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Kohlhammer Standards Psychologie

 

 

 

Begründet von

Theo W. Herrmann (†)

Werner H. Tack

Franz E. Weinert (†)

 

Weitergeführt von

Marcus Hasselhorn

Herbert Heuer

Frank Rösler

 

Herausgegeben von

Marcus Hasselhorn

Wilfried Kunde

Silvia Schneider

Rainer Westermann

Methoden psychologischer Forschung und Evaluation

Grundlagen, Gütekriterien und Anwendungen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-024182-4

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-024183-1

epub:   ISBN 978-3-17-024184-8

mobi:   ISBN 978-3-17-024185-5

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Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Vorwort
  2. 1 Perspektiven, Paradigmen und Programme in der Psychologie
  3. 1.1 Charakterisierung der Psychologie: verschiedene Perspektiven
  4. 1.1.1 Definitionen des Faches Psychologie
  5. 1.1.2 Teilgebiete und Teilfächer der Psychologie
  6. 1.1.3 Verortung der Psychologie: wissenschaftliche Einrichtungen und interdisziplinäre Verbindungen
  7. 1.2 Entwicklung und Paradigmen der Psychologie
  8. 1.2.1 Normalwissenschaftliche und revolutionäre Forschungsprozesse
  9. 1.2.2 Psychologische Paradigmen
  10. 1.2.3 Paradigmatische Methoden der Psychologie
  11. 1.3 Forschungsprogramme in der Psychologie
  12. 1.3.1 Die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme
  13. 1.3.2 Theorie- und sachverhalts-orientierte Forschungsprogramme
  14. 1.3.3 Forschungsprojekte
  15. 1.4 Evaluationen
  16. 1.5 Ethische Probleme und Prinzipien
  17. 2 Validität Güte und Qualität wissenschaftlicher Untersuchungen
  18. 2.1 Arbeitsabschnitte und Hypothesen
  19. 2.2 Validität als Vermeidung von Fehlentscheidungen
  20. 2.3 Beeinträchtigungen und Absicherungen der Validität
  21. 2.4 Validität von Evaluationen
  22. 3 Möglichkeiten und Grenzen psychologischer Erkenntnis
  23. 3.1 Erkenntnistheoretische Positionen
  24. 3.1.1 Realistische Positionen
  25. 3.1.2 Idealistische Positionen
  26. 3.1.3 Empiristische Positionen
  27. 3.1.4 Rationalistische Positionen
  28. 3.2 Logische Schlüsse
  29. 3.2.1 Aussagenlogik
  30. 3.2.2 Prädikatenlogik
  31. 3.2.3 Logische und empirische Wahrheit
  32. 3.3 Induktive Argumente
  33. 3.3.1 Arten von Induktion
  34. 3.3.2 Validität induktiver Argumente
  35. 3.4 Die Beziehung zwischen Geistigem und Körperlichem
  36. 3.4.1 Dualistische Positionen
  37. 3.4.2 Identitätslehre
  38. 3.4.3 Materialismus
  39. 3.4.4 Funktionalismus
  40. 3.4.5 Nicht-reduktiver Physikalismus
  41. 4 Bedeutung und Verwendung wissenschaftlicher Begriffe
  42. 4.1 Definitionen
  43. 4.1.1 Explizite Definitionen
  44. 4.1.2 Adäquatheit von Definitionen
  45. 4.2 Explikation von Begriffen
  46. 4.3 Typisierung von Begriffen
  47. 4.4 Operationalisierung theoretischer Begriffe
  48. 4.4.1 Theoretische und beobachtbare Merkmale
  49. 4.4.2 Zuordnungsregeln
  50. 5 Kausale Zusammenhänge und Erklärungen
  51. 5.1 Logische und physikalische Aspekte
  52. 5.2 Ursachen als Inus-Bedingungen
  53. 5.3 Ceteris-paribus-Bedingungen
  54. 5.4 Kontrafaktische und manipulative Aspekte der Kausalität
  55. 5.5 Multiple Ursachen
  56. 5.6 Wissenschaftliche Gesetze
  57. 5.7 Probabilistische Kausalität
  58. 5.8 Handlungs- und Willensfreiheit
  59. 5.8.1 Libertarismus
  60. 5.8.2 Determinismus
  61. 5.8.3 Kompatibilismus
  62. 5.9 Wissenschaftliche Erklärungen
  63. 5.9.1 Deduktiv-nomologische Erklärungen
  64. 5.9.2 Probabilistische Erklärungen
  65. 5.9.3 Pragmatische Erklärungskonzeptionen
  66. 6 Verifikation und Falsifikation wissenschaftlicher Aussagen
  67. 6.1 Verifikation und induktive Forschungsprozesse
  68. 6.2 Falsifikation und deduktive Forschungsprozesse
  69. 6.2.1 Falsifizierbarkeit
  70. 6.2.2 Deduktive Methodologie
  71. 7 Struktur und Anwendung psychologischer Theorien
  72. 7.1 Theorienetze
  73. 7.1.1 Basis- und Bereichs-Elemente
  74. 7.1.2 Empirische Theorieelemente
  75. 7.2 Theorieelemente
  76. 7.2.1 Theoriespezifische Begriffe
  77. 7.2.2 Potentielle und tatsächliche Modelle
  78. 7.2.3 Potentielle und zutreffende Anwendungen
  79. 7.3 Empirische Forschungsprozesse
  80. 7.3.1 Empirischer Gehalt und empirische Hypothesen
  81. 7.3.2 Zweifelhafte, erfolgreiche und vermutete Anwendungen
  82. 7.3.3 Wissenschaftliche Fortschritte und Rückschläge im Theorienetz
  83. 7.3.4 Sachverhaltsbezogene Forschungsprozesse
  84. 8 Statistische Zusammenhänge und ihre valide Prüfung
  85. 8.1 Linearkombinationen
  86. 8.2 Effektgrößen
  87. 8.2.1 Korrelationen und Varianzanteile
  88. 8.2.2 Mittelwertsunterschiede
  89. 8.2.3 Risikokoeffizienten
  90. 8.3 Signifikanztests
  91. 8.3.1 Fehler 1. und 2. Art
  92. 8.3.2 Parametrische Tests und Konfidenzintervalle
  93. 8.3.3 Interpretation von Verteilungsannahmen
  94. 8.3.4 Permutationstests
  95. 8.4 Spezifikation statistischer Hypothesen und Tests
