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Deutsche Erstausgabe (ePub) Dezember 2016

 

Für die Originalausgabe:

© 2013 by Jay Northcote

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Little Things«

 

Originalverlag:

Published by Arrangement with Dreamspinner Press LLC, 5032 Capital Circle SW, Ste 2, PMB# 279, Tallahassee, FL 32305-7886 USA

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2016 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

 

ISBN ePub: 978-3-95823-620-2

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

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Aus dem Englischen
von Uta Stanek


 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem den Autor des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber seiner Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane des Autors und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

 

Vielen Dank!

Ihr Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Joels Leben könnte nicht besser sein: Er führt eine glückliche Beziehung mit Dan und mit der Mutter seiner über alles geliebten, dreijährigen Tochter verbindet ihn ein enges Verhältnis. Doch ein tragischer Unfall verändert alles. Als alleinerziehender Vater muss Joel nicht nur den Verlust einer guten Freundin verarbeiten, sondern auch einsehen, dass die Beziehung mit Dan dieser Belastung nicht standhält. Ausgerechnet in dieser dunklen Zeit lernt er Krankenpfleger Liam kennen. Sie fühlen sich einander sofort verbunden, aber Joel zögert. Kann er sich wirklich auf Liam einlassen, nachdem er bereits so viel verloren hat?


 

Für Mum.

Danke, dass du mich mit Büchern umgeben und deine

Leidenschaft für Geschichten mit mir geteilt hast.

Ich liebe dich und vermisse dich jeden Tag.


 

Kapitel 1

 

 

Joels Handy vibrierte in seiner Jackentasche. Ohne stehen zu bleiben, zog er es heraus, um die Nachricht zu lesen. Er war in Eile, da die verdammte Lehrerkonferenz wie immer länger gedauert hatte.

Die Worte auf dem Display brachten ihn zum Grinsen.

Der Arsch von dem Typen hier im Laden erinnert mich an deinen. Jetzt bin ich geil. Vermisse dich. Dan war ständig geil, aber Joel beschwerte sich definitiv nicht darüber. Er genoss die unregelmäßigen Nachrichten, die Dan über den Tag verteilt schickte, auch wenn es nicht immer klug war, sie während der Arbeitszeit zu lesen. Er wusste nie, ob eine davon versaute Inhalte hatte, daher war es besser, vorsichtig zu sein und eigentlich durfte er sein Handy im Unterricht ohnehin nicht benutzen.

Joel blieb stehen, während er zurückschrieb. Ich dich auch. Freu mich auf morgen. Ich ruf dich später an. Kuss.

Er ging weiter, wobei er die heruntergefallenen Blätter auf dem Gehweg aufwirbelte. Die Braun- und matten Orangetöne wurden von einem gelegentlich aufleuchtenden Rot aufgelockert. Vielleicht hätte er heute das Auto nehmen sollen, aber an Tagen, an denen Evie bei ihm war, ging er gerne zu Fuß zur Arbeit. Die Bewegung tat ihm gut und morgens, nachdem er Evie abgesetzt hatte, mochte er die Zeit allein mit seinen Gedanken. Nachmittags, wenn er das Bishopston Gymnasium hinter sich ließ, nutzte er die Zeit, um runterzukommen und den Lehrermodus abzuschalten.

Nur fünf Minuten nach der vereinbarten Abholzeit erreichte er den Kindergarten.

»Daddy!« Evie strahlte und warf sich gegen seine Knie. Er hockte sich hin, um sie zu umarmen und zu küssen. Sie klammerte sich an ihn und der vertraute Geruch seiner Tochter strömte ihm in die Nase – Babyshampoo, Waschmittel und darunter der warme Duft, der einfach nur Evie gehörte.

»Es tut mir so leid...« Mit Evies Hand in seiner richtete er sich auf, als er begann, sich bei Yasmin, Evies Erzieherin, zu entschuldigen. »Die Lehrerkonferenz hat mal wieder länger gedauert.«

»Kein Problem«, versicherte Yasmin ihm grinsend. Die dunklen Augen in ihrem glatten, braunen Gesicht leuchteten freundlich. »Fünf Minuten länger mit ihr machen mir nichts aus, nicht wahr, Evie?« Yasmin lächelte auf das kleine Mädchen hinunter. »Sie macht keine Schwierigkeiten. Nun pass auf dem Heimweg gut auf deinen Daddy auf, Evie, und morgen sehen wir uns wieder.«

