großzügiges Stück ab und legte es auf einen Teller, den sie Laura zusammen mit einer kleinen Gabel reichte. Sie schien zu erwarten, daß Laura sofort kostete, denn sie sah sie gespannt an. Laura tat ihr den Gefallen. Die Kirschfüllung war noch heiß, nicht zu süß und der Teig knusprig. Sie übertrieb nicht, als sie sagte: »Hmm, großartig! Danke, Sie sind wirklich eine Künstlerin!«

Mafalda winkte ab und drehte sich wieder dem Ofen zu. »Ich mache das schon so lange. Ich kenne den Conte, da war er noch ein bambino, aber meinen Kuchen hat er immer gegessen.«

Die alte Frau schien den Grafen sehr zu mögen, und Laura fragte sich, wo seine Mutter war, falls er noch eine hatte. Immerhin war in der riesigen Villa genügend Platz für eine Großfamilie. Gigis Eltern lebten bei Nina in Mailand, niemand wäre auf die Idee gekommen, sie allein zu lassen oder in ein Seniorenheim zu geben. Aber sie wußte nichts über die Familienverhältnisse der di Calvis und konnte sich daher kein Urteil erlauben.

»Meinen Sie, ich kann ihn heute noch sprechen?« Laura aß das letzte Stück Kuchen auf und stellte den Teller ab.

»Morgen um zehn Uhr erwartet er Sie in seinem Büro. Er ist gerade erst angekommen.« Mafalda sagte das mit vorwurfsvoller Miene, und Laura kam ihre Frage sehr aufdringlich vor.

»Es gibt Risotto nero heute abend. Kommen Sie zum Essen?« Laura überlegte kurz, warf einen Blick auf die marinierten Tintenfische, die in einer Schüssel lagen, und erinnerte sich daran, wie ihre Mutter die Tintenbeutel öffnete, um die Tinte mit in die Fischbrühe zu geben, in der auch der Reis gekocht wurde.

»Nein danke. Es ist so heiß heute.«

Mafalda zuckte mit den Schultern und schloß die Ofentür, aus der noch immer glühende Hitze strömte. Den Rest des Nachmittages verbrachte Laura in der Bibliothek, von der aus sie einen Blick auf die Loggia und die dahinter liegenden Weinberge hatte. Als die Hitze gegen Abend etwas nachließ, ging sie durch den kleinen Garten vor ihrem Fenster, setzte sich auf eine der niedrigen Steinbänke und las den Roman eines jungen italienischen Schriftstellers, den sie als nächstes übersetzen sollte. Ihre Gedanken schweiften jedoch immer wieder ab und wanderten in eine Vergangenheit, die auch nach zwei Jahren noch so schmerzlich war, daß sie sich fragte, ob es nicht nur eine leere Redewendung war, daß die Zeit alle Wunden heilte, erfunden, um die Hoffnungslosigkeit erträglich zu machen. Andere Frauen hatten ähnliches erlebt und lebten dennoch weiter. Sie klappte das Buch zu. Einfach nur weiterleben reichte ihr nicht. Da es keinen Weg gab, zu vergessen, was geschehen war, mußte sie den Verlust als Teil von sich akzeptieren. Lieber Himmel, dachte sie, ist das möglich? Was hatte sie getan, daß gerade ihr ein solches Schicksal aufgebürdet wurde? Nichts, dachte Laura. Das ist das Leben. Aber konnte es das wert sein?

Kapitel 2
Die Grotte

Mit der aufgehenden Sonne erwachte Laura, schlug das dünne Laken zurück, das ihr als Zudecke diente, und trat ans Fenster, um die kühle Morgenluft hereinzulassen. Die hölzernen Läden schlugen mit einem leise klappernden Geräusch gegen die Hausmauer. Laura hörte außer dem Zwitschern der Vögel noch kein menschliches Geräusch, nur der Straßenlärm drang gedämpft herauf. Sie wählte ein leichtes Leinenkleid und ging leise die Treppen hinunter in den kleinen Garten, um die stillen Stunden für ihre Übersetzung zu nutzen.

