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»Dame und Schwein«, ist ein phantasievoller und ironischer Reigen, dessen sechs Erzählungen ein Wechselspiel von Eros und Sprache sind. Auf der Suche nach einer erotisierend-provozierenden Anregung für eine neue Geschichte, bittet ein Dichter seine treue Leserin und Buchhändlerin um die detailgetreue Nachstellung des bekannten Aktbildes »Pornocratès« von Félicien Rops in seiner Wohnung.

Bodo Kirchhoff ist nicht nur als Verfasser groß angelegter Romane bekannt, auch in der Kurzform brilliert der renommierte Stilist seit mehreren Jahrzehnten.

Von der kompromisslosen und polarisierenden Radikalität des Frühwerks, das mit sezierendem Blick gesellschaftlichen Randfiguren nachspürt, wird der Leser zunehmend in einen umfassenderen Handlungsrahmen geführt, hinein in einzigartige Augenblicke einer Ehe, Momentaufnahmen einer Familie. Lakonisch, präzise und geprägt von einer subtilen Hintergründigkeit schreibt der Autor immer auch über die Schwierigkeit, eine gemeinsame Sprache zu finden.

Bodo Kirchhoffs Erzählungen sind eine literarische Kostbarkeit, anhand derer die Entwicklung des Autors vom »bad boy« der Literatur zu einem der profiliertesten Schriftsteller der Gegenwartsliteratur lesend nachvollzogen werden kann.

»Ein breites Spektrum, das in diesem Erzählwerk von Bodo Kirchhoff zu entdecken ist und ein Hochgenuss für die Leser.« (Hessischer Rundfunk)

»Jede einzelne Erzählung ist lesenswert. In ihrer Gesamtheit sind sie ein literarisches Autorenportrait der Sonderklasse.« (Kölnische Rundschau)

»Kirchhoff ist ein Meister erotischen Erzählens, was heutzutage nicht oft vorkommt.« (Deutschlandradio Kultur)

»Kirchhoff ist grandios beim Ausloten menschlicher Gefühle. Er nutzt das Körperliche und Triebhafte, um unser Wesen zu erkunden.« (Mannheimer Morgen)

Inhalt

Dame und Schwein

Elende Schwächen

Eine geistige Übung

Verdammte Marie

Hundenarr

Fischgeschichte

Dame und Schwein

Als der mutlos gewordene Schriftsteller P., dessen Frühwerk Die Achsel mit dem Literaturpreis der Stadt O. bedacht worden war, eines Abends beim Durchblättern alter Magazine auf das Bild Die Dame mit dem Schwein von Félicien Rops stieß, sah er plötzlich einen Weg, die verlorengegangene Schärfe zurückzugewinnen. Schon in den nächsten Tagen wollte er das Motiv mit einer geeigneten Dame und einem ausgewachsenen Schwein in seiner Neubauwohnung nachstellen, um dadurch Anregung für ein Buch zu erhalten.

Es war die Nacht zum Frühlingsanfang neunzehnhundertvierundachtzig, und P. betrachtete die Reproduktion einer Radierung aus dem Jahre achtzehnhundertsechsundachtzig. Auf dem blaßblauen Hintergrund schwebten Putten; darauf könnte man verzichten, sagte er sich. Dame und Schwein, durch eine feine weiße Linie miteinander verbunden, waren in den gleichen milden Fleischtönen gemalt, eine Übereinstimmung, die er als Quelle der Aufgeladenheit des Motivs verstand. Sie erschien ihm so notwendig wie die wenigen Kleidungsstücke, welche der Maler ins Bild gesetzt hatte. Die Dame trug schwarze, halblange Strümpfe und ebensolche Handschuhe, die ein Glanz überzog; zudem in Rippenhöhe eine Schärpe und auf dem Kopf einen pelzbeladenen Hut. Und sie hatte eine Binde um die Augen. Trotz dieser reizvollen Behinderung schien sie dem Tier in keiner Weise ausgeliefert zu sein, und P. erkannte hier eine weitere Ursache für die Wirkung des Bildes: Daß die Dame, obgleich sie wie blind war und das Schwein vor ihr herging, nicht etwa geführt wurde, sondern selbst die Führung innehatte. Sie war das Schwein und war es nicht, darin lag ihr Geheimnis. Und dieses Geheimnis wollte er in seinem Wohnzimmer, das geräumiger als das Schlafzimmer war, einerseits darstellen, andererseits lüften.