»Okay.« Evie strahlte, wobei die blauen Augen ihrer Mutter einen auffälligen Kontrast zu den dunklen Wimpern bildeten, und winkte mit einer Hand, die in einem Fäustling steckte. »Tschüss.«

Joel zog Evies Wollmütze über ihre dunklen Locken. Die Farbe hatte sie von ihm. Joels Haare waren dunkelbraun wie seine Augen. Claire war blond, doch die Locken hatte Evie von ihr. Joels Haare waren ganz glatt gewesen, als er sie als Teenager hatte wachsen lassen. Jetzt trug er sie raspelkurz geschnitten, eine seidige Kappe, bei der er dazu neigte, unbewusst mit den Händen darüber hinweg zu streichen, wenn er sich konzentrierte.

»Dann mal los, Trouble.« Yasmin hielt ihnen die schwere Tür auf, während Joel mit Evie an der einen und ihrer Tasche in der anderen Hand hindurchtrat. Auf seinem Rücken trug er seinen Rucksack. Heute war er nicht besonders voll, da er während einiger Freistunden einen Großteil der Benotungen bereits in der Schule hatte erledigen können. »Gehen wir nach Hause. Tschüss, Yasmin. Danke schön.«

»Danke, dass du auf mich aufgepasst hast«, rief Evie über ihre Schulter. Joel und Yasmin sahen sich an und grinsten.

»War mir ein Vergnügen, Süße«, antwortete Yasmin.

Wenn Evie bei Claire war, fuhr Joel gewöhnlich mit dem Fahrrad zur Arbeit, es sei denn, er hatte zu viele Bücher dabei oder das Wetter war so scheußlich, dass er das Auto nehmen musste. Aber an Evie-Tagen genoss Joel nach dem hektischen Treiben, sie beide fertigzumachen, die Möglichkeit, aufzubrechen und mit seiner Tochter zu plaudern. Der Weg von seiner Wohnung zum Kindergarten war kurz und für die Beine einer Dreijährigen leicht zu bewältigen. Sobald er Evie abgegeben hatte, konnte er seine Schritte auf dem längeren Weg zur Schule beschleunigen. Wenn er sich beeilte, schafft er es in unter einer halben Stunde.

Joel mochte das Gefühl von Evies kleiner Hand in seiner größeren, wenn sie Seite an Seite gingen. Er war fasziniert, wie sie stehen blieb und Dinge betrachten konnte, die an ihm ohne einen zweiten Gedanken vorübergezogen wären – zum Beispiel ein mit Tau bedecktes Spinnennetz in einer Hecke oder das langsame, kaum auffallende Vorankommen einer Schnecke an einem Gartenzaun. Joel sorgte immer dafür, dass sie genügend Zeit hatten, um in Evie-Geschwindigkeit zu laufen.

Wie vorherzusehen war, schaffte Evie heute nur den halben Heimweg, bevor sie entschied, zu müde zum Laufen zu sein. Joel gab schnell nach. Aus Erfahrung wusste er, dass sie sich wahrscheinlich auf den Fußweg setzen und heulen würde, wenn er sich weigerte, sie zu tragen.

»Rauf mit dir.« Er hob sie auf seine Schultern, während sie vor Freude jauchzte und ihre Arme um seinen Kopf schlang. »Evie, ich muss noch sehen können, wohin ich gehe.« Sie verschob ihre Hände, bis sie seine Ohren mit dem kitzelnden Stoff ihrer Fäustlinge bedeckte. »Schon besser, aber jetzt kann ich nicht hören, was du sagst.«

Evie kicherte und legte ihre Hände auf seinen Kopf. Sie bekam nie genug von diesem vertrauten Spiel. »Jetzt besser?« In ihrer hohen Stimme schwang Schelm mit.

»Perfekt«, antwortete Joel und lief los. Er ging nun schneller, da er sich darauf freute, nach Hause zu kommen. Joel wollte in eine Jeans sowie ein altes, ausgeleiertes T-Shirt schlüpfen, glücklich darüber, den Lehrer Mr. Mason abstreifen und wieder Joel und Daddy für Evie sein zu können.

Er hatte vor Kurzem sein zweites Jahr als ausgebildeter Geschichtslehrer angefangen, doch er war nicht sicher, ob er sich jemals daran gewöhnen würde, als Mr. Mason angesprochen zu werden. Dabei kam er sich vor, als würde ihm seine eigene Haut nicht passen. Mit dreiundzwanzig wusste er, dass er erwachsen war. Aber manchmal stand er vor seiner Klasse und sah in die Gesichter seiner Schüler, die kaum jünger waren als er, und kam sich wie ein Hochstapler vor. Es erstaunte ihn jedes Mal wieder, dass die Kids ihn ernst nahmen – nun, meistens jedenfalls –, denn tief drinnen fühlte sich Joel noch nicht bereit für sein Leben und all die Verantwortung darin.

