Buchinfo

Kalpana, Tarik, Shannon, Simon und Schoscha haben etwas gemeinsam. Sie sind alle auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, jeder und jede von ihnen in einer anderen Religion, intensiv, voller Zweifel und angetrieben von einer großen Sehnsucht.

»In den fünf Geschichten der Anthologie 'Mensch sucht Sinn' werden die fünf Weltreligionen lebendig. Die Erlebnisse der Jugendlichen helfen besser als manche Theorien der Alten zum gegenseitigen Verständnis. In einer konfliktgeladenen Welt ist solche ein Buch ein wichtiges Instrument der Friedenspädagogik.« Prof. Dr. Hans Küng

Autorenviten

Ghazi Abdel-Qadir wurde 1948 in Palästina geboren. Der renommierte Erzähler lebt seit vielen Jahren in Deutschland und publiziert in deutscher Sprache. Für seine Kinder- und Jugendbücher wurden ihm viele Preise verliehen, unter anderem der Zürcher Kinderbuchpreis La vache qui lit 1994 und der Friedrich-Gerstäcker-Preis 1992. Zweimal waren seine Werke auf der Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis. Er studierte Islamwissenschaften und Evangelische Theologie.

Dr. Vanamali Gunturu wurde 1956 in Nellore, Indien, geboren. Er studierte Philosophie, Geschichte, Englische Literatur und Sanskrit Literatur in Hyderabad und promovierte in München im Fach Philosophie. Er veröffentlicht seit einigen Jahren Bücher für Erwachsene, unter anderem über Jiddu Krishnamurti, Mahatma Gandhi, über den Hinduismus und das Kamasutra bei Diederichs. Um den Hinduismus geht es in seiner Geschichte in dieser Anthologie.

Hanna Jansen wurde 1946 in Diepholz geboren und wuchs in Osnabrück auf, wo sie später auch studierte. 1968 ging sie zur Referendarausbildung ins Rheinland und arbeitete lange Jahre als Lehrerin und Moderatorin für Lehrerfortbildung in Köln. Ihre vielfältigen Erfahrungen aus Unterricht und Fortbildung machte sie sich als Autorin für Schulbücher und didaktische Schriften zunutze. Zehn Jahre war sie in einem Autorenteam für einen großen Schulbuchverlag tätig und schrieb Texte für Sprachbücher. Im Anschluss daran widmete sie sich zunehmend dem kreativen Schreiben, mit dem sie ihren lang gehegten Wunsch, künstlerisch tätig zu sein, endlich verwirklichte. Ursprünglich wollte sie Schauspielerin werden.

Sie lebt mit ihrem Mann in Sassen. Elf Kinder aus aller Welt, überwiegend aus Afrika, fanden bei ihnen ein neues Zuhause. Das vielfältige Leben mit ihrer Großfamilie gibt ihr immer wieder neue Impulse, sich beim Schreiben den Erfahrungen von Kindern und jungen Erwachsenen intensiv zu nähern.

Der Roman »Über tausend Hügel wandere ich mit dir« wurde er mit dem »Buxtehuder Bullen« ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt.

Judith N. Klein studierte Romanistik, Sozialwissenschaften und Judaistik. Nach Tätigkeiten in Deutschland, Israel und Frankreich sowie einer Habilitation über »Literatur und Genozid« wandte sie sich dem Übersetzen und Schreiben literarischer Texte zu. Im Jahre 2001 war die Autorin Stipendiatin im Rahmen des Literaturförderungsprogramms der Stiftung Niedersachsen. Judith N. Klein lebt in Paris und Osnabrück.

Sybil Rosen ist Amerikanerin. Sie wuchs in einem jüdischen Elternhaus auf und wandte sich als Erwachsene dem Buddhismus zu. Heute arbeitet sie als Drehbuch- und Jugendbuchautorin. Bei Urachhaus erschien ihr autobiographisches Jugendbuch »Speed of Light«, in dem ein Mädchen von seiner Jugend mit einer Überlebenden des Holocausts erzählt. Ihre Erzählung für die Anthologie »Mensch sucht Sinn« wurde von der renommierten Übersetzerin Cornelia Holfelder-von der Tann ins Deutsche übertragen.