P. dachte nun angestrengt über die praktische Seite des Vorhabens nach. Ein Schwein, glaubte er, ließe sich schon besorgen. Doch woher die Dame nehmen? Eine stellungslose Schauspielerin zu engagieren kam nicht in Frage. Nur eine Dame, die auch ganz in ihrer damenhaften Haut steckte, kam in Betracht. Sie müßte das Notwendige eines solchen Auftrittes einsehen und mit der gleichen Gelöstheit wie die Dame auf dem Bild durch das Wohnzimmer schreiten: Als existierte das Schwein nicht, in dessen Dunstkreis sie wäre.

Fast alle Frauen, die er näher kannte, gingen ihm durch den Kopf. Manche mochten wohl Ähnlichkeit haben mit der Person auf dem Bild, aber sie entgleisten zu häufig. Zum Beispiel seine geschiedene Frau, eine Tanzlehrerin. Sie war für jeden, der Verbrüderung suchte, ein Opfer. Oder die Kulturdezernentin der Stadt, mit der er ein Verhältnis hatte. Sie wäre zwar der Typ und sicher guten Willens, ihr fehlte nur jedes Format. Es gab keine Richtung der Kunst, für die sie nicht Verständnis zeigte, und P. verachtete sie wegen dieser Wahllosigkeit, von der auch er profitierte. Als nächstes dachte er an die Harfenistin des philharmonischen Orchesters der Stadt, mit der er unlängst eine Nacht verbracht hatte. Doch wahrscheinlich wäre sie mit solchem Eifer dabei, daß der gewisse Abstand zum Schwein, auf den es ja gerade ankam, völlig verlorenginge.

P. trat ans Fenster und sah auf die Gleisanlagen vor seinem Wohnblock. Dann bliebe eigentlich nur Frau von C., sagte er sich und drückte seine Stirn an die Scheibe. Frau von C. war seine treueste Anhängerin. Seit Jahren schrieb sie Leserbriefe und hatte hin und wieder Fotos beigelegt. Sie war eine stattliche alleinstehende Dame, die eine Buchhandlung mit Antiquariat besaß. Sie hatte viel Sinn für galante Geschichten und pflegte ihre Liebe zur Handschrift. Ihr Glaube an das geschriebene Wort ging so weit, daß sie in ihren Privaträumen ohne Telefon lebte. Und so hatte sie mit P. schon alle Formen des schriftlichen Verkehrs exerziert, die auf dem Postwege durchführbar sind. Es waren Ansichtskarten hin- und hergegangen, Einschreiben und gewöhnliche Briefe, Eil- und Blitzzustellungen, ja sogar Päckchen zum Nikolaustag. Die Möglichkeit einer Begegnung war indessen nicht einmal zur Sprache gekommen. Frau von C. war eine altmodische und zugleich radikale Person. Trotz des Geschäftes lebte sie ganz in den Welten ihrer Lektüre und war dadurch zu einer leidenschaftlichen Verfechterin der Phantasie geworden. Sie liebte nur die Wirklichkeit der Einbildung und hatte deren Mangel in P.s letztem Roman, Zeremonie der Erschöpfung, eingekleidet in ein Lob für den Stil, bereits taktvoll beklagt. P. entschloß sich, ihr zu schreiben.

Er holte sich ein Glas Milch und nahm damit an seinem Arbeitstisch Platz, er sah sie schon mit einem Schwein an der Leine den Weg vom Fernseher zur Anrichte nehmen; er stellte sich vor, wie ihre hellen unbedeckten Flächen in Verbindung mit dem pelzbeladenen Hut die ganze Mietwohnung gewissermaßen auf den Kopf stellten. P. trank die Milch in kleinen Schlucken und dachte an ein bestimmtes Foto von ihr; anläßlich seines Bändchens Der Strand hatte Frau von C. ein Urlaubsbild geschickt, das sie in einem einteiligen Badeanzug, bis zu den Knien in einem Weiher stehend, zeigte. Es war ein etwas unscharfes Foto, und auf der Rückseite stand: Um Ihre Einbildungskraft wieder zu stärken! Er holte es aus dem Schubfach, in dem er sämtliche Mitteilungen Frau von C.s aufbewahrte, und legte es neben die Reproduktion und ließ seinen Blick hin- und hergehen; die Folge war ein leichter Taumel, als hätte er Wein getrunken und keine Milch. Ihr hochgetragener Kopf und der Schwung ihrer Schenkel, das Gelöste des Spielbeins und die Grazie der Hände trafen seine Vorstellungen von der Dame mit dem Schwein so genau, daß er fahrige Armbewegungen machte. Als er sich wieder in der Gewalt hatte, griff er zu Papier und Füllfederhalter.