Genauso empfand er es bei Evie. Sie war das Zentrum seines Universums und er konnte sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Es gab nicht eine Minute, in der Joel sich gewünscht hätte, dass es sie nicht gab, egal wie schwer es gewesen war, in seinem zweiten Jahr an der Uni Vater zu werden. Für Claire war es natürlich noch schwerer gewesen, weil sie durch das Stillen in den ersten Monaten die Hauptlast von Evies Versorgung hatte tragen müssen. Aber Joel hatte getan, was er konnte; er hatte involviert sein wollen, das Baby teilen wollen, das sie versehentlich gezeugt hatten. Letztendlich war Evie ein glücklicher und herrlicher Unfall gewesen, aber auch einer, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte, während sie mit ihrer Existenz und wie sie in ihr junges Leben passte, klarzukommen versucht hatten.

»Mummy kommt heute zum Tee«, informierte Joel Evie.

»Und dann geh ich mit zu Mummy«, sagte Evie. »Dann seh ich George. Manchmal schläft er in meinem Bett.«

George war ein großer, schwarz-weißer Kater und vor ein paar Monaten vor Claires Tür aufgetaucht. Sie hatte versucht herauszufinden, wem er gehörte, indem sie Zettel an Straßenlaternen und beim Laden an der Ecke angebracht hatte, aber niemand hatte sich gemeldet. Nach einigen Wochen hatte sich George erfolgreich so tief in Claires und Evies Herzen geschlichen, dass sie froh waren, dass niemand Anspruch auf ihn erhob. Nun war er ein fester Bestandteil von Evies Zuhause bei ihrer Mum und Evie liebte ihn.

»Ja«, bestätigte Joel. »Du bleibst heute und morgen bei Mummy. Am Wochenende kommst du wieder zu mir.«

»Wochenende mit Daddy.« Evie klang glücklich.

Joel wusste, dass Evie mit ihren drei Jahren noch kein wirkliches Verständnis für Wochentage oder das Konzept der Zeit hatte, obwohl sie für ihr Alter ein schlaues, kleines Mäuschen war. Aber sie plapperte nach, was er sagte, also nickte er. »Ganz genau.«

Mittwochs war Übergabetag. Evie blieb montags und dienstags bei Joel und ging dann für den Mittwoch und Donnerstag zu Claire. Die Wochenenden wechselten sie sich ab, aber wenn nötig, waren sie beide flexibel. Gelegentlich verbrachte Evie ein Wochenende bei ihren Großeltern mütterlicherseits, die etwa eine Stunde Fahrt über die Autobahn in Gloucester wohnten.

Ihr aufgeteiltes Leben als Eltern funktionierte meistens sehr gut. Es half, dass Joel und Claire ein freundschaftliches Verhältnis pflegten. Vielleicht, weil sie nie in einer Beziehung gewesen waren, daher war niemand durch eine bittere Trennung verletzt worden. Natürlich stritten sie manchmal. Ihre Situation war nicht immer leicht gewesen, aber meistens hatten sie es geschafft, sich nach nur kleineren Auseinandersetzungen zu einigen.

Endlich zu Hause, hob Joel Evie von seinen Schultern und gab ihr die Tasche zurück, damit sie diese festhielt, während er in seiner Jackentasche nach den Schlüsseln kramte.

»So, dann mal rein.« Er hielt Evie die Tür auf und knipste das Licht im Flur an.

Joel wohnte im Erdgeschoss eines viktorianischen Reihenhauses, das in vier Wohnungen aufgeteilt worden war, eine auf jeder Etage. Den Flur und die Treppe teilte er sich mit seinen Nachbarn und wie immer herrschte Chaos. Die Post war unachtsam auf einen kleinen Tisch geworfen worden und zwei Fahrräder lehnten am Geländer. Die Luft war ein wenig feucht und roch moderig, mit Andeutungen des Abendessens der anderen und einem Hauch Zigarettenqualm von den Studenten aus dem dritten Stock. Joel rümpfte die Nase, als er stehen blieb, um sich auf der Suche nach seinem Namen durch den Stapel Briefumschläge zu arbeiten.