  96. 8.4.1 Anpassungsvorhersagen
  97. 8.4.2 Ordnungsvorhersagen und -kontraste
  98. 8.4.3 Interaktionsvorhersagen und -kontraste
  99. 8.4.4 Wahl zwischen verschiedenen Tests
  100. 8.5 Entscheidungen über statistische und empirische Hypothesen
  101. 8.6 Kumulation und Adjustierung von Fehlerwahrscheinlichkeiten
  102. 8.6.1 Ausmaß und Korrektur der Fehlerkumulation
  103. 8.6.2 Adjustierungen im Hinblick auf die Untersuchungsvalidität
  104. 8.6.3 Statistische Validität bei der Verwendung von Forschungsergebnissen
  105. 8.7 Bayes-Statistik
  106. 8.7.1 Grundzüge
  107. 8.7.2 Validität
  108. 9 Wissenschaftliches Beobachten und Befragen
  109. 9.1 Beobachtungsmethoden
  110. 9.1.1 Validität von Beobachtungen
  111. 9.1.2 Objektivität von Beobachtungen
  112. 9.1.3 Systematische Beobachtungen
  113. 9.2 Befragungsmethoden
  114. 9.2.1 Formen der Befragung
  115. 9.2.2 Standardisierte Befragungen
  116. 9.2.3 Urteilsfehler
  117. 10 Messen in der Psychologie
  118. 10.1 Repräsentationsmessung
  119. 10.1.1 Paarvergleich als ordinale Repräsentationsmessung
  120. 10.1.2 Repräsentationsproblem: Bedingungen für eine repräsentationale Messung
  121. 10.1.3 Eindeutigkeit und Bedeutsamkeit: Niveau einer Messung
  122. 10.1.4 Bedeutsamkeitsproblem: Sinnhaftigkeit von Aussagen
  123. 10.1.5 Metrische Repräsentationsmessungen
  124. 10.2 Fiatmessung
  125. 10.2.1 Niveau einer Fiatmessung
  126. 10.2.2 Paarvergleiche
  127. 10.2.3 Rangordnungen
  128. 10.3 Direkte Einschätzungen (ratings)
  129. 10.3.1 Gestaltung der Antwortalternativen
  130. 10.3.2 Auswertung aggregierter Ratings
  131. 10.3.3 Einschätzungen von Merkmalsunterschieden
  132. 10.4 Verhältnisschätzmethoden
  133. 10.5 Indexbildung
  134. 11 Psychologische Tests
  135. 11.1 Normierung
  136. 11.2 Klassische Testtheorie: Grundlagen
  137. 11.3 Reliabilität
  138. 11.3.1 Definition
  139. 11.3.2 Schätzmethoden
  140. 11.4 Kriteriumsvalidität
  141. 11.4.1 Komponenten und Arten der Kriteriumsvalidität
  142. 11.4.2 Assoziation zwischen Prädiktor und Kriterium
  143. 11.4.3 Differenzierungsfähigkeit der Signalentdeckung
  144. 11.5 Konstruktvalidität
  145. 11.5.1 Theoretische und inhaltliche Fundierung
  146. 11.5.2 Konvergente Validität
  147. 11.5.3 Divergente Validität
  148. 11.6 Itemauswahl und Skalenkonstruktion
  149. 11.6.1 Likert- und Thurstone-Skalierungen
  150. 11.6.2 Klassische Testkonstruktion
  151. 11.6.3 Rasch-Skalierung
  152. 11.7 Faktorenanalysen
  153. 12 Experimente: randomisierte Gruppen und Varianzanalysen
  154. 12.1 Versuchspläne
  155. 12.2 Interne Validität
  156. 12.2.1 Störvariablen
  157. 12.2.2 Kontrolle möglicher Störvariablen
  158. 12.3 Statistische Auswertung und Validität
  159. 13 Quasi-Experimente: parallelisierte Gruppen und multiple Regressionsanalysen
  160. 13.1 Wiederholte Messungen
  161. 13.2 Ausbalancieren und Parallelisieren
  162. 13.3 Statistische Kontrolle
  163. 13.3.1 Partialkorrelationen
  164. 13.3.2 Multiple Regression
  165. 13.3.3 Zusammenspiel von Prädiktoren
  166. 13.3.4 Nominale Variablen
  167. 13.3.5 Formen multipler Regressionen
  168. 13.3.6 Sequentielle Regression
  169. 13.4 Abhängigkeit von Faktoren
  170. 14 Vergleiche vorgegebener Gruppen: logistische Regression und Mehr-Ebenen-Analysen
  171. 14.1 Störung der Validität durch Regressionseffekte
  172. 14.2 Fall-Kontroll-Studien mit logistischer Regression
  173. 14.2.1 Beispieluntersuchung
  174. 14.2.2 Logistische Regressionsfunktionen
  175. 14.2.3 Güte der Anpassung
  176. 14.2.4 Modellvergleichende Signifikanztests
  177. 14.2.5 Effektgrößen
  178. 14.2.6 Cox-Regression
  179. 14.3 Mehr-Ebenen-Untersuchungen
  180. 14.3.1 Beispieluntersuchung
  181. 14.3.2 Multi-Level Modelle
  182. 14.3.3 Validität MLM
  183. 15 Einzelgruppenanalysen: Kasuistische Evaluationen und multivariate Strukturmodelle
  184. 15.1 Kasuistische Evaluationen
  185. 15.1.1 Externe Vergleichswerte
  186. 15.1.2 Gutachterliche Evaluationen
  187. 15.2 Multivariate Analyseverfahren
  188. 15.2.1 Kanonische Korrelationsanalyse
  189. 15.2.2 Anwendungs- und Spezialfälle
  190. 15.2.3 Korrelation und Kausalität
  191. 15.3 Strukturgleichungsmodelle
  192. 15.3.1 Pfadanalysen für empirische Variablen
  193. 15.3.2 Aufstellung von Strukturgleichungsmodellen
  194. 15.3.3 Prüfung von Modellen
  195. 16 Meta-Analysen
  196. 16.1 Arbeitsschritte an einem Beispiel
  197. 16.2 Zusammenfassung und Prüfung von Effekten
  198. 16.2.1 Effektgrößen
  199. 16.2.2 Homogenität und Mittelung von Effekten
  200. 16.3 Moderatorenanalyse
  201. 16.3.1 Kategoriale Moderatoren und Modelle
  202. 16.3.2 Meta-Regression für quantitative und nominale Moderatoren
  203. 16.4 Validität
  204. 16.4.1 Publication Bias
  205. 16.4.2 Interne Validität
  206. 16.4.3 Variablenvalidität
  207. 16.4.4 Statistische Validität
  208. 16.4.5 Feste und zufällige Effekte
  209. Literatur
  210. Stichwortverzeichnis