Titelbild

Buddhismus

58404.jpg

Ab jetzt steht Wasser auf meiner Hassliste. Und die wird immer länger. Weil ich nämlich auch noch Camping-Trips draufsetze und Mücken und ältere glatzköpfige Frauen, die so tun, als fänden sie dieses ganze langweilige Zeug toll. Die glatzköpfige Frau ist meine Tante Becky, die jetzt gerade hinter mir in diesem blöden Kanu sitzt, mit einem grünen Netzding über dem weißen Kopf, gegen die Mücken, sodass sie aussieht wie eine Glühbirne hinter einem durchlöcherten Lampenschirm, ohne Witz.

Tante Beckys Glatze kommt nicht daher, dass sie Skinhead ist oder Krebs hat oder diese verrückte Krankheit, wo einem sämtliche Haare ausfallen, überall, sogar die Augenbrauen. Und es war auch kein Unfall, wegen dem man ihr satellitenschüsselgroße Metallplatten in den Schädel einsetzen musste. Das alles wäre ja wenigstens tragisch und schon fast interessant. Nein, meine Tante Becky hat eine Glatze, weil sie eine Nonne ist – eine waschechte Zen-Nonne –, und sag jetzt nicht, das ist doch interessant, weil das nämlich schon fast tragisch wäre.

Aber noch mal zum Wasser. Es steht jetzt eindeutig ganz oben auf meiner Hassliste. Und zwar Wasser wie dieser Regen, der in Strömen runterrauscht, seit wir auf dem Kanu-Trip sind. Oder wie dieser Fluss, auf den er runterrauscht, sodass wir genauso gut unter Wasser sein könnten, so viel ist da überall.

Alles, was ich dabeihabe, ist klatschnass. Total. Meine Nikes quietschen beim Gehen, mein MP3-Player hat am ersten Tag wegen chronischer Feuchtigkeit den Geist aufgegeben, und Sachen trocknen kann man vergessen – es ist, als ob man eine Wäscheleine im Regenwald spannt. Der Fluss hat die ganze Zeit lauter kleine Pockennarben von den Tropfen, und wenn der Nebel kommt, sieht man kaum die Hand vor Augen. Was ziemlich lästig ist, weil dieser blöde Fluss sich dahinwindet wie eine Schlange und man nie weiß, wann er sich umdreht und einen beißt.

Der Raquette River heißt so nach einem französischen Trapper, der einer der ersten Weißen war, die den Indianern hier oben im Staat New York ihr Land abgegaunert haben, und warum man einen Fluss nach diesem Kerl benannt hat, kapiere ich echt nicht. Na, jedenfalls, das spricht sich Rakett aus, nur ich spreche es Räcket aus, wie das Wort »racket«, das so viel heißt wie: fiese erpresserische Machenschaften von Verbrecherbanden. Und genau das ist dieser ganze Kanu-Trip, eine fiese erpresserische Machenschaft von meiner Mutter und Tante Becky.

Meine Mutter hat mich nämlich gezwungen. Sonst wäre ich jetzt nicht hier. Glaub mir. Zu Dads Ehrenrettung muss man sagen, dass er sich da rausgehalten hat. Er hat nur gesagt, wenn ich mich dafür entscheide, mitzugehen, müssen wir den Hund mitnehmen. Und sein superschickes Handy, das von überall aus funktioniert. Also stand ich vor der Wahl, entweder fünf Tage mit Lobo und Tante Becky den Räcket River runterzupaddeln, oder die ganze Zeit in meinem unklimatisierten Zimmer zu hocken, weil meine Mutter einen regelrechten Nervenzusammenbruch hatte, als ich mein Zeugnis mit nach Hause brachte und meine Noten ganz schön mies waren. Ich meine, echt unterirdisch. Kein Witz.