»Pass auf die Fahrräder auf, Evie«, warnte er. Eins der Räder sah aus, als würde es bei der kleinsten Berührung umfallen, aber Evie ging vorsichtig daran vorbei.

»Schneller, Daddy«, grummelte Evie, als sie an der Tür auf der anderen Seite des Flurs wartete. »Schneller!«

Endlich in ihrer Wohnung, half Joel Evie beim Schuhe ausziehen und steckte sie in den Korb neben der Eingangstür. Evie zog ihre Fäustlinge aus, während Joel sich seine Schuhe abstreifte und seine Jacke aufhängte. »Schaffst du es, Eves?«, fragte er. Sie hatte ihre kleinen Augenbrauen voller Konzentration zusammengezogen, ihre Lippen geschürzt und kämpfte mit den Schnallen ihres Mantels. Heute schien sie es zu schaffen. So eindringlich auf ihre Selbstständigkeit bedacht, würde Evie seine Hände wahrscheinlich wegschieben, falls er eingriff.

»Geschafft!«, sagte sie vollauf zufrieden. »Evie hat's geschafft.«

»Das hast du. Gut gemacht, Knirps.«

Evie folgte Joel in die Küche. Er schnitt ihr einen Apfel klein und gab ihr eine Tasse Milch, dann ließ er sie, mit Buntstiften und Papier beschäftigt, am Küchentisch sitzen, während er sich umzog. Als er zurückkam, saß sie noch immer da und malte hingebungsvoll und hoch konzentriert Schnörkel. »Das bin ich und George«, informierte sie Joel. »George sitzt auf meinem Schoß, sieht du? Das ist sein Schwanz.«

Joel bewunderte den pinken Kringel, der nur wenig Ähnlichkeit mit Georges echtem Schwanz hatte. »Sieht gut aus. Vielleicht könntest du ihm noch Schnurrhaare malen?« Er wandte sich ab und begann, die Sachen aus den Küchenschränken zu holen. »Heute gibt's Makkaroni mit Käse, Evie«, sagte er, als er den Wasserkessel zum Kochen auf den Herd stellte und in der untersten Schublade des Kühlschranks nach Gemüse suchte. »Und ich habe Brokkoli, den wir dazu essen können.«

»Hasse Brokli.« Evie rümpfte die Nase.

»Na ja, ein bisschen was kannst du probieren. Vielleicht änderst du deine Meinung.«

Joel fand sich in die Routine der Zubereitung des bekannten Gerichts ein. Als die Makkaroni mit Käse bei geringer Hitze im Ofen garten, der Brokkoli geschnitten war und darauf wartete, gedünstet zu werden, fiel Joel ein, dass er sein Handy in der Jackentasche vergessen hatte.

Er holte es, um seine Nachrichten zu überprüfen. Eine von Claire, die sie vor etwa zehn Minuten geschickt hatte und in der sie sagte, dass sie gegen halb sieben da wäre. Er warf einen Blick auf die Küchenuhr und entschied, den Brokkoli jetzt anzustellen. Das Timing würde ungefähr passen und es wurde langsam spät für Evie. Sie hatte im Kindergarten zwar Tee gehabt, aber er und Claire aßen gerne mit ihr zusammen. Ihre kleine Familie mochte unkonventionell sein, aber Evie liebte es, beide Elternteile für eine Weile im selben Raum zu haben, sodass sie sich für sie immer die Mühe machten.

Joel brachte das Wasser im Dampfgarer zum Kochen und stellte den Timer am Ofen ein, damit er den Brokkoli nicht versehentlich zu Brei verkochte. Dann setzte er sich zu Evie an den Tisch, um ihre Bilder zu bewundern.

»Erzähl mir was über dieses Bild, Eves.« Er deutet auf eins mit vier Klecksen, die aussahen wie Evies Version von Menschen. Riesige Gesichter ohne Körper und mit kleinen Strichen als Arme und Beine. »Wer ist das denn?«

»Das bin ich.« Sie deutete auf den kleinsten Klecks, dann zeigte sie mit jeweils einem festen Fingerdruck auf die anderen. »Und das ist Mummy, das bist du und das ist Dan.«

Joel blinzelte in dem Versuch, seine Überraschung darüber zu verstecken, dass Dan in Evies Zeichnung vorkam. Wahrscheinlich hatte sein Freund Evie in letzter Zeit oft Gesellschaft geleistet. Lächelnd betrachtete er das Bild. Er traf sich bereits seit einigen Monaten mit Dan. Es war noch immer ziemlich locker zwischen ihnen, aber er hoffte, dass es sich weiterentwickelte. Ihm gefiel die Vorstellung, dass das mit ihnen irgendwann etwas Festes werden könnte, auch wenn er vorher noch nie eine ernsthafte Beziehung geführt hatte. Allerdings war Dan erst neunzehn und hatte verständlicherweise keine Eile, sich auf einen Kerl einzulassen, der ein Kind hatte, wenn auch nur in Teilzeit.

