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Stefan Volk

Was Sie schon immer über Kino wissen wollten …

Über den Autor

Dr. Stefan Volk lebt als freier Journalist, Film- und Literaturkritiker in Freiburg i. Br. Er hat mehrere film- und literaturdidaktische Arbeiten veröffentlicht, darunter zwei Bände zur Filmanalyse im Unterricht. Zuletzt bei Schüren erschienen: Skandalfilme – Cineastische Aufreger gestern und heute, 2011. Nähere Informationen: www.skandalfilm.net.

Stefan Volk

Was Sie schon immer über
Kino wissen wollten …

mit Zeichnungen von Bo Soremsky

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

2. ergänzte Auflage
Schüren Verlag GmbH
Universitätsstr. 55 · D-35037 Marburg
www.schueren-verlag.de
© Schüren Verlag 2016
Alle Rechte vorbehalten
Gestaltung: Erik Schüßler
Umschlaggestaltung: Wolfgang Diemer, Köln
ISBN 978-3-7410-0057-7
ISBN Printausgabe: 978-3-89472-807-6

Inhalt

Vorwort

Famose Filmanfänge

Woody Allen

«Frei ab …» – Altersfreigaben gestern und heute

Andere Länder, anders geschnitten

Body Doubles und Stuntmen

Top Ten – Die besten Filme aller Zeiten (und ihre Regisseure)

Tierische Helden, Qualen und Monster

Filmtitel

Dies und Das

Aufregende Küsse

Film und die Welt – Box Office, Boom und Kinotod

Goofs – Filmfehler

James Bond

«Frankly my dear …» – Originalfilmzitate

Die erfolgreichsten Kinofilme aller Zeiten (und ihre Regisseure)

Die größten Flops der Kinogeschichte

Scientologen in Hollywood

Vom Schauspiel zur Politik

Filmklischees von A bis Z

Das und Dies

Familienbande im Filmgeschäft

Academy Awards – Die Oscars

Die Goldenen Himbeeren

«Ich liebe Dich!» – und andere Liebeserklärungen

Der letzte Dreh – Schauspieler, die während der Filmproduktion starben

Die teuersten Filme aller Zeiten

Alternatives Ende

Liste der Listen – Alle Listen, Tabellen, Essays im Überblick

Abbildungsverzeichnis

Eigene Listen

Vorwort

Ungezählte Filme wurden in der mittlerweile über 120-jährigen Filmgeschichte gedreht. Die Internet Movie Database listet weit über zwei Millionen Kino-, Fernseh- und Videoproduktionen; darunter über 300 Tausend Kinostreifen (mehr als 275.000 Spiel- und über 40.000 Dokumentarfilmproduktionen). Umgerechnet in Filmmeter – und weil das ein Gedankenspiel ist, nehmen wir dabei mal keine Rücksicht darauf, dass eine solche Längenangabe den digitalen Film nur unzureichend erfasst – ergibt das eine Strecke von – sehr, sehr! grob geschätzt – 600.000 Kinokilometern. Das entspricht zwar nur gerade mal zwei Lichtkunstsekunden; im Maßstab des Universums kaum mehr als ein Wimpernschlag, eine flüchtig aufflackernde Einstellung; aber doch genug, um sich damit einmal bis zum Mond zu träumen und beinahe wieder zurück.

Wollte man sich all diese Filme anschauen, man bräuchte über fünfzig Jahre Zeit dazu. Mit anderen Worten, selbst wenn man den ganzen Tag nichts Anderes täte, man schafft es im Leben nicht. Schließlich muss man ja auch mal schlafen, und außerdem kommen noch ständig und immer mehr neue Filme hinzu. Selbstverständlich wäre es also vermessen, würde man glauben, man könne alles, was es über das Kino zu wissen gibt, in einem kleinen Büchlein wie diesem, das Sie in Ihren Händen halten, kompakt zusammenfassen, wenn man doch nicht einmal auch nur ansatzweise wissen kann, was es über das Kino überhaupt alles zu wissen gäbe.

Was Sie schon immer über Kino wissen wollten … versteht sich daher weder als Enzyklopädie noch als Kompendium. Es ist vielmehr eine lockere Sammlung wissenswerter, kurioser und unterhaltsamer Fakten, Zahlen, Anekdoten und sonstiger Trouvaillen aus dem Bereich Kino und Film. Sinniges und Unsinniges taucht darin gleichermaßen auf, und man kann sich darüber streiten, was genau jetzt wozu gehört. Beispielsweise ergibt es auf den ersten Blick vielleicht wenig Sinn, Filme nach ihrer Beliebtheit, ihrem Erfolg oder Misserfolg an den Kinokassen, ihren Produktionskosten oder entlang sonstiger statischer Werte zu sortieren und in Bestenlisten zu pressen; – außer, dass es einen Heidenspaß macht. Natürlich ist das alles relativ und ein Stück weit willkürlich, und doch sagt es etwas aus über die Wirklichkeit hinter den Zahlen.

Wenn ein Disney-Animationsfilm wie RAPUNZEL – NEU VERFÖHNT zu den teuersten Kinoproduktionen aller Zeiten zählt, klingt das zunächst einmal vor allem überraschend. Es zeigt aber auch, dass die Vorstellung, Computertechnik mache das Filmemachen automatisch leichter, flexibler und am Ende billiger, nur bedingt stimmt. Tatsächlich erweisen sich gerade die digitalen Animationsverfahren bei großen Kinoproduktionen häufig als besonders aufwändig und kostspielig. Nicht nur die Seh- und Hörgewohnheiten haben sich im Laufe von über hundert Jahren Filmgeschichte gewandelt, sondern auch die Zuschauererwartungen. Mit den digitalen Möglichkeiten sind die Ansprüche gestiegen; – eine technische Entwicklung, in deren Schatten so manches verloren ging, was einst den Reiz und Charme des Lichtspiels ausmachte. Ob auch die Qualität der Filmkunst darunter litt, mag Ansichtssache sein; Zelluloid oder Pixel? – eine Frage des Geschmacks. Das Kinosterben aber (man kann sich in diesem Buch davon überzeugen) ist historische Realität. Unbestreitbar bleibt es andererseits ein Fortschritt, wenn halsbrecherische Stunts (auch von denen ist im Folgenden noch zu lesen) dank digitaler Techniken genauso obsolet werden wie grausame Tierquälereien (auf die später ebenfalls noch ausführlicher eingegangen wird). Über all das und etliches mehr kann man sich beim Blick auf die Liste der «teuersten Filme aller Zeiten» Gedanken machen. Muss man aber nicht.