Also dachte ich, was soll’s, dann geh ich eben mit. Aber wenn sie oder Tante Becky glaubt, dass es mir Spaß machen wird, dann haben sie sich geschnitten. Oder wenn der Sinn der Übung sein soll, dass ich zur Vernunft komme und einsehe, was es doch für ein tolles Erlebnis ist, ein menschlicher Schwamm zu sein, wo ich mir nur wünsche, ich wäre irgendwo, wo ich mit meinen Freundinnen rumhängen könnte. Tja, dann können sie auch das vergessen.

Ist irgendwie komisch, dass ich diesen Fluss so hasse, wo ich doch nach einem Fluss heiße. Ich meine, alle nennen mich Shannon, womit ich ja beinah leben kann und was allemal besser ist als Shenandoah, der Name von diesem Fluss im hinterletzten Virginia, nach dem mich meine Eltern genannt haben. Ich kam nämlich in ihrer Indianerphase zur Welt, bevor sie zum Judentum zurückfanden, und Ewigkeiten bevor sie beschlossen Buddhisten zu werden. Was sie jetzt angeblich sind.

Shenandoah heißt auf Indianisch »Tochter der Sterne«, aber fall da bloß nicht drauf rein. Sie haben mich nicht nach den Sternlein am Himmelszelt genannt, glaub doch das nicht. Sie haben mich nach sich selbst genannt, meine Eltern – sie sind die Sterne, deren Tochter ich sein soll. Weil sie so erleuchtet sind oder so kosmisch oder was. Das ist echt zum Kotzen.

Ich meine, wenn sie so erleuchtet sind, warum können sie sich dann nicht mal entscheiden, welcher Religion sie angehören wollen? Verstehst du, früher haben wir an Gott geglaubt und jetzt ist nie mehr die Rede von ihm, also, ich meine, kannst du mir das erklären? Und wie kommt’s, dass meine Mutter tagelang auf ihrem Bett liegt und mein Vater immer auf dem Absprung in irgendein Retreat ist, um seinen kosmischen Kopf klar zu kriegen? Und wie kommt’s, dass ich eine Schwester habe, die ich nie kennengelernt habe, die tot zur Welt kam und begraben wurde, als Nancy Arlene, so ein hübscher normaler Name, mit dem sie nie leben durfte, während ich dieses Shenandoah am Hals habe?

Aber reden wir nicht von meiner Familie, okay? Die ist mein kleinstes Problem. Glaub mir.

Ich meine, da ist die Schule. Die ist zwar weniger ein Problem als einfach nur nervig. Das einzige Problem, das ich mit der Schule habe, ist, dass ich jeden Tag hinmuss. Kann mir bitte mal jemand sagen, warum? Ist doch nicht so, dass ich da je was Nützliches lernen würde. Und ich hab zwar nicht so viele Freunde, aber die, die ich habe – die sind auch ein Problem. Denn das, was mir echt zu schaffen macht, kann ich mit denen auch nicht besprechen.

Also, mein wahres Problem ist: Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt existiere. Ich meine, woher soll man das wissen? Darüber kann man nicht einfach mit irgendwem reden, weil einen die Leute nur anstarren, als ob man bescheuert wäre oder so . Oder sie gucken durch einen durch, was irgendwie mein Problem nur noch schlimmer macht. Aber ehrlich, manchmal frag ich mich das echt.

Klar, ich gucke in den Spiegel und sehe, dass ich da bin. Und, okay, ich weiß, die Leute reden mit mir, also muss da ja was sein, dem sie antworten können, aber vielleicht hoffen sie ja nur, dass das heißt, sie existieren.

Klar, ich höre Sachen und fühle Sachen und denke, okay, das war das Telefon, das geklingelt hat, oder dieser Ofen ist heiß. Aber das ist ja nur das, was mir meine Ohren und Finger sagen, also, ich meine, woher weiß ich, was wirklich stimmt? Manchmal ist da diese schreckliche Unsicherheit und ich weiß nicht, was ich damit machen soll. Also decke ich sie damit zu, dass ich vor mich hin träume oder so tue, als würde ich Zukunftspläne schmieden wie meine Freundinnen, denn selbst wenn ich jetzt nicht existiere, dann ja vielleicht eines Tages. Aber nichts davon macht mich wirklich an. Ich bin nicht scharf drauf, Star zu werden oder das Geheimnis gesunden Alterns zu entdecken oder auch nur eine Horde Kinder zu kriegen, die vielleicht auch gar nicht existieren.