»Ich mag Dan«, verkündete Evie. »Er bringt mir Schokolade mit.«

Joel lachte. Sein Freund kannte eindeutig den Weg in Evies Herz. »Ich mag ihn auch«, antwortete er, zog eine von Evies kastanienbraunen Locken auseinander und ließ sie zurückschnappen.

Der Timer am Ofen meldete sich beinahe zur gleichen Zeit wie die Türklingel. Joel sprang auf und stellte den Dampfgarer aus, bevor er auf den Summer drückte, um Claire erst durch die Haustür und dann durch seine eigene Wohnungstür zu lassen.

»Hi«, begrüßte sie ihn mit einem Kuss auf die Wange. »Wo ist mein Mädchen?«

»In der Küche.« Er deutete in die Richtung und nahm Claire den Mantel ab.

Claire steuerte den hellen Lichtschein an, der aus der Küche in den Flur fiel. »Hi, meine Süße.« Für einen Moment blieb Joel im schwach beleuchteten Flur stehen und lauschte Claires Begrüßung und Evies erfreutem Schnattern. Er lächelte vor sich hin und hängte den Mantel auf, ehe er sich zu ihnen gesellte.

 

Die Makkaroni mit Käse waren gut.

Evie aß eine kleine Portion, da sie bereits Wörschtschen und Brei im Kindergarten gehabt hatte, wie sie Joel und Claire erzählt hatte. Makkaroni mit Käse war jedoch eins ihrer Leibgerichte und sie stürzte sich begeistert darauf, nachdem sie ein paar Mal argwöhnisch im Brokkoli gestochert hatte.

»Wie läuft's bei der Arbeit?«, fragte Claire Joel.

Zwischen zwei Bissen hielt er inne, um ihr zu antworten. »Nicht schlecht, aber wie immer stressig. Die Qualitätsprüfer lauern hinter jeder Ecke, aber zumindest habe ich dieses Jahr das Gefühl, zu wissen, was ich da tue, da ich schon ein Jahr unterrichtet habe.«

»Du siehst auch nicht ganz so erschöpft aus wie letztes Jahr um diese Zeit.« Claire musterte ihn.

»Na ja, letztes Jahr bin ich auch beinahe aus den Latschen gekippt.« Bei der Erinnerung daran, wie gestresst er am Ende seiner ersten Monate als Lehrer gewesen war, verzog er das Gesicht. »Ich glaube, in den Ferien habe ich zwölf Stunden am Tag geschlafen, außer ich hatte dieses Mäuschen hier bei mir.« Er schaute zu Evie, die ihn aus hellen Augen anblickte. Sie wusste, dass sie über sie sprachen, auch wenn sie dem Tempo und der Komplexität des Erwachsenengesprächs nicht ganz folgen konnte. »Und wie geht es dir?« Er wandte sich erneut an Claire. »Wie läuft die Uni?«

Claire studierte immer noch für ihren Abschluss in Politikwissenschaft und Recht. Als Evie noch kleiner war, hatte sie zwei Jahre pausiert, aber nun ging sie wieder Vollzeit zur Uni. Joel wusste, dass ihre Kurse anspruchsvoll und fordernd waren, vor allem jetzt in ihrem Abschlussjahr.

»Alles beim Alten«, sagte sie seufzend. »Vorlesungen, Übungen, endlose Hausarbeiten. Aber ich halte den Kopf über Wasser. Es läuft ganz gut. Am Ende wird es sich auszahlen, da bin ich sicher.«

Joel wusste, dass Claire bescheiden war. Wie er sie kannte, lief es besser als gut. Sie war von Natur aus Perfektionistin und ihre Noten waren stets gut. Sie war schon immer strebsam gewesen, aber seit Evies Geburt strengte sie sich noch mehr an. Die Verantwortung für ein Kind hatte sie beide schnell erwachsen werden lassen.