Was Sie schon immer über Kino wissen wollten … ist als Buch zum Durchblättern gedacht, zum Zwischendurchlesen und Stöbern, eines, das man immer mal wieder auf die Seite legt, dann aber auch gerne wieder in die Hand nimmt. Es ist ein Reisebegleiter für Flaneure in den schier unendlichen Weiten des Filmwissens, der einige wichtige, wesentliche Attraktionen beleuchtet, aber immer wieder auch Schlaglichter auf abseitige scheinbar überflüssige Details wirft, Vertrautes und Überraschendes, Hilfreiches und Unnützes gleichermaßen listet, aufzählt oder in Erinnerung ruft. Schließlich soll dieses Filmbuch zu nichts qualifizieren, zu nichts vorbereiten. Es ist so ziel- und planlos wie ein Sonntagsnachmittagsspaziergang.

Selbstverständlich muss dabei vieles zu kurz kommen und noch mehr fehlen, und kann es nicht darum gehen, einzelne Wissensbereiche umfassend oder gar vollständig abzudecken. Und doch, ich gebe es zu, die Liste der Listen, die nicht in diesem Buch stehen, ursprünglich aber einmal dafür gedacht waren, ist lang. Tatsächlich wird auch sie täglich länger. Wie vieles wäre noch zu erwähnen, einen Seitenblick wert gewesen, wie vieles hätte ich gerne zwischen diese beiden Buchdeckel noch hineingepackt!

Ein bisschen etwas davon hat es nun in diese neue, überarbeitete, akualisierte und erweiterte Auflage geschafft. Es ist dennoch nie genug, immer veraltet; und trotzdem: irgendwann muss Schluss sein. Das ist der Unterschied zwischen einem Buch aus Papier und Druckerschwärze und einer Online-Publikation, die fortlaufend aktualisiert und endlos erweitert werden kann. Dieser logistische Nachteil für das alte, scheinbar unzeitgemäße Medium kann sich mit etwas Abstand betrachtet jedoch durchaus als sinnlicher Gewinn erweisen. Versucht man das Informationsplus der Online-Variante nämlich einmal zu Ende zu denken, kommt der Datenstrom nie zum Stillstand. Das Onlinebuch verästelt sich bei stetig neuem Zustrom immer weiter, bis es sich nahezu vollständig im Internet auflöst und als eigenständige Einheit kaum noch zu erkennen ist. Das gedruckte Buch dagegen schafft zwischen seinen Umschlagsseiten einen klaren Bezugsrahmen, kreiert einen sinnigen, fassbaren, (nicht nur) räumlichen Zusammenhang. Und vor allem: es hält die Zeit an. Dass es Ihnen, der Leserin und dem Leser, nur eine Auswahl, bloß einen Ausschnitt oder besser eine vielfältige, buntscheckige Collage aus dem großen Ganzen präsentiert, ist in unserem oft schnelllebigen, kurzatmigen und unersättlichen digitalen Zeitalter längst kein Mangel mehr, sondern ein Service.

Gerade in einem Buch, das an Superlativen aller Arten nicht spart, kann es daher nicht schaden, ab und an noch mal eine alte, angestaubte Volksweisheit hervorzukramen: «Manchmal ist weniger mehr.» In diesem Sinne … trotzdem viel (!) Vergnügen bei der Lektüre!

Stefan Volk, Freiburg im Breisgau, August 2016

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Bei Romanen kann es von den allerersten Sätzen abhängen, ob jemand weiterliest oder nicht. Dass Zuschauer bereits nach wenigen Minuten reihenweise aus einem Kinosaal flüchten, kommt dagegen eher selten vor. Ob und wie ein Film in Erinnerung bleibt, entscheidet sich mit dem Ende. Deshalb feilschen Produktionsfirmen und Regisseure oft so hartnäckig um den letzten Cut. Mit dem Schluss erhält das Werk seinen finalen Schliff. Der Anfang aber gibt die Richtung vor. Er liefert die Folie, durch die das restliche Geschehen betrachtet und gehört wird.

Gute Filmanfänge rütteln das Publikum wach. Sie erzeugen Aufmerksamkeit; sei es mit assoziativen Schlaglichtgewittern à la Danny Boyle oder mit einem Hinkucker wie Scarlett Johanssons Po, der in einem fadenscheinigen, lachsfarbenen Slip steckt und das erste ist, was man in Sofia Coppolas LOST IN TRANSLATION (2003) zu sehen bekommt. Immerhin eine halbe Minute lang. Grandiose Anfänge aber prägen den gesamten Film – und bleiben noch lange danach unvergessen.

VERTIGO

(USA 1958; Regie: Alfred Hitchcock)

Der treibende Sound von Bernard Herrmanns Score; Hände auf einer Feuerleiter; eine Verfolgungsjagd über Dächer. Und Hollywoodstar James Stewart, der an einer Dachrinne baumelt. Der Auftakt von Hitchcocks VERTIGO hat eigentlich alles, was ein Thriller braucht. Der heimliche Star aber ist Stewarts Blick in die Tiefe bzw. die Technik, mit der dieser inszeniert wurde. Beim Dolly-Zoom fährt die Kamera auf Schienen, während gleichzeitig in die gegenläufige Richtung gezoomt wird. Heraus kommt ein schwindelerregender Eindruck, dem Hitchcocks Film seinen Namen gab: der Vertigo-Effekt.

SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD

(I/USA 1968; Regie: Sergio Leone)

Auf einen Zug zu warten, ist oft öde. Manchmal aber auch ungemein aufregend. Je nachdem, wer im Zug sitzt. Aber anderen beim Warten zuschauen? Zu Beginn von SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD beweist Sergio Leone, dass auch das hochgradig spannend sein kann. Dabei passiert fast nichts. Männer mit Cowboyhüten kucken grimmig. Einer fängt mit seinem Revolver eine Fliege. Ein anderer trinkt Wasser aus der Hutkrempe. Aber all das geschieht so quälend langsam, dass die Atmosphäre bis zum Zerreißen gespannt ist, als endlich der Zug eintrifft und Charles Bronson auf der Mundharmonika spielt. Dann geht alles ganz schnell.