Mein Dad sagt immer: »Mach dir nichts draus, Shannon. Du bist doch erst fünfzehn. Du wirst dich schon noch finden.« Aber das Problem ist, dass ich gar nicht wirklich suche. Manchmal denke ich, meine Schwester hat es richtig gemacht. Einfach nur geboren werden und sterben und den ganzen verwirrenden Kram dazwischen überspringen.

Noch was total Peinliches an meiner Tante ist, dass sie immer singt. Ich meine, überall. Und jederzeit. Und jodeln kann sie auch. Ohne Scheiß. Oder sie erfindet diese blöden Verse. Zum Beispiel dieses eine Teil, das sie auf Schritt und Tritt vor sich hin rappt: »Was würde wohl der Buddha an meiner Stelle tun? Oder an deiner?« Voll bescheuert.

Ach, ja, da ist noch was an meiner Tante, was ich vielleicht erwähnen sollte: Sie hat nur eine Hand. Na ja, okay, sie hat zwei Hände, aber nur fünfeinhalb Finger. Ihre linke Hand besteht nur aus dem Handteller, der da, wo die Finger rauskommen müssten, so nach innen eingeschlagen ist, mit einem kleinen, aber nützlichen Daumenstummel. Sie kam schon so zur Welt, deshalb fällt es in unserer Familie keinem mehr auf. Und was sie damit alles kann, zum Beispiel ein Paddel halten oder einen Knoten machen oder ein Feuerzeug anzünden, indem sie’s zwischen den Stummeldaumen und die unvollständige Hand klemmt.

Meistens versteckt Tante Becky ihre Hand. Sie sagt, die bringt die Leute nur in Verlegenheit, und darauf legt sie’s nicht an. Was ein ziemlicher Witz ist, weil ich echt nicht weiß, was die Leute mehr in Verlegenheit bringt, ihre komische Hand oder ihre Glatze. Aber jedenfalls, sie lässt sie meistens in der Hosentasche – die Hand, meine ich, nicht die Glatze – und niemand weiß, dass sie da ist oder vielmehr nicht da ist, bis sie sie aus irgendeinem Grund rausziehen muss.

Zum Beispiel, als wir in dem Laden waren, in dem kleinen Ort am See, wo wir das Kanu abgeholt haben, da musste sie unsere Camping- Vorräte bezahlen und anderthalb Hände sind nun mal schneller als eine. Hinterm Ladentisch stand dieser hagere, alte Hinterwäldler, und als er ihre Hand sah, kriegte er einen stieren Blick und brach sich total einen ab, sie nur ja zu ignorieren, und überschlug sich dann fast vor Hilfsbereitschaft, als es drum ging, unser Zeug in das Kanu zu verfrachten. Es regnete schon die ganze Zeit, seit wir in den Catskills abgefahren waren, aber hier oben in den Adirondacks ließ es etwas nach, nur noch kleine Silbernadeln, die den grauen Long Lake zerpiksten.

»Werdet ihr denn klarkommen, Mädels?«, fragte der Alte mit seinem Hinterwäldlerakzent und passte total auf, dass er den Blick von Tante Beckys Hand und sich selbst von Lobo fernhielt.

»Wenn’s nur bald aufhört mit Regnen, bestimmt.« Also echt, meine Tante ist so eine Schleimerin, sie redete schon wie er.

»Hm.« Er kratzte sich am Kopf. »Ich würd den lieben Gott drum bitten, wenn ich Sie wär.«

»Mache ich«, antwortete sie. »Danke für Ihre Hilfe.«

Er ging weg und sie drehte sich grinsend zu mir um. »Armer Kerl. Der wusste gar nicht, wo nicht hingucken. Auf meinen Kopf oder auf meine Hand.«

»Heuchlerin«, murmelte ich.

»Bitte?«

»Seit wann bittest du den lieben Gott um irgendwas?«

»Ich würde ihn bitten, deine Laune zu bessern, wenn ich glauben würde, dass es was nützt«, antwortete sie.