Als sie sich an der Bristol University kennengelernt hatten, war Claire von Anfang an eine seiner besten Freundinnen gewesen. Sie waren Teil einer großen Clique gewesen, die er im Studentenwohnheim des Campus kennengelernt hatte. Sie hatten in sämtlichen Konstellationen miteinander rumgehangen, aber er und Claire hatten immer eine besondere Verbindung zueinander gehabt – sie waren beide fleißig gewesen und hatten ihr Studium ernst genommen, aber sie hatten auch Spaß zusammen gehabt.

Wenn sie ausgegangen waren, hatten sie abgeschaltet, zu viel getrunken und wie alle Studenten verrückte Dinge getan. Irgendwie schien Joel immer in Claires Zimmer gelandet zu sein oder sie in seinem. Sie waren aus einer Bar getaumelt und hatten sich einen Joint geteilt, bevor sie eingepennt waren. Voll bekleidet und absolut keusch, in dem winzigen Bett, das kaum groß genug für eine Person war, ganz zu schweigen von zwei.

Jeder hatte angenommen, dass sie es miteinander getrieben hatten, aber das hatten sie nicht – bis sie es doch getan hatten. Es war nicht oft passiert, aber in einer Nacht mit zu viel Tequila waren die Klamotten plötzlich verschwunden und Joel hatte seine Jungfräulichkeit verloren, während Claire ihm gezeigt hatte, was er tun musste. Nach dieser Nacht war es noch ein paar Mal passiert, aber schließlich war es Claire gewesen, die es beendet hatte.

»Ich weiß, dass du nicht wirklich mit dem Herzen dabei bist«, hatte sie ihm eines Nachts in seinem Zimmer offenbart, nachdem sie ein bisschen miteinander rumgemacht, geknutscht und gefummelt hatten, aber nicht weitergegangen waren. Sie war nicht wütend oder gar aufgebracht gewesen, aber ihre Worte waren brutal ehrlich gewesen. »Ich merke einfach, dass es nicht richtig ist.«

Irgendwie hatten ihre Worte eine kleine, unangenehme Stelle in Joel berührt und etwas war in Gang gesetzt worden. Claire hatte ihn im Arm gehalten, als er sein Gesicht an ihrer Schulter vergraben und ihr gestanden hatte, dass er glaubte, sich nicht für Mädchen zu interessieren. Sie hatte nicht mal überrascht geklungen. Sie hatte ihn festgehalten und ihn überzeugt, dass die Welt nicht untergehen würde, nur weil er schwul war. Dann hatte sie ihn aufgefordert, rauszugehen und sich einen Typen zu suchen, um seine Theorie zu überprüfen. Joel hatte gelacht, während er sich die Tränen aus den Augen gewischt hatte. Da hatte er gewusst, dass ihre Freundschaft sicher war.

Sechs Wochen später hatte Claire rausgefunden, dass der Grund für ihre überfällige Periode nicht der Stress war. Diesmal war er es gewesen, der Claire festgehalten hatte, während sie geweint und wütend über die dämlichen, beschissenen Kondome, die verdammt noch mal nicht gehalten haben, geschimpft hatte, und er hatte sie überzeugt, dass ein Baby nicht das Ende der Welt bedeuten würde, wenn sie es haben wollte.

Joel sah von seinem Teller auf, als Claires Stimme ihn in die Gegenwart zurückholte.

»Evie, probierst du auch noch was von dem Brokkoli oder spielst du nur damit?«, fragte Claire.

Evie hielt ihn am Stängel und inspizierte ihn wie eine Forscherin, die eine neue Spezies untersuchte. »Es ist ein kleiner Baum«, stellte sie fest. »Ein Brokli-Baum.«

»Ja«, stimmte Joel zu. »Und sie sind lecker und gut für dich, daher wirst du ein bisschen was davon essen. Du hast schon oft Brokkoli gegessen.«

Evie sah zwischen den Gesichtern ihrer Eltern hin und her und entschied offenbar, dass sich ein Streit nicht lohnte. Sie waren beide recht streng mit ihr, wenn es darum ging, Essen zu probieren, das ihr suspekt erschien.

Nachdenklich knabberte sie daran. »Ist okay«, sagte sie skeptisch. »Aber nur die Blätter.«

»Den Stängel kannst du liegen lassen, Evie«, sagte Claire und fügte dann an Joel gewandt hinzu: »Den isst sie nie. Nun, bei mir jedenfalls nicht.«

»Nein.« Er lachte. »Auch bei mir nur die Blätter. Der Stamm des Brokkoli-Baums bleibt immer über.«

»Daddy isst ihn.« Mit noch vollem Mund legte Evie den angeknabberten Stängel auf Joels Teller. »Evie ist fertig.«

»Schluck erst mal runter«, sagte Claire. »Wenn du dann noch Hunger hast, kannst du einen Joghurt essen. Vorausgesetzt, Daddy hat welchen da?«

Joel nickte.