2001: ODYSSEE IM WELTRAUM

(GB/USA 1968; Regie: Stanley Kubrick)

Einer der legendärsten Filmanfänge ist streng genommen gar keiner. Satte 19 Minuten nämlich dauert es in 2001: ODYSSEE IM WELTRAUM bis zum wahrscheinlich berühmtesten Match Cut der Kinogeschichte. Ein affenartiger Vormensch wirft einen Knochen in die Luft, Tausende Jahre später treibt eine Raumstation durchs Weltall. Dazwischen: nur ein Schnitt. Vor diesem legendären Sprung durch Raum und Zeit lässt es Kubrick allerdings ruhig angehen. Drei Minuten lang präsentiert er nichts als sattes Schwarz zu den sphärischen Klängen von György Ligeti. Danach: ein Sonnenaufgang aus kosmischer Perspektive, ein angriffslustiger Leopard, Urmenschen streiten um ein Wasserloch. Scheinbar aus dem Nichts taucht über Nacht ein schwarzer Monolith auf. Einer unserer Urahnen knüppelt mit einem Knochen auf das Skelett eines Tapirs ein. Und als man sich allmählich fragt, was das ganze Gekreische, Gehüpfe und Armgeschlenker im Affenpelz eigentlich soll, wischt Kubrick mit einem epochalen Schnitt alle Zweifel beiseite. Natürlich, genau so musste man das erzählen! Mit «Also sprach Zarathustra» und «An der schönen blauen Donau», mit Richard und Johann Strauss. In Zeitlupe. Ohne Worte.

THE WILD BUNCH

(USA 1969; Regie: Sam Peckinpah)

Peckinpahs Spätwestern räumt von Beginn an mit dem romantischen Hollywoodbild vom verwegenen Outlaw auf. Der Film eröffnet mit einer der bis dahin längsten und brutalsten Schießereien des Genres. Gnadenlos ballern sich Pike Bishop (William Holden) und seine Männer nach einem Banküberfall den Weg frei. Sie belästigen Frauen und nehmen auch auf Kinder keinerlei Rücksicht. Als der Streifen 1969 in die US-Kinos kam, war eine derart harsche, ungeschönte Gewaltdarstellung für viele Zuschauer ein Schock.

UHRWERK ORANGE

(GB/USA 1971; Regie: Stanley Kubrick)

Hier also kommt Alex (Malcolm McDowell). Nicht etwa Campino, sondern Wendy Carlos ist es, die mit ihrer elektronischen Synthesizerversion von Henry Purcells «Music for the Funeral of Queen Mary» in Kubricks Burgess-Verfilmung den bedrohlich unterkühlten Klangteppich für den ersten Auftritt von Alex auslegt: Sein Gesicht in Großaufnahme. Ohne Schirm und Charme, dafür mit Melone und Hosenträgern, künstlichen Wimpern am rechten Auge und einem schrägen Grinsen. Den eisblauen Blick frontal in die Kamera gerichtet. Wortlos, reglos verharrt er, während mit abnehmender Brennweite allmählich auch seine Kumpels ins Bild geraten. Ganz in weiß uniformiert, abgesehen von den schwarzen Bowler-Hüten und ihren Springerstiefeln. Und fast so starr wie die porzellanweiß-nackten Frauenfiguren, die in obszöner Brückenhaltung als Tische und Fußablage dienen. Willkommen in der Korova-Milchbar! Aus dem Off stellt Alex jetzt seine «Droogs» vor: Pete, Georgie und Dim, die sich mit einem Glas «Moloko-Plus» in Stimmung bringen «für ein wenig Ultra-Brutale».

DER WEISSE HAI

(USA 1975; Regie: Steven Spielberg)

In dieser legendären Auftaktszene wird Chrissie Watkins (Susan Backlinie) das erste Opfer des (noch unsichtbaren) Killerfisches. Ein junges Pärchen trinkt und flirtet am Strand. Plötzlich springt das Mädchen auf und hüpft ins Wasser. Unterwegs reißt sie sich noch das Shirt vom Leib. Der junge Kerl stolpert hinterher, will wissen, wie sie nochmal heiße. «Chrissie», ruft sie und später «Komm ins Wasser» und noch später «Oh Gott hilf mir! Argh!» Aber da ist Tom Cassidy (Jonathan Filley) schon sturzbetrunken am Strand eingeschlafen.

KRIEG DER STERNE

(USA 1977; Regie: George Lucas)

Bananengelbe Buchstaben rollen über eine schwarze Leinwand, auf der kleine helle Sprenkel einen Sternenhimmel andeuten. Fluchtpunktartig verliert sich die Schrift in der Tiefe einer fiktiven Galaxie. Aus dem Off schmettern Fanfaren die von John Williams komponierte Titelmelodie. Daada Dadada Daaada. Dadada Daaada. Dadada Daaaa! Die ersten Sekunden von George Lucas’ STAR WARS haben Filmgeschichte geschrieben, ohne dass dafür auch nur eine einzige Einstellung hätte gedreht werden müssen.

APOCALYPSE NOW

(USA 1979; Regie: Francis Ford Coppola)

Der Sound von Rotoren und den «Doors», dazu der Panoramablick auf den Rand des Dschungels wie auf eine gigantische Fototapete. Gelbe Rauchschwaden wabern vorüber. Und von einer Sekunde auf die nächste geht der Wald in Flammen auf. Das Feuer, den Brand hört man nicht, nur die Rotoren der Helikopter und den Gesang von Jim Morrison: «This is the end …» – als wär’s ein Videoclip. Coppola inszenierte den Napalmeinsatz im Vietnamkrieg zum Auftakt seines Kriegsfilmes so wunderschön, dass er sich damit den Vorwurf der Ästhetisierung einhandelte. Eine wohl durchaus beabsichtigte Provokation.

BLUE VELVET

(USA 1986; Regie: David Lynch)

Behaglich wie eine Picknickdecke breitet David Lynch in der ersten Einstellung von Blue Velvet die Farben der US-amerikanischen Flagge vor seinem Publikum aus. Gemächlich, sommerträge senkt die Kamera ihren Blick. Vor einem weiß getünchten Lattenzaun ragen rote Rosen in den azurblauen Himmel. Jazzsänger Bobby Vinton trällert schmachtend von zärtlichen Seufzern und blauem Samt. Diese Ikonografie einer makellosen Wertegemeinschaft gerät jedoch sogleich in Schieflage. Frederick Elmes’ Kamerafahrt ent-gleitet in die bedrohliche Froschperspektive eines Tierhorrorstreifens hinein. Böses lauert da zwischen den Grashalmen. Wollte man Lynchs gesamtes Filmœuvre auf dreizehn Sekunden einkochen, es müssten wohl diese sein.