»Ich wollte nicht hierher.«

»Du hattest die Wahl.«

»Tolle Wahl«, knurrte ich.

Sie seufzte. »Shannon, ich habe drei Wochen freie Zeit im Jahr. Das hier ist eine davon. Wenn du nach Hause willst, sag es jetzt. Bevor wir in dieses Boot steigen.«

Statt einer Antwort setzte ich meinen Kopfhörer auf und ließ mich vorn ins Kanu fallen, dass es fast umkippte. Ich wollte nicht hier sein, aber ich wollte auch nicht zu Hause sein, und eine andere Möglichkeit hatte ich nicht.

Lobo stieg hinter mir ins Kanu, leckte mir den Nacken und wischte mir den Kopfhörer vom Kopf. »Lass mich in Ruhe«, knurrte ich und schubste ihn weg.

»Auf geht’s!«, sagte Tante Becky, stützte das Paddel mit ihrer halben Hand ab und tauchte es mit der anderen ins Wasser. »Das wird toll!«

Geschlagene vier Stunden hat es uns gekostet, den Long Lake zu überqueren. Jetzt sind wir schon fast den ganzen Tag auf diesem Fluss und haben noch keine Menschenseele gesehen. Ich meine, hier ist echt niemand. Aber klar, nur eine Verrückte wie meine Tante wagt sich bei dem Wetter nach draußen. Der Nebel ist so dicht, da könnte ein anderes Kanu direkt an uns vorbeifahren und wir würden’s nicht merken. Ist auch nicht so, dass es totenstill wär, denn selbst jetzt, wo Tante Becky – Gott sei Dank – mit der Singerei aufgehört hat, macht doch der Regen seinen eigenen Lärm, und sobald der mal aufhört, und wenn’s nur für eine Sekunde ist, fangen die Insekten in den Bäumen an beiden Ufern an zu surren. Und die Paddel knallen gegen das Kanu oder klatschen ins Wasser. Meins jedenfalls.

Übrigens, das Kanufahren kannst du auch auf meine Hassliste setzen. Mir tun jetzt schon die Arme weh und ich hab Blasen an den Händen vom Paddeln. Tante Becky sitzt hinten und hält das Kanu auf Kurs. Sie manövriert es durch die Schleifen, diese Schlängelkurven, die der Fluss da macht, wo er zusammenschnurrt wie Stoff über einem Gummiband und wo die Fahrrinne so schmal ist, dass nicht mehr als ein Boot durchpasst.

63057-002.tif

Ich brauche nichts weiter zu tun als mein Paddel durchs Wasser zu ziehen. Manchmal schreit Tante Becky irgendwelche Kommandos, wenn wir um Felsen oder Baumstämme herumkommen müssen, ohne hängen zu bleiben. »Links paddeln! Rückwärts paddeln! Feste paddeln!« Sie hat mir gezeigt, wie ich das Paddel drehen muss, um das Boot abzubremsen oder sogar die Richtung zu ändern, wenn es sein muss.

Aber eigentlich ist es immer das Gleiche. Paddel ins Wasser stechen, durchziehen, anheben und wieder von vorn. Und wieder. Und wieder. Wenn du wissen willst, was langweilig heißt, dann probier’s mal mit Kanufahren. Das ist die Hölle. Echt.

Unter uns gesagt, Tante Becky steht nicht wirklich auf meiner Hassliste. Und sie ist auch keine ältere Frau, sondern mehr so Anfang dreißig. Aber dieses Nonnending ist trotzdem ganz schön schräg.

In der zweiten Nacht zum Beispiel, da bricht dieses Mordsgewitter los. Also voll der Weltuntergang. Überall um uns rum Blitze, diese riesigen, zuckenden Adern aus blauem Licht, und der Donner ist so laut und nah wie direkt im Zelt. Und man hört Bäume knacken und runterkrachen. Und wir hocken unter dem bisschen Nylon und warten auf den, der auf uns runterkracht. Ich kann dir sagen, das ist ganz schön horrormäßig. Tante Becky hat auch Schiss, selbst wenn sie’s nicht sagt.