Sehr verehrte gnädige Frau, begann er den Brief. Ich darf Ihnen heute ein Anliegen vortragen, das für mich von höchster Wichtigkeit ist. Wie Sie ja selbst gemerkt haben und mich auch wissen ließen, leidet mein Schreiben seit geraumer Zeit an einem Mangel an Mut und Vorstellungskraft; daß Sie beim Lesen meiner Bücher nur noch am Stil Vergnügen finden, beschämt mich, und bis zum heutigen Abend hat mich Ihre Kritik nur noch mehr geschwächt. Bis zu dem Augenblick, als ich bemerkte, was meinem Schreiben fehlt: Die Anregung! Denn wie der Zufall es wollte, stieß ich in einem alten Magazin auf das Ihnen sicherlich vertraute Bild Die Dame mit dem Schwein von Félicien Rops, und es entstand dabei sogleich der Entschluß, dieses unerhörte Motiv detailgetreu in meiner Wohnung nachzustellen, um dadurch wenigstens einmal vor jenen vollendeten Tatsachen zu stehen, von denen doch jeder Schriftsteller träumt. Das ist mein unverrückbarer Vorsatz. Und nur ein einziger Mensch, den ich zwar nie getroffen habe, aber gut genug zu kennen glaube, hat ausreichend Sinn und Verstand und auch alle körperlichen Vorzüge, um eine so kühne Idee in die Tat umzusetzen – Sie. Sie, verehrte gnädige Frau, bitte ich daher, meiner Einladung hierher zu folgen und die bewußte Dame für mich darzustellen. Bis zu Ihrer Antwort werde ich alles Nötige veranlassen, um im Falle einer Zusage, auf die ich inständig hoffe, über ein ausgewachsenes und zahmes Schwein zu verfügen; und natürlich sorge ich auch für die im Bild vorhandenen Accessoires, wäre aber froh, wenn Sie das entsprechende Schuhwerk selber mitbrächten, damit Sie keine Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen müssen. Außerdem kümmere ich mich um ein Zimmer mit Bad im ersten Haus unserer Stadt und werde Sie auch am Bahnsteig erwarten, sofern Sie mit dem Zug anreisen. Ich weiß, es ist viel verlangt, aber handeln Sie aus Liebe zum Wort, in Verbundenheit, Ihr P.

Um nicht wankelmütig zu werden, klebte er den Brief sofort zu und brachte ihn zu einem Nachtbriefkasten. Anderntags wachte P. zur gewohnten Zeit auf. Er verrichtete seine morgendlichen Dinge in dem Gefühl, daß etwas ganz Entscheidendes geschehen sei und sein Leben vor einer Wende stehe. Nach dem Frühstück löste er die Seite mit der Reproduktion von den übrigen Seiten und heftete sie mit Stecknadeln oberhalb des ausziehbaren Sofas, das ihm als Schlafstatt diente, an die Wand. Nun konnte er das Bild vom Schreibtisch aus sehen. Dann machte er sich Gedanken, wie er wohl zu einem Schwein kommen könnte.

Er ging schrittweise vor. Seine materielle Beziehung zu Schweinen bestand vor allem im Schnitzel. Und das Schnitzel kam vom Schlachter; der Schlachthof fiel ihm ein. Er suchte die Nummer heraus und führte ein Telefonat. Er erkundigte sich bei der Verwaltung, woher die Schweine kämen, die geschlachtet würden, man gab ihm die Adresse eines Zuchtbetriebes. P. rief dort an, es meldete sich eine Frau. Ob es wohl möglich sei, bei ihr ein Schwein zu mieten, fragte er. Nur für ein Wochenende.

Die Landfrau glaubte an ein Mißverständnis, worauf P. sich wiederholte. Er sagte: Ich möchte ein Schwein. Ich möchte es mieten. Nur für ein Wochenende.

Aber wozu? fragte die Frau.

Für einen künstlerischen Akt. Es soll an einer Leine gehen. Vor einer Dame her.

Naa! rief die Frau in ihrer Mundart.

Bitte?

Nein heiße das, sagte sie und wollte dann wissen, wo er denn lebe. Da käme als erstes der Tierschutzverein. Danach kämen Gesundheitsamt und Ordnungsbehörden. Da müßte er ihr schon Genehmigungen zeigen. Und außerdem: Nicht eines ihrer Schweine sei zu haben für so einen Kram. Schluß.