Nach dem Essen spülte Claire das Geschirr ab und Joel packte Evies Tasche, die sie für die nächsten Tage mit zu ihrer Mum nahm. Evie half und behinderte ihn, indem sie ihm in die Quere kam und versuchte, große, unpraktische Kuscheltiere einzupacken.

»Du kannst mit den Spielsachen spielen, die du bei Mummy hast, Eves«, erinnerte Joel sie. »Aber gib mir Babbit, damit wir ihn nicht vergessen.« Babbit war Evies heißgeliebter Kuschelhase. Sie besaß ihn schon, seit sie ein kleines Baby gewesen war, und hing voller Inbrunst an ihm. Er war alt und schmuddelig, obendrein fehlte ihm ein Auge, aber ohne ihn konnte Evie nicht einschlafen.

Sobald Evies Sachen gepackt und sie aufbruchsbereit waren, brachte Joel sie zu Claires altem, verbeulten Fiesta. »Ich kann kaum glauben, dass die Kiste noch läuft«, neckte er sie. »Sie wird praktisch nur noch durch Klebeband zusammengehalten.«

»Ach, sei still«, sagte Claire. »Nur weil dein Auto besser ist als meins. Es reicht, um damit von A nach B zu kommen, und ich kann mir nichts Besseres leisten.«

Joel hob Evies Tasche in den Kofferraum und schnallte seine Tochter in ihrem Sitz fest, dann richtete er sich auf und umarmte Claire. »Tschüss, Claire. Bis Freitag, Evie. Hab viel Spaß mit Mummy.«

Joel sah ihnen nach, als Claires Auto wegfuhr und am Ende der Straße um die Ecke bog. Dann fröstelte er. Die Herbstkälte kroch durch sein dünnes T-Shirt und sorgte für eine Gänsehaut. Er wandte sich ab, ging in seine warme Wohnung zurück und schloss die Tür.

Joel machte sich einen Kaffee und streckte sich mit dem Handy in der Hand auf dem Sofa aus. Dans Schicht sollte inzwischen vorbei sein und sie mussten sich noch wegen morgen absprechen. Sie hatten ausgemacht, abends etwas zusammen zu unternehmen, aber noch nicht entschieden, was und wo. Wie er Dan kannte, beinhaltete es Alkohol – mitten in der Woche nicht gerade ideal für Joel –, aber hoffentlich würde es mit Sex enden. Das tat es meistens.

Joel suchte Dans Nummer raus und wartete, als es klingelte, dann lächelte er, als Dan ranging.

»Was geht, Kumpel?« Dans lebhafter Manchester-Akzent ertönte laut an Joels Ohr.

»Hey, ich bin's«, sagte Joel unnötigerweise.

Sie wechselten ein paar Worte über ihren Tag. Wenn sie sich nicht sahen, telefonierten Dan und Joel oft miteinander, daher waren sie mit den alltäglichen Details im Leben des anderen vertraut. Joel sah Dan gewöhnlich nur zwei- oder dreimal die Woche, vor allem in der Schulzeit. Er war mit seiner Arbeit und Evie viel beschäftigt und Dan arbeitete Vollzeit bei einem Coffeeshop. Meistens trafen sie sich abends und am Wochenende, wenn Joel Evie nicht bei sich hatte, aber manchmal verbrachte Dan auch an einem Samstag oder Sonntag Zeit mit ihm und Evie. Evie mochte ihn – nicht nur wegen der Schokolade, obwohl sich das positiv auswirkte – und Dan war lieb zu ihr. Er brachte sie zum Kichern, indem er sie kitzelte und sie in die Luft warf und wieder auffing, ein sicherer Weg in das Herz jedes dreijährigen Kindes.

»Also, was machen wir morgen?«, fragte Joel schließlich, als ihre Unterhaltung ins Stocken geriet. »Ich vermisse dich. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an seit Sonntag.«

»Ja«, stimmte Dan zu. »Wir wäre es mit dem White Hart?« Ein schwulenfreundlicher Pub, der näher an Joels Wohnung lag als an Dans, was vermutlich bedeutete, dass Dan bei ihm übernachten würde. Das passte Joel, zum einen, weil es für ihn am nächsten Tag einfacher wäre, zur Arbeit zu kommen, zum anderen, weil Dan zusammen mit ein paar Leuten in einem Haus in Easton wohnte, das einem absoluten Saustall glich. Seine Mitbewohner waren völlige Chaoten. Joel war nicht der ordentlichste Mensch der Welt, aber er achtete auf einen gewissen Grundlevel an Hygiene. Ehrlich gesagt hatte er Angst, überhaupt eine Tasse Tee anzurühren, der in Dans Küche zubereitet worden war.