Wir horchen, wie das Gewitter immer näher und näher kommt. Bei jedem Blitz ist es im Zelt ganz hell und wir sehen aus wie zwei schlaffe Raupen, wie wir da in unseren Schlafsäcken stecken und bei jedem Donnerschlag zusammenzucken. Und Lobo liegt einfach nur da, die Pfoten über der Schnauze, und zittert. Er ist so ein großer Deutscher Schäferhund, der fast wie ein Wolf aussieht, aber er hat so viel Chuzpe wie Rotkäppchen. Das totale Weichei. Echt.

Ich setze meine Kopfhörer auf, um den Donner abzublocken, aber der MP3-Player tut schon nicht mehr, und außerdem triefen die Schaumstoffpolster. Das ganze Ding ist ein einziger Jammer. Echt.

Also sag ich zu Tante Becky: »Wow, danke, dass ich mitdurfte, um hier zu verbrutzeln.«

»Gern geschehen.«

»Und erinnere mich dran, meiner Mutter eine Karte zu schicken und mich auch bei ihr zu bedanken.«

Meine Tante hat diese unglaublich blauen Augen, so hell wie Eiszapfen, und ich sehe ihre Augen jetzt glitzern, sogar im Dunkeln zwischen den Blitzen. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie die Postkarte schon mal im Geist formulieren würde. Tante Becky gilt ja als kreativ. Früher hat sie geschrieben, über die Natur und übers Campen und all diesen Mist – Sachen, die sogar veröffentlicht wurden –, bevor sie dann Nonne wurde und alles aufgegeben hat.

Jetzt kriecht sie aus ihrem Schlafsack und setzt sich drauf, in so einer Art Schneidersitz. Sie richtet sich ganz gerade auf und legt die Hände so in den Schoß, dass der richtige Daumen und der kurze sich berühren und das Ganze ein Oval bildet, wie ein offenes Fischmaul.

»Na, toll«, sage ich. »Der perfekte Moment zum Meditieren. Ist ja so still hier …«

Ein Donnerschlag übertönt mich. Tante Becky macht die Augen zu. Es blitzt schnell hintereinander und sie sieht aus wie jemand in einem alten Film. Du weißt schon, als die Filme noch schwarz-weiß waren und die Bilder so langsam und ruckartig durchliefen, dass die Leute diese spastischen Bewegungen hatten. Nur dass Tante Becky sich nicht bewegt, also ist es mehr so ein Film über nichts. Oder so, als ob sie im Zentrum des Nichts wäre und nur um sie herum sich Sachen bewegen. Wasserbäche, die außen am Zelt runterlaufen, verändern in dem Geflacker ihre Form wie ein verrücktes Kaleidoskop.

»Du würdest einen guten Blitzableiter abgeben«, murmle ich.

Ein Blitz erhellt ihren rasierten Schädel. Da sprießen schon wieder Härchen, kurze Borsten, so ähnlich wie auf Klettband. Ich weiß gar nicht mehr richtig, wie Tante Becky mit Haaren aussieht. Sie hatte so tolles, glänzend braunes Haar, aber das Komische ist, sie ist immer noch hübsch, auch ohne. Sie ist rundlich, mit dieser ganz weißen Haut, und wenn sie lächelt, ist das ansteckend, wie wenn plötzlich die Sonne durchbricht.

Wieder erschüttert ein Donnerknall das ganze Zelt. Tante Becky zuckt mit keiner Wimper. Das Einzige, was sich bewegt, ist ihr ein- und ausströmender Atem. Jemand anders würde das wahrscheinlich gar nicht bemerken, aber ich bin dran gewöhnt, dass Leute »Zazen« machen, diese buddhistische Meditation. Ich hab’s sogar selbst ein paar Mal probiert, aber als meine Mutter mich dazu gedrängt hat, hab ich mich total quergestellt. Es hilft ja auch nicht gegen ihre Depressionen, also bitte, lasst mich damit in Ruhe.