 

Vorwort

 

 

Die Psychologie ist eine empirische Wissenschaft mit engen Bezügen zu anderen natur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie Biologie und Medizin, Pädagogik und Ökonomie. Mit ihren grundlagenorientierten Forschungen strebt die Psychologie nach allgemeinen Erkenntnissen über Zustände und Prozesse, Ursachen und Folgen menschlichen Erlebens und Verhaltens. Einer der wichtigsten anwendungsorientierten Bereiche der Psychologie und anderer Wissenschaften ist die Evaluation der Wirksamkeit von bestimmten Maßnahmen, beispielsweise in Gemeinden, Betrieben, Schulen oder Kliniken.

Wissenschaftliche Erkenntnisse heben sich von alltäglichen Erfahrungen und Meinungen dadurch ab, dass sie systematischer formuliert und stärker empirisch abgesichert sind. Wer wissenschaftliche Forschungen verständig nachvollziehen, bewerten oder betreiben will, muss deshalb die Methodik des jeweiligen Faches verstehen, das heißt die verschiedenen Vorgehensweisen und Prinzipien, die für die Gewinnung, Ausgestaltung und Absicherung seiner Theorien, Hypothesen und Befunde verwendet werden.

Die Methodik der psychologischen Forschung und Evaluation kann in spezielle Methodiken gegliedert werden, die jeweils allgemeine Prinzipien und konkrete Methoden für bestimmte Arten oder Abschnitte von Forschungsprozessen beinhalten und spezifische Beziehungen zu Nachbarwissenschaften haben. Die psychologische Befragungsmethodik beispielsweise ist eng mit der sozialwissenschaftlichen Umfragemethodik verbunden, und die psychologische Experimentalmethodik ähnelt stark den Standards für randomisierte Studien in Medizin und Epidemiologie. Die Signifikanztestmethodik wird nicht nur in der Psychologie häufig angewendet und kritisch diskutiert, sondern auch in vielen Bereichen der Erziehungs- und Biowissenschaften. Die Methodiken zur Spezifikation der Bedeutung von Begriffen und zur Struktur von Theorien wurden in der Philosophie entwickelt und sind für alle empirischen Wissenschaften relevant.

Methodische Festlegungen und Entscheidungen werden oft unbemerkt von grundlegenden wissenschaftstheoretischen Orientierungen (Methodologien) beeinflusst, beispielsweise davon, ob eine wissenschaftliche Gemeinschaft empirie- oder theoriegeleitet vorgeht, ob sie ihre Gegenstände als real oder konstruiert interpretiert, was sie unter kausalen Beziehungen und Erklärungen versteht und inwieweit sie das Psychische auf das Neuronale reduziert.

Für Studium und Weiterbildung in Psychologie, Evaluation, Epidemiologie und angrenzenden natur- und sozialwissenschaftlichen Arbeitsfeldern werden in diesem Buch wesentliche Aspekte der Methodik empirischer Untersuchungen für grundlagen- und anwendungsorientierte Fragestellungen dargestellt und veranschaulicht.

Ziel ist ein tiefergehendes Verständnis der Prinzipien und Varianten, der Chancen und Beschränkungen, der Fehlerquellen und Gütemerkmale empirischer Forschung. Dadurch soll es ermöglicht werden, Güte und Aussagekraft veröffentlichter Forschungsarbeiten adäquat zu bewerten, eigene Forschungen sachgemäß zu planen und die vielfältigen Untersuchungs- und Auswertungstechniken sinnvoll einzusetzen.

Die psychologische Methodik greift an vielen Stellen auf die mathematische Statistik zurück, geht aber weit über sie hinaus. Forschungsprozesse in einer empirischen Wissenschaft dürfen sich nicht auf die Anwendung statistischer Modelle und die Prüfung statistischer Hypothesen beschränken, sondern sollen der Beantwortung inhaltlicher Fragestellungen, der Prüfung wissenschaftlicher Hypothesen dienen. Alle methodischen Überlegungen zur Gestaltung einer wissenschaftlichen Untersuchung sollten deshalb am Kriterium einer möglichst hohen Validität ausgerichtet sein, das heißt an der Maximierung der Chancen, dass die Untersuchungsergebnisse zu zutreffenden Beurteilungen der inhaltlichen Fragestellungen und wissenschaftlichen Hypothesen führen.

Die Validität psychologischer Forschungen und Evaluationen hängt von einer Vielzahl von Aspekten ab, etwa der Spezifikation von Theorien und Begriffen (Variablenvalidität) und der Kontrolle momentan nicht interessierender Einflussfaktoren (interne Validität). Außerdem hängt die Validität inhaltlicher Beurteilungen stark davon ab, wie statistische Methoden ausgewählt, angewendet und interpretiert werden. Dementsprechend werden in diesem Buch die Grundzüge wichtiger statistischer Analysemethoden fragestellungs- und validitätsorientiert erläutert. Auf die Darstellung von Rechengängen und mathematischen Ableitungen wird dabei verzichtet. Formeln werden nur aufgeführt, wenn sie Einsicht in die Bedeutung und Struktur von Koeffizienten oder Verfahren vermitteln.

Dieser Text enthält aufgrund seiner Inhalte und Zielsetzungen relativ viele Verweise auf andere wissenschaftliche Veröffentlichungen. Um die Lesbarkeit nicht unnötig zu beeinträchtigen, werden diese Literaturhinweise nicht im Text selbst, sondern in Fußnoten angegeben. Zu Beginn eigenständiger Abschnitte werden jeweils die wichtigsten Artikel und Bücher aufgeführt, die den folgenden Darstellungen zugrunde liegen oder sie weiterführen.

Wesentliche Teile dieses Textes beruhen auf Materialien für die zahlreichen methodischen Lehrveranstaltungen, die ich in den vergangenen Jahrzehnten an den Universitäten Göttingen, Frankfurt am Main, Jena, Fribourg und Greifswald gehalten habe, und haben von den Rückmeldungen und Nachfragen der Studierenden profitiert. Die Universität Greifswald hat mir zwei Forschungssemester gewährt, ohne die ich die grundlegenden Arbeiten für diesen Text nicht hätte bewältigen können.

Für wichtige Hinweise auf Fehler und Unklarheiten in Entwurfsfassungen dieses Textes danke ich Dr. Stefan Schelske sowie den Studierenden Jost Ulrich Blasberg, Philipp Franikowski, Klara Greffin, Tabea Niemann, Michelle Rohde, Philipp Schröder, Sarah Schulz, Christoph Szeska und Henrike Völz. Ein beonderer Dank gebührt Dr. Stephan Lau, der mir zahlreiche fundierte und wertvolle Verbesserungshinweise gegeben hat. Den Herausgebern der Standards Psychologie und dem Kohlhammer-Verlag, insbesondere Frau Celestina Filbrandt danke ich für die kompetente Betreuung dieses Bandes. Für alle Hinweise auf verbliebene Fehler und Unzulänglichkeiten bin ich dankbar.

Rainer Westermann

westerma@uni-greifswald.de

Februar 2016

 

1          Perspektiven, Paradigmen und Programme in der Psychologie

 

 

Psychologie ist ein allgegenwärtiges Thema in unserem Alltag. Warum kommt Jens nicht mit zum Konzert? Wie schaffe ich die Statistikprüfung? Wie fühlt Anna sich nach der Trennung? Psychologische Fragen dieser Art bewegen uns, ob allein oder im Gespräch mit anderen. Manche dieser Fragen sind für uns zentral, andere peripher, einige sind leicht, andere schwer zu beantworten.

Gegenstand von psychologischen Studiengängen, Lehrveranstaltungen und Lehrbüchern ist aber nicht die Psychologie des Alltags, sondern die Psychologie als Wissenschaft. Sie versucht, Fragen nach den Gründen, Ursachen und Folgen unserer Empfindungen, Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen und Handlungen systematisch und kontrolliert zu beantworten. Diese wissenschaftliche Arbeit erfolgt seit anderthalb Jahrhunderten in unterschiedlichen Einrichtungen, Teildisziplinen, Kooperationen, Paradigmen, Programmen und Projekten (Images Kap. 1.1 bis 1.3). Sie ist nicht nur auf grundsätzliche Erkenntnisse ausgerichtet, sondern auch auf praktische Anwendungen, insbesondere im Bereich der wissenschaftlichen Bewertung (Evaluation) von Maßnahmen, Einrichtungen und Programmen (Images Kap. 1.4).

