Jana
Revedin

Frau hinter
Hecken

Roman

IMPRESSUM:

ISBN 9783990402443

© 2014 by Styria premium

in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG

Wien · Graz · Klagenfurt

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Lektorat: Angelika Klammer

Buchgestaltung: Bruno Wegscheider

Coverbild: Yarrow Summers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

Frau hinter Hecken

Weitere Bücher

Quellen

Für Isolde Schwartz,
die sich in Behandlung begab.

Dearest, I feel certain that I am going mad again. I feel we can’t go through another of those terrible times. And I shan’t recover this time. I begin to hear voices, and I can’t concentrate. So I am doing what seems the best thing to do. (…)

Virginia Woolf
Abschiedsbrief, März 1941

QUELLEN:

S. 5, 104: http://www.openculture.com/​2013/​08/​virginia-woolfs-handwritten-suicide-note.html

S. 70 ff: Rainer Maria Rilke, Poèmes à la nuit, préface de Marguerite Yourcenar, traduit de l´allemand et présenté par Gabrielle Althen et Jean-Yves Masson, Verdier Paris 2012

Jana Revedins Liebeserklärung an das Handwerk der Serenissima.

Die Autorin besucht im einzigartigen Venedig Handwerker der neun ältesten Gilden, gewährt Einblick in ihre Mühen und Herausforderungen in einer dem Tod durch Kommerzialisierung geweihten Stadt und findet doch auch: stolze Kontinuität, bewusstes Wagnis, die lebendige Vision täglicher Erneuerung.

Jana Revedin

ALTES HANDWERK IN VENEDIG

Die Lagunenstadt neu entdeckt

180 Seiten; 21 x 21 cm

ISBN 978 - 3-7012 - 0123-5

Warum ist die Wahrheit in Beziehungen so schwer?

„Den Haselweg hinauf“ ist ein faszinierender Roman rund um menschliche Sehnsüchte, Ängste, Scheitern und Gelingen. Die Begegnung mit der eigenen Vergangenheit, das Aufsuchen alter Menschen, ehe es zu spät ist, die Frage nach der großen Liebe und das Verzeihen – unweigerlich führt die Erinnerung den Haselweg hinauf …

Jana Revedin

DEN HASELWEG HINAUF

Roman

176 Seiten; 13,5 x 21,5 cm

ISBN 978 - 3-222 - 13397-8

„Ich bin’s, Isolde“, sagte eine Stimme am Telefon.

Sylvie war bis zum Apparat in der dunkelsten Ecke der Küche gelaufen, sie war allein im alten Bauernhaus und schrieb auf der Längslaube. Es war noch nicht wirklich warm für April und ziemlich windig.

Von den wilden Kirschen, die über dem Bachgrund blühten, wehten Birken und Haseln in hellgrünen Büscheln den Haselweg hinauf.

Sylvie hielt den Hörer in der Hand und wartete, etwas atemlos noch. Das Haus war groß und die Wege lang. Wer rief da an? Wer kannte diese nie gebrauchte Telefonnummer?

Eine alte, kurze Nummer, vier Zahlen nur, sicher aus der Zeit, als die Häuser hier im Dorf noch ihre Flurnamen, keine Straßennamen trugen.

Was sollte sie sagen?

Sie war ja nicht zuhause hier, nur zu Gast in Österreich, dem Sommerfrischeland, einer wacklig in Seen dümpelnden Operettenbühne, auf der die Heldentaten eines untergegangenen Kaiserreichs und einer visionär sich selbst zersetzenden Jahrhundertwende inszeniert wurden, in memoriam, Sommer für Sommer, seit über hundert Jahren. Ein Land, das sich in der Vertuschung seines Schon-lange-nicht-mehr-Weltmacht-Komplexes nicht geheuer war – noch heute schwebte K.-u.-k.-Nostalgie wie Topfenstrudelduft durch jeden Wiener Innenhof. Das seine sich dann selbst gehauenen braunen Flecken nie geheilt hatte und das doch aufgebrochen war in tolerante Offenheit, in ein Den-Anderen-und-das-Andere-leben-Lassen.