DIE UNBESTECHLICHEN

(USA 1987; Regie: Brian De Palma)

Aus der Vogelperspektive senkt sich die Kamera auf einen Mann, der im Frisierstuhl zur Audienz geladen hat. Mafiapate Al Capone (Robert de Niro) ist umringt von Reportern, während er sich rasieren lässt. Er scherzt, alles lacht. Der Barbier klappt das Rasiermesser auf, ein Reporter stellt die Frage nach der Gewalt. Al Capone zuckt zusammen, das Messer ritzt seine Haut. Al Capone blutet, und der Barbier starrt ihn mit schreckgeweiteten Augen an. Der Mafiaboss zögert, dann beschwichtigt er. Gewalt sei schlecht fürs Geschäft, behauptet er. Blut klebt ihm dabei an den Fingern. In nicht mal zwei Minuten ist das Spannungsfeld zwischen freundlicher Fassade und lauernder Gewalt damit erst einmal abgesteckt.

DO THE RIGHT THING

(USA 1989; Regie: Spike Lee)

Radiomoderator Senor Love Daddy (Samuel L. Jackson) kündigt einen weiteren heißen Tag in New York an. Die Kamera klebt ihm dabei förmlich an den Lippen. Dann aber entfernt sie sich. Das Bild weitet sich. Die Kamera gleitet aus dem offenen Studiofenster nach draußen und schwenkt auf die Straßen Brooklyns: die Bühne für Lees feinsinniges, tragikomisches Drama über alltäglichen Rassismus und Gewalt.

PULP FICTION

(USA 1994; Regie: Quentin Tarantino)

Nachdem sie sich erst nochmal Kaffee nachschenken ließen, streiten sich Honey Bunny (Amanda Plummer) und Pumpkin (Tim Roth) in einem Schnellrestaurant darüber, ob es sich lohnt, einen solchen Laden zu überfallen. Ein Versuch ist es ihnen schließlich auf alle Fälle wert.

OUT OF SIGHT

(USA 1998; Regie: Steven Soderbergh)

Die Auftaktszene aus Soderberghs Gangsterkomödie funktioniert im Grunde wie ein Witz. Es ist eine abgeschlossene kleine Komödie. Ein wunderbarer Kurzfilm. So charmant kann wahrscheinlich nur George Clooney eine Bank überfallen. Die Pointe: Der vermeintliche Komplize mit dem Revolver in der Aktentasche war in Wirklichkeit nur ein völlig unbeteiligter Kunde. Na gut, aber für die junge Kassiererin Loretta (Donna Frenzel) war es ja auch der erste Überfall.

AMERICAN PSYCHO

(USA/CAN 2000; Regie: Mary Harron)

Während des Vorspanns der Bret Easton Ellis Verfilmung sieht man Patrick Bateman (Christian Bale) mit seinen koksenden Kollegen in einem schicken «Möchtegern»-Restaurant und zu hämmernden Beats in einem angesagten Club. Anschließend eröffnet der Film mit der folgenden Szene: Bateman erläutert aus dem Off seine aufwändige Morgenroutine. Dabei entblößt er seinen durchtrainierten Körper. Tausend Sit-ups, hier eine Lotion, dort ein Gel, Peeling, Balsam, eine Eismaske. Untermalt von John Cales gleichförmigen Klavierklängen schwebt die Kamera solange durch das in nüchtern modernem Design eingerichtete Appartement, bis sich der Psychopath schließlich die Kräuter-Minz-Maske vom Gesicht zieht.

28 DAYS LATER

(GB 2002; Regie: Danny Boyle)

Alles fängt in Danny Boyles Zombiestreifen damit an, dass Tierschützer mit «Wut» infizierte Schimpansen aus einem Primatenforschungslabor befreien. 28 Tage später wacht der junge Fahrradkurier Jim (Cillian Murphy) in einem verlassenen Krankenhaus auf. Desorientiert und im grünen Klinikschlafanzug schlendert er anschließend durch ein völlig menschenleeres, verwüstetes London.

CHILDREN OF MEN

(USA/GB 2006; Regie: Alfonso Cuarón)

Es beginnt mit einer Schreckensnachricht. «Baby Diego», der jüngste Mensch der Welt, ist tot. Er starb im Alter von 18 Jahren. Gebannt starren die Leute in einem Londoner Café auf den Fernsehmonitor. Und gebannt starren auch die Zuschauer von Alfonso Cuaróns CHILDREN OF MEN auf die Kinoleinwand. Eine Welt ohne Kinder. Was für ein düster-faszinierendes Zukunftsszenario!

INGLOURIOUS BASTERDS

(USA/D 2009; Regie: Quentin Tarantino)

Die allerersten Einstellungen filmt Tarantino wie in einem Western. Ein Mann hackt Holz vor seiner Farm. Ein Mädchen hängt Wäsche auf. Dann erscheinen am Horizont die Banditen. Nazis statt Cowboys. Auf Motorrädern statt auf Pferden. Doch von dem Moment an, in dem der als Judenjäger berüchtigte SS-Oberst Hans Landa den Hof des Milchbauern Perrier LaPadite (Denis Ménochet) betritt, gehört ihm die Szene. Mit heimtückischem Charme weidet sich der Sadist an der Angst seines Gegenübers und lässt ihn gnadenlos in die Falle tappen. Ein virtuoser Auftritt von Christoph Waltz.

RESIDENT EVIL: AFTERLIFE

(D/F/USA 2010; Regie: Paul W. S. Anderson)

Langsam, verführerisch langsam schwenkt die Kamera vom nassen Asphalt und den roten Pumps mit Pfennigabsätzen hinauf über weibliche Waden, Knie und Schenkel, an denen hell-dunkel-gestreifte Strümpfe wie eine zweite Haut haften. Im 3D-Kino ragen die auf der Leinwand gigantisch vergrößerten, schlanken Beine wie zwei gewaltige Türme in die regnerische Nacht empor. Die junge Frau steht still, reglos in der Fußgängerzone einer japanischen Metropole, während die Passanten an ihr vorbeiströmen. Eine bedrohliche, puppenhafte Statik, in der eine animalische Sinnlichkeit lauert. Die graue, urbane Masse spannt ihre bunten Regenschirme auf, nur die Erstarrte bleibt ungeschützt. Aus Vogelsicht und stark verlangsamt tanzen die Schirme an ihr vorüber. Stillstand und Bewegung, Grau und Bunt, Individuum und Masse verbinden sich zu einer magischen Einstellung, die man sich gut und gerne als Bestandteil einer Videoinstallation in einem Museum für Moderne Kunst vorstellen könnte, die aber mit der brachialen Kraft, mit der sie die Sinne bestürmt, auch einen Nachgeschmack auf jenes rauschhafte Kino der Attraktionen aus den ersten Tagen des Films liefert. Ein überwältigendes, neues Kino, das den Zuschauer ganz klein werden lässt in seinem sprachlosen Staunen. Ein paar Minuten lang. Bis dann das Gemetzel und die unverschämt dürre Handlung einsetzen. Nennenswertes passiert danach eigentlich nicht mehr.