Der Unterschied zwischen der alltäglichen und der wissenschaftlichen Psychologie liegt nicht so sehr in den bearbeiteten Themen und gestellten Fragen. Auch etliche Antworten der wissenschaftlichen Psychologie sind schon im Alltag gegeben worden.

Der wesentliche Unterschied zwischen wissenschaftlicher und alltäglicher Erkenntnis besteht in der Methodik des Erkennens. Die wissenschaftliche Psychologie bedient sich bestimmter Methoden, um Erkenntnisse zu gewinnen und zu überprüfen, und sie formuliert ihre Vermutungen und Befunde systematisch in Hypothesen, Gesetzmäßigkeiten, Modellen und Theorien.

Da in den meisten psychologischen Untersuchungen dazu Menschen, mitunter auch Tiere, beobachtet, getestet, vermessen oder beeinflusst werden, muss stets sorgfältig geprüft werden, ob dies rechtlich und ethisch gerechtfertigt ist (Images Kap. 1.4).

Dabei müssen naturgemäß zahlreiche Festlegungen getroffen werden: Was soll untersucht werden? An wem? Wann? Wo? Wie? Alle wichtigen Festlegungen im Forschungsprozess sollten so getroffen werden, dass die Validität (Gültigkeit) der Untersuchung maximiert wird: Die Chancen für zutreffende Antworten auf die Forschungsfragestellung sollen möglichst groß sein, d. h. das Risiko für falsche inhaltliche Aussagen soll so klein wie möglich gehalten werden (Images Kap. 2).

Grundzüge, Möglichkeiten und Probleme wichtiger psychologischer Untersuchungs- und Auswertungsmethodiken werden später in den Kapiteln 9 bis 15 dargestellt, von der wissenschaftlichen Beobachtung über experimentelle und quasi-experimentelle Untersuchungen und Evaluationen bis zur statistischen Meta-Analyse. Sie beruhen, oft implizit und unbemerkt, auf unterschiedlichen methodologischen Voraussetzungen, die in den Kapiteln 3 bis 8 angesprochen werden, von erkenntnistheoretischen, logischen und wissenschaftsphilosophischen Grundlagen über angemessene Formen psychologischer Begriffe, Kausalzusammenhänge, Erklärungen und Theorien bis hin zur sinnvollen Verwendung und Interpretation statistischer Verfahren.

In diesem Buch können selbstverständlich nicht alle methodischen Kenntnisse vermittelt werden, die für eine sachgerechte Entwicklung und Prüfung eigener wissenschaftlicher Fragestellungen notwendig sind. Ermöglicht werden soll vielmehr, psychologische Forschungsprozesse in ihren Grundzügen nachzuvollziehen, ihre Validität einzuschätzen und die Ergebnisse adäquat zu interpretieren, und zwar sowohl im Hinblick auf die konkrete Fragestellung als auch in Bezug auf übergreifende psychologische Konzepte und Theorien. In den Fußnoten werden zusätzliche Informationen und Hinweise auf grundlegende und weiterführende Lehr- und Handbücher, Sammelbände, Fachartikel und Auswertungsprogramme gegeben.

1.1       Charakterisierung der Psychologie: verschiedene Perspektiven

1.1.1     Definitionen des Faches Psychologie Definitionen des Faches Psychologie

Psychologie – Was ist das? Gehen wir dieser einfachen Frage nach, stoßen wir schnell auf eine kurze Antwort. Psychologie, so wird beispielsweise in Dorschs Lexikon der Psychologie sinngemäß definiert, ist die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen (Images Kasten 1.1).

Definitionen sind Setzungen, sie können weder wahr noch falsch sein, aber als mehr oder minder treffend oder nützlich erscheinen (Images Kap. 4.1). Im vorliegenden Fall ist die Definition durchaus gelungen, hat bei näherer Betrachtung aber auch merkliche Schwächen. Erstens treten wie bei jeder anderen Nominaldefinition Folgeprobleme auf: Was ist »Wissenschaft«, was »Erleben« und »Verhalten«? Zweitens ist es zumindest für Fachleute offensichtlich, dass sich die Psychologie auch mit Themen beschäftigt, die weder bewusstes Erleben noch offenes Verhalten sind. Dementsprechend spricht Zimbardos bekanntes Lehrbuch statt vom »Erleben« von den »mentalen« Prozessen als Gegenstand der Psychologie (Images Kasten 1.1b), das heißt den (häufig nicht bewussten) Arbeitsweisen des menschlichen Geistes, die es uns beispielsweise ermöglichen, einen Roman zu lesen und seine wesentlichen Inhalte zu behalten. Aber auch diese Definition ist wohl noch zu eng, denn die Psychologie erforscht unter anderem auch das Verhalten von Gruppen, die neuronalen Grundlagen von geistigen Prozessen, ihre sozialen und kulturellen Voraussetzungen und Folgen sowie ihre Rolle beispielsweise in alltäglichen schulischen und betrieblichen Abläufen.

Überlegungen dieser Art werden in der umfangreicheren und damit informativeren Definition aus Ulich und Bösels Einführungsbuch aufgegriffen, die im Punkt c von Kasten 1.1 wiedergegeben ist. Dass die Psychologie eine Wissenschaft ist, wird hier etwas genauer dadurch beschrieben, dass sie als eine Einrichtung bezeichnet wird, die geschaffen wurde, um Erkenntnisse zu gewinnen.

Die Gegenstände der Psychologie sollen definitionsgemäß alle Arten von psychischen Prozessen und Zusammenhängen umfassen.

Kasten 1.1: Ausgewählte Definitionen der Psychologie

a)   Psychologie ist die Wissenschaft »vom Erleben und Verhalten des Menschen« (Wirtz, 2014, S. 19)

b)   Psychologie ist »die wissenschaftliche Untersuchung des Verhaltens von Individuen und ihren mentalen Prozessen« (Zimbardo & Gerrig, 2004, S. 3).

c)   Die Psychologie ist eine Einrichtung

•  zur systematischen und kontrollierten Gewinnung, Vermittlung und Anwendung von Kenntnissen

–  über Erlebnis- und Verhaltensweisen, psychische Vorgänge und Zustände,

–  deren Zusammenhänge, Bedingungen und Folgen sowie

•  zur Entwicklung und Anwendung von Verfahren und

•  zur Erfassung und Veränderung der genannten Sachverhalte.

(Ulich & Bösel, 2005, S. 43)

Die ebenfalls genannten Beziehungen zu Ursachen und Wirkungen außerhalb der Person werden insbesondere durch psychologische Experimente geprüft (Images Kap. 12).

Hervorzuheben ist schließlich, dass in der Definition von Ulich und Bösel neben den grundlagenwissenschaftlichen Inhalten der Psychologie auch ihre Anwendungen erwähnt werden, namentlich die Erfassungs- oder Erhebungsmethoden (Images Kap. 9 bis 11) und die Interventionsmethoden, deren Wirksamkeit systematisch evaluiert werden kann (Images Kap. 1.4).