Die letzten paar Jahre, bevor sie Nonne wurde, lebte Tante Becky immer mal wieder eine Zeit lang in diesem Zen-Kloster, etwa fünf Meilen von Boiceville, dem Kaff in den Catskills, wo wir wohnen. Einmal, als sie zwischen ihren Klosterphasen bei uns war, da war ich vielleicht sechs oder sieben und kam total geknickt aus der Schule.

Tante Becky ließ sich neben mir aufs Sofa fallen. »Du siehst aus, als wäre irgendwas.«

Ich nickte grimmig. »So ein Junge aus meiner Klasse. Der hat gesagt, Gott mag keine Buddhas.«

»Hmm.« Meine Tante schob die Lippen vor. »Klingt nicht nach dem Gott, den ich kenne.«

Ich runzelte die Stirn. »Ich dachte, wir glauben nicht mehr an Gott.«

»Shannon, du kannst glauben, woran du willst. Niemand sagt, du darfst nicht mehr an Gott glauben.«

»Aber ist Buddha denn Gott?«

»Weißt du, was Buddha bedeutet?«

Als ich den Kopf schüttelte, sagte sie: »Buddha heißt ›der Erwachte‹. Und der Mann, den wir den Buddha nennen, der war ein Lehrer. Und seine Lehre war, dass jeder erwachen kann. Und alles, was man wissen muss, um es zu tun, ist schon in einem drin.«

Ich seufzte. »Ich weiß nur, dass es doof ist, der einzige Buddha in meiner Klasse zu sein.«

Tante Becky musterte mich. »Shannon, jedes Kind in deiner Klasse ist ein Buddha.«

Meine Eltern haben einen Extra-Raum zum Meditieren und ab und zu geh ich dort rein und gucke mir die Buddha-Statue auf ihrem Altar an. Man kann fast nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau ist, aber die Gestalt hat ein sanftes, träumerisches Gesicht und eine supergute Haltung. In der Schule versuchte ich mir alle Kinder aus meiner Klasse mit diesem Gesicht vorzustellen, sogar den Blödmann, der gesagt hatte, Gott würde Buddhas dissen. Buddhas beim Buchstabieren, dachte ich dann.

Meine Mutter mag ja auch ein Buddha sein, aber sie rastete total aus, als meine Tante beschloss Nonne zu werden. Echt wahr. Sie blieb drei volle Tage auf ihrem Zimmer. Ich war damals elf und saß mit ihnen zusammen in der Küche, als Tante Becky die Neuigkeit verkündete.

»Warum willst du so was tun?«, fragte meine Mutter.

»Ich will es nicht tun«, antwortete meine Tante. »Ich muss es tun.

Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Oy. Wenn unser litauischer ›Zaidie‹ dich jetzt sehen könnte.«

Tante Becky runzelte die Stirn genau wie er. »Er würde sagen, ›Sie war noch nie ein Rockefeller‹.«

Sie lachten und einen Moment lang waren ihre Gesichter wie Spiegelbilder, beide so strahlend. Tante Becky nahm die Hände meiner Mutter. »Sandy, es ist das, was mir am sinnvollsten erscheint. Für mein Leben.«

»Ach, es ist sinnvoll, dein Leben diesem Kloster zu widmen? Entschuldige, Rebecca, aber das ist wie Gefängnis.«

Sie seufzte. »Tut mir leid, dass es dir so vorkommt. Für mich fühlt es sich an wie Freiheit.«

Meine Mutter stöhnte: »Wir werden dich nie mehr sehen. Shannon wird ohne ihre Tante aufwachsen. Wie kannst du ihr das antun?«

Tante Becky strich mir übers Haar. »Ich gehe ja nicht weg.«

Meine Mutter sah sie stirnrunzelnd an. »Und ich dachte, du wärst die Normale.«

Was ja, wenn man’s bedenkt, ziemlich komisch ist – so was zu Tante Becky zu sagen. Ich meine, ich hasse es, mit meiner Mutter über irgendwas einer Meinung zu sein, aber ich muss sagen, mir ging’s genauso. Verstehst du, meine Mutter ist nun mal ein Trauerkloß, aber Tante Becky konnte echt cool sein. Als sie noch Haare hatte, lackierte sie sich immer die Zehennägel in lauter verschiedenen Farben und schrieb Limericks in großen Kreidebuchstaben auf die Straße. Die Leute sagten immer, Tante Becky würde mal reich und berühmt werden. Aber jetzt gab sie ihre Möbel weg, verkaufte ihr Auto und überließ uns ihre Katze.