BREAKING DAWN – BIS(S) ZUM ENDE DER NACHT –TEIL 2

(2012; Regie: Bill Condon)

Der zweite Film zum vierten Teil der TWILIGHT-Saga beginnt damit, dass Bella Swan (Kristen Stewart) als Vampir die Welt erkundet. Naja, oder erst mal nur das Wohnzimmer. Und wie sieht ihr neues «Leben» so aus? Rote Augen. Zischende Reißzooms. Detailaufnahmen in Zeitlupe. Sie liebt und küsst Edward (Robert Pattinson) wie eh und je. Ist jetzt aber stärker als er. Hat Hunger. Und im Hintergrund singen Passion Pit «Where I come from».

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In insgesamt 75 Filmen hat Woody Allen bislang1 als Schauspieler, Drehbuchautor oder Regisseur mitgewirkt. Zu jedem Film, bei dem er Regie führte, verfasste er auch das Drehbuch.

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30 Filme, bei denen Woody Allen mitgespielt und Regie geführt hat

(Zu allen Filmen verfasste Woody Allen auch das Drehbuch.)

image WHATS UP TIGER LILY? (USA/JP 1966)

image NIMM DIE MONETEN UND HAUAB (USA 1969)

image MEN OF CRISIS: THE HARVEY WALLINGER STORY (Fernsehkurzfilm; USA 1971)

image BANANAS (USA 1971)

image WAS SIE SCHON IMMER ÜBER SEX WISSEN WOLLTEN, ABER BISHER NICHT ZU FRAGEN WAGTEN (USA 1972)

image DER SCHLÄFER (USA 1973)

image Die letzte Nacht des Boris Gruschenko (F/USA 1975)

image DER STADTNEUROTIKER (USA 1977)

image MANHATTAN (USA 1979)

image STARDUST MEMORIES (USA 1980)

image EINE SOMMERNACHTS-SEXKOMÖDIE (USA 1982)

image ZELIG (USA 1983)

image BROADWAY DANNY ROSE (USA 1984)

image HANNAH UND IHRE SCHWESTERN (USA 1986)

image NEW YORKER GESCHICHTEN (USA 1989)

image VERBRECHEN UND ANDERE KLEINIGKEITEN (USA 1989)

image SCHATTEN UND NEBEL (USA 1991)

image EHEMÄNNER UND EHEFRAUEN (USA 1992)

image MANHATTAN MURDER MYSTERY (USA 1993)

image DONT DRINK THE WATER (Fernsehfilm, USA 1994)

image GELIEBTE APHRODITE (USA 1995)

image EVERYONE SAYS I LOVE YOU (USA 1996)

image HARRY AUSSER SICH (USA 1997)

image SWEET AND LOWDOWN (USA 1999)

image SCHMALSPURGANOVEN (USA 2000)

image IM BANN DES JADE SKORPIONS (USA/D 2001)

image HOLLYWOOD ENDING (USA 2002)

image ANYTHING ELSE (USA/F/GB 2003)

image SCOOP – DER KNÜLLER (GB/USA 2006)

image TO ROME WITH LOVE (I/ES/USA 2012)

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20 Filme, bei denen Woody Allen Regie geführt, aber nicht mitgespielt hat

(Zu allen Filmen verfasste Woody Allen auch das Drehbuch.)

image INNENLEBEN (USA 1978); mit Kristin Griffith und Diane Keaton

image THE PURPLE ROSE OF CAIRO (USA 1985); mit Mia Farrow und Jeff Daniels

image RADIO DAYS (USA 1987)2; mit Dianne Wiest, Mia Farrow, Jeff Daniels, Diane Keaton

image SEPTEMBER (USA 1987); mit Dianne Wiest und Mia Farrow

image EINE ANDERE FRAU (USA 1988); mit Gena Rowlands und Mia Farrow

image ALICE (USA 1990); mit Mia Farrow und Alex Baldwin

image BULLETS OVER BROADWAY (USA 1994); mit John Cusack und Dianne Wiest

image CELEBRITY – SCHÖN, REICH, BERÜHMT (USA 1998); mit Kenneth Branagh, Leonardo DiCaprio, Melanie Griffith und Winona Ryder

image SOUNDS FROM A TOWN I LOVE (Kurzfilm; USA 2001); mit Marshall Brickman, Griffin Dunne und Michael Emerson

image MELINDA UND MELINDA (USA 2004); mit Will Ferrell, Vinessa Shaw und Chiwetel Ejiofor

image MATCH POINT (GB/LU 2005); mit Scarlett Johansson, Jonathan Rhys Meyers und Emily Mortimer

image CASSANDRAS TRAUM (USA/GB/F 2007); mit Colin Farrell, Ewan McGregor und Hayley Atwell

image VICKY CRISTINA BARCELONA (ES/USA 2008); mit Scarlett Johansson, Javier Bardem und Penélope Cruz

image WHATEVER WORKS – LIEBE SICH WER KANN (USA/F 2009); mit Evan Rachel Wood, Larry David und Henry Carvill

image ICH SEHE DEN MANN DEINER TRÄUME (USA/ES 2010); mit Anthony Hopkins, Naomi Watts und Josh Brolin

image MIDNIGHT IN PARIS (ES/USA 2011); mit Owen Wilson, Rachel McAdams und Kathy Bates

image BLUE JASMINE (USA 2013); mit Cate Blanchett, Alec Baldwin und Sally Hawkins

image MAGIC IN THE MOONLIGHT (USA/GB 2014); mit Colin Firth und Emma Stone

image IRRATIONAL MAN (USA 2015); mit Joaquin Phoenix und Emma Stone

image CAFÉ SOCIETY (USA 2016)3; mit Steve Carell und Sheryl Lee

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15 Filme, bei denen Woody Allen mitgespielt, aber keine Regie geführt hat

(Darunter 4 Filme, zu denen er auch das Drehbuch verfasste.)