Nach diesen allgemeinen Definitionen werden in den folgenden Abschnitten die Inhalte und Vorgehensweisen der Psychologie aus unterschiedlichen Perspektiven eingehender beschrieben.

1.1.2     Teilgebiete und Teilfächer der Psychologie

Wie andere Wissenschaften ist die Psychologie in verschiedene Teilgebiete und -fächer ausdifferenziert. Als ersten Überblick enthält die Tabelle 1.1 eine Aufstellung der Fachgruppen der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs), geordnet nach eher grundlagen- und eher anwendungsorientierten Disziplinen.

Tab. 1.1: Fachgruppen der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs)

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grundlagenbezogenanwendungsorientiert

Die Gebiete im oberen Teil der Tabelle waren in den meisten Diplomstudiengängen als eigene Prüfungsfächer repräsentiert. Die Bachelor- und Masterstudiengänge sind ebenfalls an diesen Teilgebieten orientiert, auch wenn sie in den Modulbezeichnungen oft nicht mehr auftreten. Die Gegenstandsbereiche dieser wichtigen Teilgebiete sind im Kasten 1.2 kurz und damit notwendigerweise relativ grob beschrieben. Die übrigen Gebiete (von der Geschichte der Psychologie bis zur Verkehrspsychologie) sind nur an einigen Universitäten als Pflicht- oder Wahlmodule vertreten.

Kasten 1.2: Teilgebiete der Psychologie und ihre Gegenstandsbereiche1

a)   Methodenlehre

•  Möglichkeiten, Grenzen und Verfahren der Gewinnung, Formulierung und Überprüfung von psychologischen Erkenntnissen durch

–  Beobachtung, Experiment, Interview, Textanalyse

–  Befragen, Messen und Testen

–  statistische Datenanalyse und Hypothesenprüfung

b)   Allgemeine Psychologie

•  für alle Personen gültige Gesetzmäßigkeiten über die Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Information, insbesondere in den Bereichen

–  Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Lernen, Gedächtnis, Denken, Problemlösen und Entscheiden (Kognition) sowie

–  Motivation und Emotion

c)   Persönlichkeitspsychologie und Differentielle Psychologie

•  individuelle Besonderheiten und Unterschiede zwischen einzelnen Menschen und

•  ihre Erklärung durch Persönlichkeitsmerkmale

d)   Entwicklungspsychologie

•  Intraindividuelle Veränderungen des Verhaltens, der Persönlichkeit und der Leistung über die Lebensspanne hinweg,

–  von der Geburt

–  bis zu den Besonderheiten psychischer Funktionen im hohen Alter (Gerontopsychologie)

e)   Biologische Psychologie

•  biologische Grundlagen von Erleben und Verhalten, psychischen Vorgängen und Zuständen

–  in der anatomischen, physiologischen und neuronalen Ausstattung,

–  in der Genetik und der Evolution,

–  in der Zwillingsforschung, Tierforschung und Ethologie

f)   Sozialpsychologie

•  Bedingungen und Folgen individuellen Verhaltens, Erlebens und Urteilens in Bezug auf

–  Gruppen,

–  Situationen und

–  soziale Umwelten

g)   Klinische Psychologie

•  Entstehung, Diagnose und Therapie von psychischen Erkrankungen, insbesondere

–  Entwicklung von verhaltens- und erlebensverändernden Interventionen und

–  Anwendung psychologischer Erkenntnisse in der Rehabilitation

h)   Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie

•  Wechselbeziehungen zwischen Arbeits-, Organisations- und Marktbedingungen und menschlichem Erleben und Verhalten, insbesondere

–  Passung zwischen Individuum und Arbeitskontext

–  Arbeitsleistung, Zufriedenheit, Kommunikation

–  Personalauswahl

–  Konsumenteneinstellungen und -verhalten

i)   Pädagogische Psychologie

•  psychologische, insbesondere kognitions-, sozial- und entwicklungspsychologische Aspekte von Bildungsprozessen und Bildungsinstitutionen, insbesondere pädagogisch beeinflussbare

–  Kompetenzen und Fertigkeiten,

–  Überzeugungssysteme und Werthaltungen

j)   Psychologische Diagnostik

•  Tests und andere Verfahren

–  Erfassung individueller Merkmale in allen möglichen Anwendungsgebieten sowie

–  Beschreibung, Erklärung und Prognose von individuellem Verhalten

k)   Psychologische Evaluation

•  Vorgehensweisen und Verfahren zur Beschreibung und Bewertung

–  von Einrichtungen und Maßnahmen zur Überprüfung von Interventionen

–  im Hinblick auf bestimmte Standards und Kriterien

Die Teilgebiete der Psychologie stehen nicht streng abgegrenzt nebeneinander, sondern sind eng miteinander verflochten. Zur Illustration können wir von einem konkreten Phänomenbereich ausgehen, der Depression. In der allgemeinpsychologischen Emotionspsychologie werden beispielsweise negative Stimmungen (depressed mood) bewusst hervorgerufen (mood induction) und in ihren Wirkungen auf kognitive Leistungen untersucht.2 Die Klinische Psychologie beschäftigt sich unter anderem mit schwerwiegenden und länger andauernden depressiven Störungen (Major Depression), ihrer Diagnose, ihrer Therapie und vor allem mit möglichen Erklärungen für ihr Zustandekommen. Martin Seligman (1975) hat auf der Basis tierexperimenteller Untersuchungen zur gelernten Hilflosigkeit gezeigt, dass Personen mit der Tendenz zur Attribution negativer Ereignisse auf internale, stabile und globale Ursachen besonders depressionsgefährdet sind. Zur Erklärung von Depressionen hat sich darüber hinaus die Theorie der dysfunktionalen kognitiven Schemata von Aaron Beck (1999) bewährt, die unmittelbar auf zentralen Konzepten der Allgemeinen Psychologie (Wahrnehmung und Kognition) beruht. Aus der Perspektive der Neuropsychologie werden Depressionen unter anderem durch das verringerte Vorkommen des Transmitters Serotonin erklärt.3 Die Methodenlehre trägt zur Erforschung der Depression zum Beispiel dadurch bei, dass sie die Entwicklung der Skalen zur quantitativen Erfassung der Stärke der Depression und die systematische Evaluation unterschiedlicher Therapiemethoden ermöglicht.

Studium und Berufspraxis

Wie die vorangegangenen Abschnitte verdeutlichen, ist das Studium der Psychologie an einer Universität das Studium einer Wissenschaft. Aus diesem Grund kann nicht erwartet werden, dass man am Ende des Studiums eine abgeschlossene Berufsausbildung hat. Man hat vielmehr die Voraussetzungen dafür erworben, sich in eine wissenschaftlich gestützte Berufstätigkeit einzuarbeiten. Diese besondere Zielsetzung unterscheidet ein Universitätsstudium von gewerblichen oder kaufmännischen Ausbildungen. Sie ist auch in den Hochschulgesetzen der Länder verankert (Beispiel in Kasten 1.3).