Sylvie war gerne hier.

„Ich bin’s, Isolde“, sagte die Stimme noch einmal.

Was sollte Sylvie antworten?

„Hier bei Breil“, konnte sie nicht sagen, das stimmte nicht mehr, Teds Mutter und deren Mann, die hier dreißig Jahre lang gewohnt hatten, waren im vergangenen Jahr gestorben.

„Hier bei Ted Tessenow“, der dieses heruntergekommene Anwesen samt seiner Schulden und Tücken für seine Mutter übernommen hatte, kam ihr zu privat vor.

Sie musste irgendetwas antworten, jetzt, wo sie den Hörer abgehoben hatte, also sagte sie:

„Sylvie Vaughan.“

„Isolde Schwartz.“

Die Stimme machte ihren eigenen Tonfall nach. Das war komisch, Sylvie musste unweigerlich lächeln. „Isolde Schwartz? Aus München?“

„Ja, ebendiese. Sie erinnern sich, Sylvie? Das Symposium in Boston letzten Monat zu, Macht oder Tod‘. Sie haben aus Ihrem neuesten Text über den Tod gelesen. Wunderbar, ich zitiere Sie seither ständig. Ich bin Edith Zuckermanns Philosophen-Kollegin, die, die über, Ethos der Macht‘ sprach.“

Die große Schwartz, hier an diesem Telefon!

Die einzige und letzte Romano-Guardini-Schülerin, die nach seinem Tod den Lehrstuhl in München übernommen und seine Lehre von kirchlicher Unterwürfigkeit gesäubert, radikal gültig gemacht hatte.

„Still werden, mitten darin“, wie oft hatte sich Sylvie diese Guardini-Zeile, auf die die Schwartz ihre gesamte Ethik aufgebaut hatte, im Trubel der Städte, der Flughäfen und U-Bahnen vorgesagt!

Isolde Schwartz, die schon am zweiten Symposiumstag alles von dem Wenigen, was man über Sylvie wissen konnte, wusste und auf dem Heimweg vom Abendessen in Edith Zuckermanns Campuswohnung ihre, wie sie sagte, „endlich gefundene Analogie“ ansprach. Gekonnt nebenbei erwähnte. Ein ausgeworfener Köder, den Sylvie zunächst nicht verstand.

Philosophenjargon? Oder eher aus der Tiefenpsychologie?

Eine „Analogie“ zwischen wem oder was?

Und: Wie „fand“ man die?

Vielleicht hatte die Schwartz ihre turbulenten letzten Jahre verfolgt, in denen sich Sylvies Leben vom Eremitentum auf ihrer patagonischen Insel zum Nomadendasein gewandelt hatte? Tatsächlich, sie wanderte ihren endlich nicht mehr unterdrückten Gefühlen nach.

Sylvie hatte an jenem Abend nicht nachgefragt, doch sie hatte sich den Begriff der Analogie mitgenommen, ihm dann in der ruhigen Weite dieses Hauses nachgeforscht.

Ana-Logos, die Gesetzmäßigkeit, das Gleichwertige, das, was vor dem Wort kommt, durch das Wort hindurchscheint, ihm eine Bedeutung – oder auch zwei, drei Bedeutungen – gibt. Das also, was unter der Oberfläche verborgen ist, unter die Haut geht.

Aldo Rossis Analoge Stadt war ihr aus dem Bücherregal in der großen Stube in die Hände gefallen, sie war eine der Grundreferenzen von Teds partizipativer Gestaltungstheorie, die dem öffentlichen Raum, dem Entstehungsraum jeglicher Selbst-Entwicklung viel mehr an Symbolik, an emotionaler Bindung und sozialer Kraft zuschrieb als je eine Theorie zuvor.