image WAS GIBTS NEUES, PUSSY? (F/USA 1965); Regie: Clive Donner, Richard Talmadge; Drehbuch: Woody Allen

image CASINO ROYALE (GB/USA 1967); Regie: Val Guest, Ken Hughes, John Huston

image THE WORLD: COLOR IT HAPPY (TV; USA 1967); Regie: Ezra Stone; Drehbuch: Woody Allen

image MACHS NOCH EINMAL, SAM (USA 1972); Regie: Herbert Ross; Drehbuch: Woody Allen nach seinem gleichnamigen Bühnenstück

image DER STROHMANN (USA 1976); Regie: Martin Ritt

image GODARD TRIFFT WOODY ALLEN (Dokumentarkurzfilm; F 1986); Regie: Jean-Luc Godard; Drehbuch: Woody Allen

image KING LEAR (USA 1987); Regie: Jean-Luc Godard

image EIN GANZ NORMALER HOCHZEITSTAG (USA 1991); Regie: Paul Mazursky

image SONNY BOYS (TV; USA 1996); Regie: John Erman

image THE IMPOSTORS – ZWEI HOCHSTAPLER IN NOT (USA 1998)4; Regie: Stanley Tucci

image ANTZ (USA 1998)5; Regie: Eric Darnell

image ICH HAB DOCH NUR MEINE FRAU ZERLEGT (USA 2000); Regie: Alfonso Arau

image CUBA LIBRE – DÜMMER ALS DIE CIA ERLAUBT (F/GB/USA 2000)6; Regie: Peter Askin, Douglas McGrath

image PARIS – MANHATTAN (F 2012)7; Regie: Sophie Lellouche

image PLÖTZLICH GIGOLO (USA 2013); Regie: John Turturro

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10 Filme, bei denen Woody Allen das Drehbuch (oder die Textvorlage) verfasst, aber weder mitgespielt noch Regie geführt hat

image AT THE MOVIES (Fernsehfilm; USA 1959); Regie: Hugh McPhillips; Co-Autoren: Mel Brooks, Mel Tolkin

image HOORAY FOR LOVE (Fernsehfilm; USA 1960); Regie: Burt Shevelove; Co-Autor: Larry Gelbart

image THE LAUGHMAKER (Kurzfilm; USA 1962); Regie: Joshua Shelley

image DONT DRINK THE WATER (USA 1969; nach dem gleichnamigen Bühnenstück von Woody Allen); Regie: Howard Morris; Co-Autoren: R. S. Allen, Harvey Bullock

image PUSSYCAT, PUSSYCAT – I LOVE YOU (USA 1970); Regie: Rod Amateau; Co-Autor: Rod Amateau)

image LE CONCEPT SUBTIL (Kurzfilm; F 1981; nach dem Essay «Mr. Big» von Woody Allen); Regie: Gérard Krawczyk

image SOMEBODY OR THE RISE AND FALL OF PHILOSOPHY (Kurzfilm; BRD 1989; nach dem Essay «Mr. Big» von Woody Allen); Regie: Axel Hildebrand; Drehbuch: Axel Hildebrand

image UNE ASPIRINE POUR DEUX (Fernsehfilm; F 1995; nach dem Bühnenstück von Woody Allen); Regie: Patrick Bureau; Drehbuch: Francis Perrin

image COUNT MERCURY GOES TO THE SUBURBS (Kurzfilm; USA/CAN 1997, nach der Kurzgeschichte Count Dracula von Woody Allen); Regie: Joel Bruns

image SDELKA (Kurzfilm; RUS 2009; nach einem Bühnenstück von Woody Allen); Regie: Georgy Lebedev; Drehbuch: Lilia Tarasevich

1 Stand: Juni 2016

2 In der englischen Originalfassung lieh Woody Allen dem Off-Erzähler seine Stimme.

3 FUßNOTE?

4 Lediglich ein kurzer Gastauftritt

5 Animationsfilm, in dem Woody Allen in der englischsprachigen Originalfassung eine Sprechrolle übernahm

6 Kurzauftritt

7 Gastauftritt; Woody Allen wird nicht im Abspann genannt

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Weltweit unterschiedliche Altersfreigaben (zum Kinostart)

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Altersfreigaben (in Deutschland) früher und heute

DIE SÜNDERIN (1951)

früher: ab 18

heute: ab 12

DAS MÄDCHEN ROSEMARIE (1958)

früher: ab 18

heute: ab 12

BETTGEFLÜSTER (1959)

früher: ab 18

heute: ab 6

PEEPING TOM (1960)

früher: ab 18

heute: ab 12

PSYCHO (1960)

früher: ab 18

heute: ab 12

KRIEG DER STERNE (1977)

früher: ab 12

heute: ab 6

ICH GLAUB MICH TRITT EIN PFERD (1978)

früher: ab 18

heute: ab 12

DAS GESPENST (1982)

früher: ab 18

heute: ab 12

CITY HUNTER (1993)

früher: ab 18

heute: ab 12

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Verteilung der FSK-Altersfreigaben für Kinofilme9

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Verteilung der FSK-Altersfreigaben für DVD-Filme

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1 Auch in Westdeutschland wurde der Film später vorübergehend verboten. Zur bewegten Zensurgeschichte des Filmes vgl.: Stefan Volk, Skandalfilme, Schüren Verlag, Marburg 2011, S. 190–198

2 Außer in Quebec: 18A, unter 18 nur in Begleitung Erwachsener

3 PG-13

4 R-Rating: unter 17 nur in Begleitung Erwachsener

5 Kanton Basel-Stadt

6 R-Rating

7 Kantone Waadt, Genf

8 In Begleitung Erwachsener

9 Quelle: SPIO: Filmstatistisches Jahrbuch 2011, 2012 und 2015

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In den deutschen Fassungen ausländischer Filmproduktionen fand im Nachkriegsdeutschland eine ganz besondere Form der «Entnazifizierung» statt. Unliebsame Hinweise auf die NS-Vergangenheit wurden kurzerhand entfernt oder in der Synchronisation «kreativ» umgedichtet. Nazis verwandelten sich so auf wundersame Weise in Rauschgifthändler, und aus einem tschechischen Widerstandskämpfer konnte schon mal ein norwegischer Atomphysiker werden. Politisch motivierte Alternativfassungen gab es aber bereits vor dem 2. Weltkrieg und gibt es bis in die Gegenwart; in Deutschland wie auch in anderen Ländern. Hier nur eine wenige Beispiele – mit dem Fokus auf Deutschland.

PANZERKREUZER POTEMKIN

(SU 1925; Regie: Sergej M. Eisenstein)

Der zum zwanzigsten Jahrestag der russischen Revolution gedrehte Propagandastreifen des sowjetischen Regisseurs Sergej M. Eisenstein gilt heute als Meilenstein der Filmgeschichte. In der Weimarer Republik war er Gegenstand einer hitzigen Zensurdebatte. Er wurde mehrfach verboten und unter immer neuen Schnittauflagen doch wieder freigegeben. Auch die legendäre Szene, in der ein Kinderwagen die Odessaer Treppe hinunterrollt, fiel zwischenzeitlich der antikommunistischen Schere zum Opfer.