Kasten 1.3: Allgemeine Ziele eines Hochschulstudiums

»Lehre und Studium sollen die Studenten und Studentinnen auf berufliche Tätigkeiten unter Berücksichtigung der Veränderungen in der Berufswelt vorbereiten und ihnen die dafür erforderlichen fachlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Methoden so vermitteln, dass sie zu wissenschaftlicher oder künstlerischer Arbeit, zu kritischem Denken und zu freiem verantwortlichen, demokratischem und sozialem Handeln befähigt werden.« (§ 21 Absatz 1, Berliner Hochschulgesetz in der Fassung vom 26.07. 2011, Stand 18.08.2015)

Von den Berufstätigen mit psychologischem Studienabschluss sind schätzungsweise 60% im klinischen und gesundheitlichen Bereich tätig, die meisten von ihnen freiberuflich und psychotherapeutisch.4 Anders als häufig angenommen gehen die beruflichen Anwendungen der Psychologie jedoch weit über therapeutische Tätigkeiten hinaus. Einen Eindruck davon vermitteln die Untergliederungen des psychologischen Berufsverbands in Kasten 1.4, die sich auf unterschiedliche Felder und Formen der Berufstätigkeit beziehen.

Kasten 1.4: Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP): Sektionen

•  Angestellte und Beamtete Psychologen

•  Aus-, Fort- und Weiterbildung in Psychologie

•  Freiberufliche Psychologen

•  Gesundheits-, Umwelt- und Schriftpsychologie

•  Klinische Psychologie

•  Politische Psychologie

•  Rechtspsychologie

•  Schulpsychologie

•  Verkehrspsychologie

•  Verband Psychologischer PsychotherapeutInnen

•  Wirtschaftspsychologie

Eine berufliche Tätigkeit in einem dieser Gebiete ist dann wissenschaftlich gestützt, wenn wissenschaftliche Konzepte und Befunde herangezogen werden, um konkrete Aufgaben und Probleme zu analysieren und zu behandeln. Dies setzt die entsprechenden wissenschaftlichen Fachkenntnisse voraus, vor allem aber auch die Erfahrung und Übung bei ihrer sachgerechten Auswahl und Anwendung. Wie andere Befähigungen zur Bearbeitung und Lösung komplexer Probleme sind diese Anwendungskompetenzen nur schwer durch Lehrbuchtexte oder Seminarvorträge zu vermitteln, sondern müssen allmählich aufgebaut werden. Während des Studiums kann man die dafür grundlegenden Fach- und Methodenkenntnisse erwerben. Eine sichere Anwendung des Wissens setzt aber ausgiebige Praxis im jeweiligen Problemfeld voraus.

1.1.3     Verortung der Psychologie: wissenschaftliche Einrichtungen und interdisziplinäre Verbindungen

Wissenschaftliche Forschung, Studium und Lehre werden immer von Menschen betrieben, in aller Regel im Zusammenwirken mit anderen Personen und innerhalb bestimmter Einrichtungen oder Organisationen. Keine einzelne Wissenschaft oder Teildisziplin wird isoliert betrieben, alle sind mit anderen Disziplinen mehr oder minder eng verflochten. Um eine Wissenschaft wie die Psychologie und die Methodik ihrer Forschung kennen zu

Kasten 1.5: Aufgaben einer Universität

»Die Universitäten dienen der Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie der Pflege und Entwicklung der Wissenschaften durch Forschung, Lehre, Studium, Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und Wissenstransfer (insbesondere wissenschaftliche Weiterbildung, Technologietransfer). Sie bereiten auf berufliche Tätigkeiten im In- und Ausland vor, die die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden erfordern …« (§ 3, Abs. 1, Gesetz über die Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen vom 31. Oktober 2006, Stand: 15.06.2013)lernen, wollen wir deshalb auch die Position, die sie im Gefüge der anderen Wissenschaften hat, und die Einrichtungen, in denen sie betrieben wird, betrachten.

Universitäre Forschung

Die Universitäten haben die Aufgabe, die Wissenschaften zu pflegen und weiterzuentwickeln, ein Beispiel für die entsprechenden hochschulgesetzlichen Vorschriften gibt Kasten 1.5. In Deutschland sind Universitäten in der Regel Einrichtungen des jeweiligen Bundeslandes. Sie werden von ihm finanziert und unterliegen der Rechtsaufsicht des zuständigen Ministeriums, meist auch der Fachaufsicht in personal- und haushaltsrechtlichen Fragen. Ansonsten haben die Hochschulen je nach Bundesland unterschiedlich ausgeprägte Freiheiten, über Schwerpunkte und Organisation ihrer Arbeit selbst zu bestimmen.

Die Professoren sind in der Regel Beamte des Landes. Sie müssen die mit ihrer Professur verbundenen Aufgaben in Forschung, Lehre und Selbstverwaltung mit vollem Einsatz erfüllen, können aber die Inhalte und Methoden ihrer Forschung und Lehre selbständig bestimmen. Diese grundgesetzlich garantierte Wissenschaftsfreiheit (Images Kasten 1.6) wird auch dadurch gewährleistet, dass die Professoren und in etwas geringerem Ausmaß auch die anderen Hochschulmitglieder (Studierende und Beschäftigte) die Arbeit der Hochschule über zahlreiche Funktionen, Gremien und Kommissionen wesentlich mitbestimmen können.

Kasten 1.6: Wissenschaftsfreiheit

»Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.« (Grundgesetz Artikel 5, Absatz 3, Stand November 2012)

In allen Bundesländern wird eine Universität von einem Präsidium oder einem Rektorat geleitet, mit dem Präsidenten bzw. Rektor an der Spitze, seinen Stellvertretern und dem Kanzler, der die Verwaltung leitet.5 Gewählt und kontrolliert wird die Hochschulleitung je nach Landesvorschriften vom Senat und/oder vom Hochschulrat, dem stets auch außeruniversitäre Personen angehören.

Die wissenschaftlichen Aufgaben einer Universität in Lehre und Forschung werden durch und in den Fachbereichen (häufig Fakultäten genannt) erfüllt. Unterstützt werden sie durch zentrale Einrichtungen wie Bibliothek, Rechenzentrum, Hochschulsport usf. Verantwortlich für die sachgerechte Verteilung von Räumen und Haushaltsmitteln und die ordnungsgemäße Durchführung der Studiengänge sind der Fachbereichsrat, in dem auch die Studierenden vertreten sind, und die Fachbereichsleitung mit dem Dekan, seinen Stellvertretern (Prodekanen) und oft einem Studiendekan. Die Fachbereiche gliedern sich meist in fachspezifische Institute mit einer bestimmten Anzahl an Professuren, zu denen in der Regel ein Sekretariat und mehrere wissenschaftliche Mitarbeiter gehören und die eine oder mehrere Teildisziplinen (z. B. Entwicklungspsychologie und/oder Pädagogische Psychologie) vertreten.

An einigen Universitäten (z. B. Bonn) gehört die Psychologie in traditioneller Weise zur Philosophischen Fakultät. An anderen Universitäten ist sie entsprechend ihrer fachlichen Orientierung den Naturwissenschaften zugeordnet (z. B. Leipzig) oder mit den Erziehungs- oder Sportwissenschaften zusammengefasst (z. B. Hamburg). An einigen größeren Standorten sind die psychologischen Professuren auf mehrere Institute aufgeteilt (z. B. Dresden) oder bilden einen eigenen Fachbereich (z. B. Marburg).