Es dauerte noch ein paar Jahre, bis Tante Becky wirklich Nonne wurde und den neuen Namen »Tasshu« kriegte. Das ist japanisch für »Alldurchdringend«, was auch immer das bedeutet. Ich nenne sie immer noch Tante Becky und es juckt mich nicht mehr, ob sie normal ist oder nicht. Ihr Leben erscheint mir so sinnvoll wie sonst was, wobei das nicht viel heißt.

Vor allem jetzt, in diesem Moment, wo das Unwetter auf uns runterkracht. Und wo das Einzige, was ich wirklich will, ist, dass Tante Becky aufhört zu meditieren und mich in die Arme nimmt, nur dass ich zu feige bin, sie drum zu bitten. Also tu ich das Einzige, was mir einfällt. Ich kuschle mich an Lobo und versuche in Tante Beckys Rhythmus mitzuatmen. Mein Magen ist ganz flattrig und mein Atem stolperig, aber ich zwinge mich weiterzumachen, denn wenn ich einfach nur so daliege, dreh ich echt durch.

Und kurz bevor ich einschlafe, geht mir plötzlich was über Tante Becky auf: Auf diesem ganzen Trip hat sie mir noch keine einzige Frage gestellt. Kein »Und was willst du machen, Shannon?« oder »Hast du Hunger?« oder auch nur »Was hast du denn?«. Sie macht einfach ihr Ding, was immer das ist – Zelt aufstellen oder Feuer machen oder Flusswasser zum Trinken filtern –, und ich kann mithelfen. Oder nicht. Und meistens tu ich’s nicht, denn selbst wenn es meine Entscheidung war, auf diesen Kanu-Trip mitzukommen, muss es mir noch lange nicht gefallen.

Und am allerwenigsten gefällt es mir, wenn ich langsam von innen nach außen verschimmle und ein Mordsgewitter meine sämtlichen Knochen durchschüttelt und der einzige Mensch im Umkreis von Meilen dasitzt wie eine Statue in einem Film in einem Traum, aus dem ich nicht aufwachen kann.

Am Tag nach dem großen Unwetter kommt die Sonne raus. Endlich. Im Lauf der Nacht hat der Wind die Wolken weggefegt und jetzt sengt die Sonne ein Loch in den Nebel und zum ersten Mal sehen wir, was zwanzig Meter vor uns und hinter uns ist.

Alles dampft. Wir auch. Dampf steigt aus Lobos Fell und aus Tante Beckys Poncho und sogar aus meiner Yankees-Kappe, und es sieht aus, als ob wir qualmen, wie Papier, bevor es in Flammen aufgeht. Schicht für Schicht pellen wir uns aus dem Regenzeug und den Sweatshirts, bis wir nur noch in Jeans und T-Shirt dasitzen. Die warme Luft an meinen Armen ist der reinste Schock. Ehrlich.

Das Einzige, was ich nicht ausziehe, ist das, was Tante Becky mein Survival-Pack nennt. Und sie hat gesagt, das darf ich nie ausziehen, nicht mal zum Schlafen. Im Grunde ist es nur eine Gürteltasche mit dem Zeug, von dem man glaubt, dass man es unbedingt braucht, falls man sich verirrt oder ganz allein irgendwo in der Wildnis strandet. Also, daran will ich nicht mal denken. Als ob mein schlimmster Albtraum wahr werden könnte und Tante Becky verlangt, dass ich mich dafür passend anziehe. Sie hat trockene Streichhölzer, Angelhaken und Angelschnur in ihrem Pack und noch so eine Rettungsdecke, die aussieht wie Alufolie. Mein Survival-Pack enthält zwei extra Akkus für meinen MP3-Player, drei Kiwi-Kaubonbons und ein Bild von meinem Lieblingsschauspieler Ryan Gosling. Damit müsste ich alles überstehen.