»Hört sich gut an«, antwortete er. Sie einigten sich auf eine Uhrzeit, bevor Dan sich verabschiedete. Wie gewöhnlich ging er aus. Ohne Verpflichtungen und mit einem anständigen Gehalt durch seinen Job blieb er kaum einen Abend zu Hause. Manchmal beneidete Joel Dans auf Spaß ausgerichteten Lebensstil. Doch es gab Zeiten, da war er insgeheim froh, eine Ausrede zu haben, um schon um zehn ins Bett gehen, sich bei einem Porno auf seinem Laptop einen runterholen und anschließend schlafen zu können.

Nachdem er aufgelegt hatte, plante Joel seine Unterrichtsstunden für den nächsten Tag. Das war nicht sonderlich schwer – hauptsächlich ging es darum, sicherzustellen, dass er den Stoff beherrschte. Das Planen der Unterrichtsstunden war für ihn bereits zur Routine geworden und meistens ohnehin sinnlos. Er folgte den Vorgaben des Fachbereichs für Geschichte, daher konnte er kaum viel falsch machen, aber der Papierkram war ein wesentlicher Bestandteil seines Jobs, ein notwendiges Übel.

Er brachte das so schnell er konnte hinter sich. Dann stemmte er ein paar Gewichte und machte einige Sit-ups und Liegestütze vor dem Fernseher. Zeit für Sport zu finden, war schwierig, aber Joel tat, was er konnte. Er war von Natur aus schlank, aber er versuchte gerne, sich definierte Muskeln zu erarbeiten und zu erhalten. Er wusste, dass Dan auf Muskeln stand. Joel würde nie die Muskelmasse erreichen wie die Kerle, bei denen Dan zu sabbern anfing, wenn sie sich zusammen einen Porno anschauten, aber die leichte Angst, dass er nicht gut genug für seinen Freund war, ließ ihn die Mühe auf sich nehmen. Schätzungsweise hatte das unterm Strich auch sein Gutes. Wenn er niemanden hätte, für den er gut aussehen wollte, würde er wahrscheinlich nur noch auf der Couch rumhängen.

Joel duschte, dann ging er mit seinem Laptop ins Bett und startete seinen derzeitigen Lieblingsporno. Am Anfang war er etwas kitschig – aufgemacht wie ein Date –, aber der Sex war heiß und überraschenderweise zärtlich. Die Männer auf dem Bildschirm schienen eine echte Verbindung zueinander zu haben und als Romantiker gefiel Joel das.

Er ließ sich Zeit, obwohl er bereits nach ein paar Minuten hätte kommen können, wenn er es sich erlaubt hätte. Es war einige Tage her und vorher mit Dan zu telefonieren und die Vorfreude, ihn morgen zu sehen, machten ihn geil. Aber er streichelte sich langsam und stimmte seinen Orgasmus auf den des ersten Mannes in dem Video ab. Schließlich gestattete er sich, sich über seine Faust zu ergießen, als der Mann im Film stöhnte und über seine Brust spritzte. Joel sah zu, wie sein Partner das Sperma aufleckte und ihn dann innig küsste. Joels Schwanz war noch immer empfindlich und pulsierte, als der zweite Kerl es sich selbst machte und über die Lippen und Wangen des ersten spritzte. Dann küssten sie sich wieder, mit roten Wangen, lächelnd und eingesaut.

Joel säuberte sich, bevor er den Laptop und das Licht ausschaltete. Im Dunkeln überlegte er, wo Dan gerade war und was er tat. Sie hatten nie über Exklusivität gesprochen und er wusste, dass Dan manchmal andere Typen mitnahm, wenn er allein unterwegs war. Soweit es Dan betraf, konnte Joel das Gleiche tun, aber wann sollte er die Zeit dazu finden, ganz zu schwiegen von der Energie?

Er versuchte, den negativen Gedanken beiseitezuschieben, doch sein Bett fühlte sich heute Nacht zu groß und einsam an. Er rollte sich auf die Seite und zog ein Kissen zu sich, damit er es umarmen konnte, als er langsam einschlief.