Psychologisch ausgerichtete Professuren oder Institute finden sich auch an anderen Fachbereichen oder Fakultäten und vertreten dort beispielsweise Medizinische Psychologie (für die ärztliche Ausbildung), Erziehungspsychologie (für Lehramtsstudiengänge), Sport- und Wirtschaftspsychologie.

Außeruniversitäre und interdisziplinäre Forschung

Psychologische Forschung findet außerdem an außeruniversitären Forschungseinrichtungen statt, die allerdings nicht spezifisch auf die Psychologie ausgerichtet sind, sondern auf verwandte Fachgebiete. Zu nennen sind vor allem die Max-Planck-Institute für Bildungsforschung (Berlin), Psycholinguistik (Nijmwegen), evolutionäre Anthropologie (Leipzig) und Kognitions- und Neurowissenschaften (Leipzig) sowie die Leibniz-Institute für Wissensmedien (Tübingen), Pädagogische Forschung (Frankfurt) und Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (Kiel). Die Max-Planck-Institute dienen der herausgehobenen Grundlagenforschung, die Leibniz-Institute widmen sich besonders der Verbindung zwischen grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung. Die Leiter dieser Forschungsinstitute sind in der Regel nebenamtlich an einer Universität tätig, die wissenschaftlichen Mitarbeiter sind häufig Promovenden, Habilitanden oder nebenamtliche Dozenten an der Universität.

Sowohl an Universitäten wie an außeruniversitären Forschungsinstituten arbeitet die Psychologie in der Forschung häufig eng mit anderen Disziplinen zusammen. Dabei hat die Psychologie sich zu einer besonders einflussreichen Drehscheibenwissenschaft (hub science) entwickelt, deren Beiträge von vielen anderen Disziplinen aufgegriffen werden.6 Dies gilt insbesondere für Teile der Erziehungs- und Sportwissenschaften, der Wirtschaftswissenschaften (behavioral economics/finance), der Medizin sowie der Neurowissenschaften (behavioral/cognitive neuroscience). Umgekehrt profitiert natürlich die Psychologie von den Erkenntnissen anderer Disziplinen wie der Neurobiologie und der Mathematik.

Zur interdisziplinären Forschung gehören zum einen relativ umgrenzte Forschungsbereiche wie die Jugendkriminalität, die z. B. gemeinsam mit den Rechts- und Erziehungswissenschaften erforscht werden kann, oder die Modellierung von Entscheidungsprozessen, an der beispielsweise auch die Wirtschaftswissenschaften großes Interesse haben. Zum anderen haben sich mehrere übergreifende Wissenschaften etabliert, die unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen (bzw. jeweils bestimmte Teile von ihnen) fest zusammengeführt haben. Die Psychologie trägt wesentlich vor allem zu zwei derartigen integrativen Disziplinen bei:

•  Die Kognitionswissenschaft (cognitive science) umfasst neben der Kognitionspsychologie (Psychologie der Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken usf.) insbesondere Teile von Informatik, Neurobiologie, Philosophie und Linguistik.

•  Die Gesundheitswissenschaft (public health) umfasst neben der Klinischen und Gesundheitspsychologie Teile von Biologie, Demographie, Epidemiologie, Medizin, Ökonomie, Pädagogik, Pflegewissenschaft, Politologie und Soziologie.

1.2       Entwicklung und Paradigmen der Psychologie

Was eine wissenschaftliche Disziplin ausmacht, ist wesentlich davon bestimmt, wie sie sich entwickelt hat und durch welche Paradigmen sie gekennzeichnet ist. Der Begriff des Paradigmas wird dabei im Sinne von Thomas Kuhn verwendet und bezeichnet die von den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft geteilten Grundüberzeugungen.7

Auf Grund historischer und soziologischer Analysen ist Kuhn zu der Überzeugung gelangt, dass wissenschaftliche Entwicklung keineswegs nur ein dauernder schrittweiser Wachstumsprozess ist, d. h. anders als allgemein angenommen nicht nur im beständigen Anhäufen und Zusammenfügen von immer neuen Fakten, Theorien und Methoden besteht.

Die reifen klassischen Naturwissenschaften wie Physik und Chemie sind vielmehr durch einen wiederholten Wechsel zweier grundsätzlich verschiedener Arten von Entwicklungsperioden gekennzeichnet: der normalen, durch ein vorherrschendes Paradigma geleiteten Wissenschaft und der revolutionären Wissenschaft, in der ein Paradigma durch ein anderes ersetzt wird (Images Kap. 1.2.1).

Andere, weniger etablierte Wissenschaften wie die Psychologie werden nicht jeweils über längere Zeit durch ein einziges Paradigma beherrscht. Sie sind vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass verschiedene wissenschaftliche Gemeinschaften weitgehend parallel arbeiten, deren Forschung jeweils durch ein anderes Paradigma geleitet wird (multiparadigmatische Forschung). Wichtige Paradigmen der Psychologie werden im Kapitel 1.2.2 beschrieben, die in ihnen verwendeten Methoden in Kapitel 1.2.3.

1.2.1     Normalwissenschaftliche und revolutionäre Forschungsprozesse

Die normalwissenschaftliche Forschung wird stets durch bestimmte Grundüberzeugungen geleitet, die von den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft in der Regel nicht in Frage gestellt werden (Images Kasten 1.7a).

Kasten 1.7: Normalwissenschaftliche Forschung innerhalb wissenschaftlicher Gemeinschaften

a)   Normalwissenschaft

•  Die normale Wissenschaft kann man »als einen rastlosen und hingebungsvollen Versuch beschreiben, die Natur in die von der Fachausbildung gelieferten Begriffsschubladen hineinzuzwängen« (Kuhn, 1981, S. 19).

•  »Die normale Wissenschaft als die Betätigung, mit der die meisten Wissenschaftler zwangsläufig fast ihr ganzes Leben verbringen, gründet auf der Annahme, dass die wissenschaftliche Gemeinschaft weiß, wie die Welt beschaffen ist. Viele Erfolge der Unternehmung gehen darauf zurück, dass die Gemeinschaft bereit ist, diese Annahme zu verteidigen, eventuell sogar mit beträchtlichem Aufwand« (a.a.O., S. 19–20).

b)   Wissenschaftliche Gemeinschaft

•  Wissenschaftliche Gemeinschaften sind Gruppen von spezialisierten Fachleuten, »durch welche die Wissenschaft in den verschiedenen Perioden gefördert wird«, die »als jene Einheiten angesehen werden sollen, die die wissenschaftliche Erkenntnis hervorbringen« (Kuhn, 1974, S. 245).

•  Für jede dieser Spezialistengruppen »gibt es gemeinsame Elemente in ihrer Erziehung und Bildung; … (und) bezeichnend ist für sie die relative Vollständigkeit der professionellen Kommunikation und die relative Einstimmigkeit des professionellen Urteils« (a.a.O.).