Ihr Lieblingsplatz war eine Steinbank neben der Grotte, denn sie liebte das Plätschern des Wassers und sah gern den Vögeln zu, die in dem flachen Bassin badeten. Die Grotte bestand aus einer künstlich errichteten Mauer, deren Außenfläche mit Muscheln verziert war. In der halbrunden Höhlung stand eine Marmorstatue, die einen Jüngling mit einem Faß, aus dem das Wasser in das Bassin sprudelte, darstellte. Dicht rankender Efeu und bröckelnder Putz verstärkten den morbid-romantischen Eindruck. Bevor Laura sich auf der Bank niederließ, fiel ihr Blick auf eine Nische am Ende der Mauer, die ihr bisher noch nicht aufgefallen war. Zwischen dem Efeu blitzte es weiß hervor, und Laura trat näher, um die Zweige zur Seite zu nehmen. Zum Vorschein kam die Büste einer jungen Frau, die den Blick gedankenverloren in die Ferne gerichtet hielt.

Von der natürlichen Anmut des Gesichtes fasziniert, schob sie vorsichtig trockenes Blattwerk und Sand von der Büste. Mit einem Taschentuch wischte sie, so gut es ging, den grünlichen Belag ab und war überrascht, wie lebensnah sich die steinerne Oberfläche des Gesichtes anfühlte. Eine hohe Stirn wölbte sich über fein geschwungenen Augenbrauen, und unterhalb der schmalen Nase befanden sich volle Lippen, die andeutungsweise zu lächeln schienen. Obwohl die steinernen Pupillen farblos waren, konnte Laura den Blick nicht von den Augen dieser Frau abwenden, die sie sich dunkelgrün vorstellte, wie das Wasser eines Teiches oder einer Lagune.

Schließlich setzte sich Laura auf ihre Bank und begann zu lesen, doch von Zeit zu Zeit hob sie den Blick, denn sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Doch es waren nur die steinernen Augen, die in Richtung des Bassins schauten, sehnsuchtsvoll, wie Laura fand. Möglicherweise handelte es sich um eine Vorfahrin des Conte. Vielleicht wurde das Schreiben der Familienchronik interessanter, als sie gedacht hatte. Gegen neun Uhr ging Laura zurück ins Haus, nicht ohne einen letzten Blick auf die Büste zu werfen. Mafalda war nicht zu sehen, hatte aber eine Thermoskanne mit Kaffee und einen Korb mit Brioches auf den Küchentisch gestellt. Während Laura aß und ihren Kaffee trank, hörte sie Schritte auf dem Gang. Angespannt sah sie zur Tür, doch es war nur die Haushälterin, die mit einem Tablett hereinkam.

»Buon giorno, Signorina Laura. Der Conte erwartet Sie. Lassen Sie nur stehen.«

Laura stellte ihren Teller wieder auf die Tischplatte. »Danke, Signora.« Es kam ihr unhöflich vor, die Ältere mit ihrem Vornamen anzureden, so beließ sie es bei dem förmlichen Signora, denn Mafaldas Nachnamen kannte sie nicht. Etwas befangen verließ sie die Küche und ging über die alten Steinfliesen zum Büro des Grafen. Ihre Schritte hallten laut in der Stille der hohen Räume, die die einstige Bedeutung eines alten Adelsgeschlechtes widerspiegelten. Schwere Massivholztüren führten zu den Räumen im Erdgeschoß. Die Wände der Flure waren teilweise mit geschnitzter Holztäfelung versehen, und wo es keine Vertäfelung gab, hingen antike Waffen und Wandteppiche. Wesentlich erfreulicher erschienen Laura die Statuen aus Marmor und Bronze sowie die modernen Skulpturen, die sicher aus Darias Galerie stammten und die das Haus wieder in die Gegenwart zurückholten. Über der Tür zu Massimo di Calvis Büro befand sich an der Wand ein verblaßtes Fresko, dessen Inhalt sie auf den ersten Blick jedoch nicht ausmachen konnte. Sie klopfte sacht gegen die halb geöffnete Tür und betrat ein geräumiges Büro, das von einem wuchtigen Schreibtisch sowie der Aussicht auf die Loggia und die grünen Hügel dominiert wurde.