IM WESTEN NICHTS NEUES

(USA 1930; Regie: Lewis Milestone)

Noch ehe Universal International Pictures Lewis Milestones Remarque-Verfilmung im August 1930 der deutschen Filmprüfstelle vorlegte, kürzte der Verleih aus Rücksicht auf die deutschen Befindlichkeiten freiwillig etliche Szenen. Gekürzt wurden u. a. eine Szene, in der die Soldaten ihren Vorgesetzten verprügeln, ein Gespräch, in dem sie den Kaiser für den Krieg verantwortlich machen, sowie die Stelle, an der Paul Bäumer vor der Klasse seines ehemaligen Lehrers die Ehrbezeigung verweigert. In den USA wurde diese Selbstzensur scharf kritisiert.

ALEXANDER NEWSKI

(SU 1938; Regie: Sergej M. Eisenstein)

Sergei M. Eisenstein schildert in ALEXANDER NEWSKI den siegreichen Kampf des russischen Fürsten gegen deutsche Kreuzritter im 13. Jahrhundert. Wegen der als grausam dargestellten Ordensritter, mit denen ursprünglich die deutschen Nationalsozialisten assoziiert werden sollten, wurde der Film in der Bundesrepublik vom «Interministeriellen Ausschuss» 1963 als «deutschfeindlich» eingestuft. Der Film erhielt keine reguläre Kinofreigabe. Für halböffentliche Vorführungen wurde nur eine drastisch gekürzte Fassung freigegeben, in denen die deutschen Gräueltaten nicht zu sehen waren. Dadurch entstand der Eindruck, die Truppen Newskis würden den Deutschen Orden grundlos attackieren. Erst 1966 kam die vollständige Fassung in die Kinos.

DER AUSLANDSKORRESPONDENT

(USA 1940; Regie: Alfred Hitchcock)

Als Alfred Hitchcocks FOREIGN CORRESPONDENT 1961 unter dem Verleihtitel MORD in einer um 17 Minuten gekürzten Synchronfassung in die westdeutschen Kinos kam, fehlte die pathetisch-patriotische Schlussrede, in der US-Reporter Johnny Jones (Joel McCrea) sein Land zum Kriegseintritt aufruft. Der Streifen wurde seiner historischen Bezüge beraubt, mit moderner Jazzmusik unterlegt und zum unpolitischen Krimi zurechtgestutzt. Der 2. Weltkrieg wurde soweit wie möglich wegretuschiert. Erst 1986 zeigte das ZDF den Film unter dem Titel DER AUSLANDSKORRESPONDENT in einer neuen, ungekürzten Synchronfassung.

CASABLANCA

(USA 1942; Regie: Michael Curtiz)

Der Abschied am Ende von Michael Curtiz’ CASABLANCA blieb tränenreich. Aber jenseits der melodramatischen Lovestory zwischen Rick Blaine (Humphrey Bogart) und Ilsa Lund (Ingrid Bergman) hatte die deutsche Synchronfassung von 1952 wenig mit dem Original gemein. Aus dem tschechoslowakischen Widerstandskämpfer Victor Lászlo (Paul Henreid) wurde ein norwegischer Atomphysiker. Der deutsche NS-Major Strasser (Conrad Veidt) kam gar nicht mehr vor.

Verantwortlich dafür, dass Curtiz’ Kinoklassiker derart verstümmelt wurde, war der Filmverleih des Warner Bros. Studios, dessen deutsche Niederlassung auf Nachfrage erklärte, CASABLANCA sei in seiner Ursprungsfassung «nicht mehr zeitgemäß» und «nicht zur Vorführung in Deutschland geeignet»1. Im voreilenden Gehorsam erledigte Warner Brothers jene Zensur, die ansonsten durch die FSK gedroht hätte. Das legt ein an das Auswärtige Amt gerichtetes Schreiben nahe, in dem sich Generalkonsul Dr. von Borries im Oktober 1953 darüber empört, dass dieser «Hetzfilm» trotz seiner «deutsch-feindlichen Tendenzen»2 in der Schweiz ungekürzt gezeigt worden sei. «Die Wirkung dieses Filmes», poltert von Borries, «findet man als deutscher Zuschauer ausgesprochen verheerend.»

Erst 1975 präsentierte die ARD dann die neue, originalgetreue Synchronfassung.

ROM, OFFENE STADT

(I 1945; Regie: Roberto Rossellini)

Roberto Rossellinis Meisterwerk des italienischen Neorealismus erhielt 1950 keine Freigabe der FSK. Begründet wurde das Verbot mit der «völkerverhetzenden Wirkung» des Filmes. Gemeint waren damit Szenen, in denen Grausamkeiten der Nazis während der deutschen Besatzung in Italien gezeigt wurden. 1960 bekam der Film in einer leicht veränderten deutschen Synchronfassung schließlich doch die Freigabe. Die Kommunisten der Widerstandsgruppe wurden darin als «Sozialisten» bezeichnet. Und der Hinweis auf die Herkunft der deutschen Nazis wurde entfernt. Die Rede war nur allgemein von «Nazis».

BERÜCHTIGT

(USA 1946; Regie: Alfred Hitchcock)

In WEISSES GIFT (1951), der bundesdeutschen Synchronfassung von Alfred Hitchcocks NOTORIOUS, bekommt es Ingrid Bergman (in ihrer Rolle als Alicia Huberman) mit Rauschgifthändlern statt mit Nazis zu tun. So hörte sich Entnazifizierung im Nachkriegs-Synchronstudio an. Erst in der ZDF-Fassung von 1969 wurde aus WEISSES GIFT dann BERÜCHTIGT und aus den südländischen Drogendealern wurden wieder Uranerz schmuggelnde deutsche Nazis.

PAISÀ

(I 1946; Regie: Roberto Rossellini)

Eigentlich erzählt Roberto Rossellinis Episodenfilm sechs Geschichten kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges. Die sechste Episode, in der ein flüchtiger US-Kriegsgefangener von den Deutschen erschossen wird, fehlte jedoch, als der Film 1949 in die deutschen Kinos kam. Erst in der ZDF-Fassung von 1986 war dann auch diese Geschichte wieder enthalten.

DER UNTERTAN

(DDR 1951; Regie: Wolfgang Staudte)

Wolfgang Staudtes Heinrich-Mann-Verfilmung wurde in der Bundesrepublik Deutschland erst im November 1956 in einer gekürzten Fassung für den Kinobetrieb freigegeben. Dem Film musste ein Text vorangestellt werden, der den nachfolgenden Inhalt als Einzelbeispiel beschrieb und betonte, dass er kein Sinnbild für die Geschichte des deutschen Volkes im 20. Jahrhundert sei.