Wissenschaftliche Gemeinschaften

Jede wissenschaftliche Gemeinschaft umfasst eine Menge von Personen, die eine bestimmte Thematik in bestimmter Weise erforscht (Images Kasten 1.7b). Um die gegenwärtigen Mitglieder einer konkreten wissenschaftlichen Gemeinschaft zu identifizieren, kann man zum Beispiel betrachten, welche Personen in wissenschaftlichen Veröffentlichungen zitiert werden, sich ihre neuesten Manuskripte regelmäßig zusenden, die gleichen Kongressvorträge besuchen, als Gutachter für Forschungsprojekte, Publikationen, Habilitationen oder Berufungen bestellt werden.

Je nach Wahl der konkreten Kriterien können unterschiedlich große und spezialisierte wissenschaftliche Gemeinschaften identifiziert werden, beispielsweise von der großen Gruppe der Personen, die kognitivistische psychologische Forschung im Allgemeinen betreibt, bis zur sehr viel kleineren Teilgruppe, die den Abruf autobiographischer Gedächtnisinhalte bei Jugendlichen untersucht. Einzelne Personen können auch verschiedenen wissenschaftlichen Gemeinschaften angehören.

Die Grenzen einer konkreten wissenschaftlichen Gemeinschaft sind immer fließend und unscharf, denn bei etlichen Personen hängt die Zugehörigkeit von der Wahl der Kriterien oder des Zeitpunktes ab. Es gibt jedoch für jede interessierende wissenschaftliche Gemeinschaft einige Personen, die mit großer Sicherheit zu ihr gehören. Deshalb können wir über wissenschaftliche Gemeinschaften sprechen, auch wenn ihre genaue Zusammensetzung unbestimmt bleibt.

Paradigmen

Ein Paradigma bezeichnet die allgemein akzeptierten Prinzipien, die die normalwissenschaftliche Forschung in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft leiten (Images Kasten 1.8). Jedes Paradigma hat zwei Komponenten: die disziplinäre Matrix und die exemplarischen Anwendungen. Alle von den Mitgliedern dieser wissenschaftlichen Gemeinschaft geteilten Grundüberzeugungen und Verpflichtungen (commitments) bilden die disziplinäre Matrix, d. h. den Grundstock oder die Prägeform des Fachgebiets. Zu ihr gehören grundlegende Begriffe und Definitionen, zentrale Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge und akzeptierte empirische Vorgehensweisen. Annahmen über den Einfluss des Unbewussten auf die Entwicklung des Menschen beispielsweise gehören zur disziplinären Matrix des tiefenpsychologischen Paradigmas (Images Kasten 1.11b), spielen in den anderen Paradigmen aber keine Rolle.

Kasten 1.8: Paradigmen

•  Ein Paradigma »sagt dem Wissenschaftler, welche Entitäten es in der Welt gibt und welche nicht, und wie sie sich verhalten. Durch diese Information entsteht eine Landkarte … Und da die Natur viel zu komplex und vielfältig ist, um auf gut Glück erforscht zu werden, ist diese Landkarte genauso wichtig für die kontinuierliche Weiterentwicklung der Wissenschaft wie Beobachtung und Experiment« (Kuhn, 1981, S. 121).

•  Ein Paradigma zwingt die Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft, »ein Teilgebiet der Natur mit einer Genauigkeit und bis zu einer Tiefe zu untersuchen, die sonst unvorstellbar wären« (a.a.O., S. 38.).

•  Solange ein »Paradigma erfolgreich ist, hat die Fachwissenschaft Probleme gelöst, die sich ihre Mitglieder kaum hätten vorstellen können und niemals in Angriff genommen hätten ohne die Bindung an das Paradigma« (a.a.O., S. 39).

Der zweite wichtige Bestandteil jedes Paradigmas sind die beispielhaften und vorbildlichen Anwendungen und Problemlösungen (exemplars) wie man sie üblicherweise in Lehrbüchern dargestellt findet, für das kognitionspsychologische Paradigma etwa die Untersuchung von Strategien beim Problemlösen mit der Methode des lauten Denkens (Newell & Simon, 1972, Images Kasten 1.11e). In diesen Beispielen kommt alles zum Ausdruck, was zu einem Paradigma gehört: die von der wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkannten Theorien, die als erfolgreich bewerteten Anwendungen dieser Theorien, Festlegungen von Hilfsmitteln, Apparaturen, Untersuchungsmethoden und Begriffsbildungen.

Erworben wird die einheitliche Sichtweise eines Paradigmas während der wissenschaftlichen Ausbildung: durch die Inhalte der Lehrveranstaltungen, durch die Bewertungen von Abschlussarbeiten sowie durch die Begutachtung von Veröffentlichungen und Forschungsanträgen. Während dieser langen Sozialisation neuer oder künftiger Mitglieder werden diese immer wieder mit typischen Problemen und akzeptierten Lösungen konfrontiert. Sie erwerben damit ein oft implizites, intuitives Wissen über Theorien, Methoden und Normen, das dazu führt, dass sie Situationen in ähnlicher Weise sehen und Probleme in ähnlicher Weise angehen wie die anderen Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft. »Wenn der Wissenschaftler ein Paradigma erlernt, erwirbt er sich Theorien, Methoden und Normen, gewöhnlich in einer unentwirrbaren Mischung« (Kuhn, 1981, S. 122).

Die Bestandteile eines Paradigmas sind nirgendwo vollständig niedergeschrieben und über sie wird kaum offen kommuniziert. Oft sind paradigmatische Annahmen den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft überhaupt nicht bewusst und müssen erst rekonstruiert werden. Trotzdem verhalten sie sich so, als hätten sie beschlossen, das Paradigma als Basis ihres wissenschaftlichen Denkens und Handelns zu akzeptieren und nicht in Frage zu stellen.

Die normalwissenschaftliche Forschung trägt ganz wesentlich zur Fortentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis bei, indem die interessierenden Phänomene auf der Basis des Paradigmas umfassend beschrieben und einheitlich erklärt werden (Images Kasten 1.7a). Zum einen lässt jedes Paradigma die Probleme klar erkennen, die mit seinem Instrumentarium erfolgreich zu bearbeiten sind. Zum anderen lassen sich aus der disziplinären Matrix und den exemplarischen Anwendungen Hinweise ableiten, die die Lösung von Problemen zumindest erleichtern.

Umgang mit Anomalien

Selbstverständlich treten bei paradigmengeleiteten Forschungen auch Ergebnisse auf, die den Erwartungen eindeutig widersprechen. Durch diese sog. Anomalien wird die wissenschaftliche Gemeinschaft mit der Aufgabe konfrontiert, ihre theoretischen Vorstellungen so abzuändern, dass sie auch diese

Kasten 1.9: Anomalien

 

•  Theorie- und hypothesenkonträre Befunde führen die Forscher zu der »Erkenntnis, dass die Natur in irgendeiner Weise die von einem Paradigma erzeugten, die normale Wissenschaft beherrschenden Erwartungen nicht erfüllt hat« (Kuhn, 1981, S. 66).

•  Wissenschaftler verwerfen (falsifizieren) niemals ihre Theorien, »wenn sie mit Anomalien konfrontiert werden, und seien diese auch noch so schwerwiegend und lange andauernd« (a.a.O., S. 90).