Massimo di Calvi saß in einem Ledersessel hinter dem mit einem Chaos aus Aktenstapeln, Büchern und losen Papieren übersäten Schreibtisch und telefonierte. Ohne das Gespräch zu unterbrechen, winkte er Laura heran und deutete auf einen Stuhl. Laura sah sich im Büro ihres neuen Arbeitgebers um. Unter den Gemälden entdeckte sie eine Ansicht von Venedig, die vielleicht von Canaletto stammte. Eine Bronzeskulptur, die einen sich im Sprung befindenden Mann mit einem Stab darstellte, stand auf einem Regal.

»Ein tanzender Faun aus der Villa dei Papiri, erstes Jahrhundert vor Christus. Gefällt er Ihnen?« Massimo di Calvi stand auf und kam um den Schreibtisch herum auf Laura zu, die sich erhob.

Francas Worte schossen Laura durch den Kopf, als sie dem schlanken, sie um einen Kopf überragenden Conte erwiderte: »Doch, ja, aber es gibt eine Büste in Ihrem Garten, die finde ich sehr viel schöner.«

Massimo di Calvi hätte blaß und uninteressant auf sie gewirkt, wären nicht seine ausdrucksvollen dunkelgrauen Augen gewesen, die Melancholie oder Traurigkeit auszudrücken schienen. Verletzlichkeit lag darin, eine Eigenschaft, die keinesfalls seinem ernsten Gesicht und einer Haltung entsprachen, die verriet, daß er Widerspruch nicht duldete. Dichtes schwarzes Haar, das von ersten grauen Strähnen durchzogen war, und scharfe Linien um Mund und Nase deuteten auf sein Alter hin. Er hob die Augenbrauen.

»Tatsächlich? Welche denn?«

»Neben der Grotte, in einer Nische. Es ist das Abbild einer jungen Frau. Gehört sie zur Familie?« Laura strich über ihr Kleid und hoffte, nicht auf eine in Ungnade gefallene Person gestoßen zu sein, über die vielleicht nicht mehr gesprochen wurde.

Doch der Conte lächelte. »Sie sind sehr aufmerksam. Aufmerksamer, als ich es je war, und ich habe hier den größten Teil meines Lebens verbracht.« Er reichte ihr eine Hand zur Begrüßung und betrachtete sie eingehend. »Bitte, Laura, nehmen Sie wieder Platz. Es tut mir sehr leid, daß ich Sie nicht persönlich begrüßt habe, aber es gibt Geschäfte, bei denen ich noch immer unabkömmlich bin, leider!«

Laura setzte sich wieder und folgte Massimo di Calvis Blick, der auf eine Reihe Fotografien auf seinem Schreibtisch gerichtet war. Er nahm einen der schweren Silberrahmen auf und hielt ihn Laura hin. Das Gesicht eines ernsten jungen Mannes, der eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Conte aufwies, schaute ihr entgegen.

»Das ist Fabrizio, mein ältester Sohn. Eigentlich soll er die Kanzlei übernehmen, aber er ist noch so jung«, erklärte der Conte. »Renzo, mein Teilhaber, ist ein Fuchs, ich kann Fabrizio noch nicht allein lassen, jedenfalls nicht bei so wichtigen Dingen.« Auf das Geschäft selbst ging er nicht ein, und Laura fragte nicht. Sie überlegte vielmehr, was ihr Onkel diesem Mann über ihr Privatleben erzählt hatte. Vielleicht hatte er sie nur aus Mitleid und auf Drängen ihres Onkels eingestellt? Das wäre ihr mehr als unangenehm.

»Signore di Calvi...«, begann sie, wurde jedoch von ihm unterbrochen.