Analogie war bei Rossi das Wiedererkennen kultureller Archetypen mit dem gleichzeitigen Formulieren neuer Bedürfnisse und entsprechender Bauformen gewesen. Die analoge Stadt hatte das „Sich-heimisch-Fühlen“, eine Identifikation durch Altbekanntes, zugelassen und war doch ein offenes Werk, die stete Baustelle kollektiver Wünsche.

Rossi hatte Rom, die Ewige Stadt, und ihre Typologien einer klassischen, dann frühchristlichen, dann barocken, schließlich futuristischen Kultur als Fallbeispiel genommen. Zwischen ihre Texturen und Zeilen hatte er imaginäre Mosaikstücke gefügt, Hohlräume durch Neues gefüllt, das nicht erschreckte, sondern schon immer dagewesen schien und das Alte in ungeahnte Spannung versetzte.

So hatte er Geschichte weit über die Reihung simpler Tatsachen und Spuren hinweg definiert, nämlich als ein Reservoir von Gefühlen, mit denen unsere Erinnerung arbeiten und experimentieren kann.

Hatte Isolde Schwartz „Analogie“ also so gemeint?

Wusste sie, dass in Sylvies Lebensmosaik über Jahrzehnte Stücke, sprich Menschen, ein Mensch, gefehlt hatte und dass jetzt endlich ein Muster erkennbar wurde, das Sinn ergab?

Auch Michelangelo hatte, niemals zufrieden, gesagt, er setze den Meißel erst von seinen Figuren ab, wenn er an der Haut angelangt sei. An der Haut, die seine Sehnsucht, seine Besessenheit war.

Die zweite mögliche Bedeutung von Analogie: das Gleichwertige und doch Andere, die direkte und doch gewagte Beziehung zwischen feinstem Marmor und zartester Haut. Lacans Spiegel, das Sich-spiegeln-Können im Gleichwertigen – und doch Anderen. Auch das hätte Isolde Schwartz andeuten können. Tatsächlich war Sylvies überraschende, doch andauernde Affäre mit Ted, dem für sie viel zu jungen Architektenrebellen, sicher keinem in ihren Schreiber- und Denkerkreisen verborgen geblieben.

Isolde Schwartz also war hier an ihrem Apparat.

„Ja, natürlich erinnere ich mich, Isolde!“, sagte Sylvie. „Verzeihen Sie mein Stocken, ich dachte nach. Macht? Oder besser: Tod? Weiterhin eine schwere Wahl!“

Beide lachten.

Sylvie sah Isolde Schwartz vor sich, während ihres Vortrags in Boston, ihr flatterndes Lachen, wenn sie sich bei immer wieder eintretenden Gedächtnislücken ans Mikrofon klammerte –

Wie kam Isolde Schwartz an diese Telefonnummer?

Wo war sie?

Und wie klang sie so nah?

Hatte sie nicht bei jenem Abendessen erzählt, seit dem Tod ihres Mannes widme sie ihre gesamte freie Zeit den Streetworkern in der Bronx?

Da sprach Isolde Schwartz schon weiter – sie hatte eine schmeichelnde Stimme am Telefon, bemerkte Sylvie, gar nicht hart wie in ihrer Erinnerung –, ob sie ihr wohl einen Moment ihrer Zeit schenke, sie habe da eine ziemliche Überraschung.

Sylvie war gespannt, auch wenn draußen auf der Längslaube ein Satz auf ihrem Laptopbildschirm im Nichts hing, nein, nicht nur ein Satz, eine ganze gedankliche Ableitung.

Sei’s drum, man hatte nicht jeden Vormittag eine Isolde Schwartz samt Überraschung am Telefon. Sie setzte sich hin. Dies würde vielleicht ein echtes Gespräch.

Ein Strohstuhl mit hoher Lehne stand an der Blockwand, er bildete mit der alten Milchtruhe eine Art „Büroecke“ für das elfenbeinfarbene Telefon aus den siebziger Jahren und ein dickes gelbes Telefonbuch, das niemand je geöffnet hatte.