SEHNSUCHT

(I 1954; Regie: Luchino Visconti)

Schon die italienische Zensur hatte Luchino Viscontis SENSO (1954) gekürzt. Die deutsche Synchronfassung ging über diese Kürzungen noch hinaus. Schlachtenszenen und Anspielungen auf die Gegenwart wurden aus dem im Jahr 1866 angesiedelten Spielfilm rausgeschnitten. Das politische Liebesdrama war danach nur noch ein Liebesdrama.

LES MISÉRABLES

(F/DDR/I 1958; Regie: Jean-Paul Le Chanois)

Jean-Paul Le Chanois’ Verfilmung von Hugos Roman entstand als internationale Ost-West-Koproduktion. Dennoch erschien der Film in BRD und DDR in zwei jeweils unterschiedlich gekürzten Fassungen. Während in der westdeutschen Fassung DIE MISERABLEN vor allem Einstellungen mit den revolutionären französischen Massen gekürzt wurden, fielen in der ostdeutschen Fassung DIE ELENDEN besonders jene Szenen der Schere zum Opfer, die auf eine religiöse und eher unpolitisch-moralische Motivation der Handelnden schließen ließen.

DIE JUNGEN LÖWEN

(USA 1958; Regie: Edward Dmytryk)

In der um vier Minuten gekürzten deutschen Synchronfassung von Edward Dmytryks Kriegsdrama fehlten KZ-Innenaufnahmen aus dem Original. Der deutsche Verleih von 20th Century Fox entfernte diese aus Rücksicht auf das deutsche Publikum.

SCHREI WENN DU KANNST

(F 1959; Regie: Claude Chabrol)

Mit LES COUSINS gewann Claude Chabrol auf der «Berlinale» 1959 den Goldenen Bären. In dem Film gibt es eine Szene, in der sich ein Pariser Student auf einer Party eine Wehrmachtsmütze überzieht, einem schlafenden jüdischen Freund mit einer Stablampe ins Gesicht leuchtet und ihn anherrscht: «Aufstehen, Gestapo!» In der westdeutschen Synchronfassung wurde aus dem Juden ein Ungar. Der Student brüllt: «Aufstehen, Staatspolizei!» Der Bavaria-Verleih begründete den Eingriff damit, dass in der Judenfrage genug Schreckliches geschehen sei und irgendwann Schluss sein müsse. Der Ostberliner «Filmspiegel» kommentierte: «So wird aus einem treffenden antifaschistischen Akzent ein verlogener antikommunistischer»3.

DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK

(USA 1959; Regie: George Stevens)

George Stevens’ mit drei Oscars ausgezeichnete Hollywoodverfilmung lief in den bundesdeutschen Kinos in einer gekürzten Fassung. Der Film endet in dieser Synchronfassung mit der Verhaftung Anne Franks. Es fehlt der Schluss, in dem das weitere Schicksal ihrer Familie geschildert wird, die mit Ausnahme von Annes Vater Otto in den deutschen Konzentrationslagern zu Tode kam.

DER SCHWEIGENDE STERN

(DDR 1960; Regie: Kurt Maetzig)

Kurt Maetzigs DEFA-Verfilmung von Stanislaw Lems Sci-Fi-Klassiker Planet des Todes, zelebrierte die fortschrittliche Raumfahrttechnologie der Sowjetunion und ihrer befreundeten sozialistischen Staaten. Als sich Maetzigs Protagonisten 1960 in der westdeutschen Synchronfassung RAUMSCHIFF VENUS ANTWORTET NICHT auf den Weg zum Abendstern machten, wurde die Mission nicht mehr von einem Russen, sondern von einem US-Amerikaner geleitet. Hinweise auf die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki wurden ebenso gestrichen wie alle Anspielungen auf sowjetische Größe und sozialistische Tugenden. In dieser Fassung wurde der Film unter dem Titel FIRST SPACESHIP ON VENUS auch in den USA gezeigt.

EVA UND DER PRIESTER

(F/I 1961; Regie: Jean-Pierre Melville)

Jean-Pierre Melvilles Drama um Glaube und Liebe, LÉON MORIN, PRĚTRE startete in den westdeutschen Kinos in einer stark gekürzten Fassung unter dem Titel EVA UND DER PRIESTER. Neben einer Schlafzimmerszene, in der Pater Léon Morin (Jean-Paul Belmondo) und die junge Barny (Emmanuelle Riva) zweideutige Blicke wechselten, wurden auch all jene Szenen gekürzt, die auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund des Films, die deutsche Besatzung in Frankreich, Bezug nahmen.

LOLITA

(GB/USA 1962; Regie: Stanley Kubrick)

Für Aufregung sorgte Stanley Kubricks Nabokov Verfilmung weltweit vor allem aus «sittlichen» Gründen. Einen weiteren Anlass zur Pulsbeschleunigung ersparte der deutsche Verleih dem hiesigen Publikum. Als Lolita (Sue Lyon) in der US-Fassung den Arm zum Hitlergruß hebt, macht sie sich mit «Sieg Heil!» über ihre herrschsüchtige Mutter lustig. In der deutschen Synchronfassung dagegen sagt sie schlicht und harmlos: «Salute!»

DREI MILLIARDEN OHNE LIFT

(I/F 1972; Regie: Roger Pigaut)

Roger Pigauts Gaunerkomödie TROIS MILLARDS SANS ASCENSEUR war sowohl in West- als auch in Ostdeutschland zu sehen. DREI MILLIARDEN OHNE LIFT hieß in der DDR ohne Anglizismus: DREI MILLIARDEN OHNE FAHRSTUHL. Kleine, aber feine Unterschiede zwischen West und Ost gab es nicht nur im Titel. Als der Film im DDR-Fernsehen gezeigt wurde, musste eine Szene geschnitten werden, in der zwei Poster von Marilyn Monroe und Mao Tse-tung nebeneinander an der Wand hingen. So wurde getrennt, was nicht zusammengehörte.

DIE OLSENBANDE

(DK 1968 bis 1998; Regie: Erik Balling, Tom Hedegaard und Morten Arnfred)

Die dänische Filmserie war auch in der DDR äußerst beliebt. Immer wieder jedoch wurden die Streifen in den DEFA-Synchronfassungen an die jeweils geltende Staatsdoktrin angepasst. So wurde beispielsweise in Erik Ballings DIE OLSENBANDE SCHLÄGT WIEDER ZU (1977) ein Dialog, in dem Kjeld Jensen (Poul Bundgaard) über den Sohn seiner Schwägerin sagt, dieser habe nur «Alkohol und Marxismus im Kopf», so abgewandelt, dass es hieß, er habe nur «Alkohol und Weiber im Kopf».

STIRB LANGSAM

(USA 1988; Regie: John McTiernan)

In der Originalfassung von John McTiernans DIE HARD