Thomas Köhler-Saretzki

Sichere Kinder brauchen starke Wurzeln

Wegweiser für den Umgang mit
bindungsbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen

RATGEBER

für Angehörige, Betroffene und Fachleute

herausgegeben vom
Deutschen Verband der Ergotherapeuten

| Vorwort zur Reihe

Die „Ratgeber für Angehörige, Betroffene und Fachleute“ vermitteln kurz und prägnant grundlegende Kenntnisse (auf wissenschaftlicher Basis) und geben Hilfestellung zu ausgewählten Themen aus den Bereichen Ergotherapie, Sprachtherapie und Medizin. Die Autorinnen und Autoren dieser Reihe sind ausgewiesene Fachleute, die seit vielen Jahren als Therapeuten in der Behandlung und Beratung und/oder als Dozenten in der Aus- und Weiterbildung tätig sind. Sie sind jeweils für den Inhalt selbst verantwortlich und stehen Ihnen für Rückfragen gerne zur Verfügung.

Im Ratgeber „Sichere Kinder brauchen starke Wurzeln – Wegweiser für den Umgang mit bindungsbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen“ hat der Autor Dr. Thomas Köhler-Saretzki seine umfassende berufliche Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Bindungsstörungen sowie deren Eltern und Bezugspersonen zusammengefasst. Er hat Erfahrung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gesammelt und leitet heute ein Familienberatungszentrum.

In gut verständlicher Sprache wird zunächst in die Begrifflichkeit „Bindung“ eingeführt. Es folgen gut nachvollziehbare Definitionen von vier unterschiedlichen Bindungsmustern, ihre Abgrenzung zu den Bindungsstörungen sowie Ausführungen zu den Hintergründen ihrer Entstehung.

Den Hauptteil des Ratgebers nehmen dann konkrete Hilfestellungen und viele praktische Tipps für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit Bindungsstörungen ein, die übergreifend und für bestimmte Berufsgruppen spezifiziert formuliert werden. Abgerundet wird dieser Teil durch Hinweise, wie die Arbeit mit den Eltern und Bezugspersonen der Kinder und Jugendlichen gestaltet werden kann. Den Abschluss bilden ein Glossar, vertiefende Literaturhinweise sowie relevante Kontakt- wie Internetadressen.

Der Ratgeber gibt somit einen guten Überblick über die komplexen Anforderungen in der Arbeit mit bindungsbeeinträchtigten Kindern und Jugendlichen und empfiehlt sich für Betreuer, Therapeuten, Pflegeeltern und alle, die Heranwachsende in ihrer Entwicklung unterstützen.

Wir hoffen, mit diesem Ratgeber dazu beizutragen, dass die Kinder und Jugendlichen trotz ihrer Beeinträchtigungen die für sie notwendige Anerkennung und Unterstützung erhalten und dass Angehörige sowie Fachkräfte Anregungen für den täglichen Umgang erhalten, um das Miteinander zu erleichtern.

Arnd Longrée

Herausgeber für den DVE

| „Sichere Kinder brauchen starke Wurzeln“

Starke Wurzeln und tragfähige Flügel sollten möglichst alle Kinder bekommen. Doch was ist, wenn diese Wurzeln zu kurz geraten oder gar verkümmert und gewaltsam durchtrennt worden sind? Wie können Kinder dann einen sicheren Stand finden? Ebenso können schlecht entwickelte und gestutzte Flügel den natürlichen Spiel- und Erkundungsdrang eines jungen Menschen hemmen. Doch wie kann man ihnen neuen Raum zur besseren Entfaltung geben?

Der erzieherische wie auch therapeutische Umgang mit Kindern und Jugendlichen, deren Bindung beeinträchtigt ist, stellt sowohl Fachleute als auch die Betroffenen und Angehörigen tagtäglich vor neue Herausforderung. Die belastenden Beziehungserfahrungen, die diese Kinder im Laufe ihres Lebens gemacht haben, kommen in der Folge in aktuellen Kontakten mit Erwachsenen und Gleichaltrigen zum Ausdruck. Eltern und Pädagogen berichten dann nicht selten von eskalierenden Konflikten, distanzlosem Verhalten und barschen Zurückweisungen, wenn sie sich dem aufgewühlten Kind nähern wollen.

Gerade in Situationen emotionalen Stresses finden die betroffenen Kinder und Jugendlichen häufig keine oder nur unzureichende Lösungen und benötigen einen sicheren Hafen, in dem sie ankern können.

Der Ratgeber zeigt auf, wie unsichere, hochunsichere und zum Teil gestörte Bindungen verstanden werden können, und bietet Möglichkeiten für den Umgang mit Kindern an, die häufig als „schwierig“ oder „verhaltensauffällig“ beschrieben werden. Durch das Verständnis früher Bindungsprozesse können hilfreiche Perspektiven entstehen: sowohl für Eltern und Angehörige als auch für die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe und der Therapie. Denn die sprichwörtlichen Wurzeln und Flügel sind zwar in Kindern biologisch angelegt, müssen aber dennoch in Beziehung miteinander reifen und können sogar später noch an anderer Stelle weiterentwickelt werden – das schafft Perspektiven!

Solche guten Aussichten wünsche ich auch der inzwischen zweiten vollständig überarbeiteten Auflage dieses Ratgebers: dass er sich mit seinen Anregungen in den pädagogisch-therapeutischen Arbeitsfeldern noch tiefer verwurzelt und überdies viele Familien erreicht, die sich zum Thema Bindung kundig machen möchten.

Köln im Dezember 2015

Mathias Berg

| Einleitung

Dieser Ratgeber soll dazu dienen, Sie über das Thema Bindung, die Bindungsstörungen und ihre Folgen aufzuklären. Er möchte Ihnen aktuelles Wissen über das Thema vermitteln, konkrete Fördermöglichkeiten kurz und einfach darstellen und Verhaltensweisen und emotionale Befindlichkeiten der Betroffenen erklären und verständlich machen.

Weitere Informationen beziehen sich auf die Erscheinungsformen und den Verlauf der unterschiedlichen Bindungsmuster. Vor allem soll Ihnen der Wegweiser aber praktische Tipps und Hinweise für den Alltag geben. Für die professionelle Arbeit ist der Anspruch, hilfreiche pädagogische und psychologische Interventionen zu bieten. Im Mittelpunkt stehen dabei die Erscheinungsformen der Bindungsstörung. Betroffenen, Eltern und Freunden soll aufgezeigt werden, wie man im täglichen Leben mit einer Bindungsstörung umgehen kann, welche Verhaltensweisen zu empfehlen sind und wie ungünstige Bindungsmuster durchbrochen werden können.

Das Buch macht Ihnen also konkrete Vorschläge, wie Sie betroffene Kinder und Jugendliche bei der Bewältigung und dem Umgang mit ihrer Störung unterstützen können.

Es soll und kann natürlich keine Behandlung ersetzen. Diese muss von professionellen Fachkräften geleistet werden, z. B. Ärzten, Kinder- und Jugendtherapeuten, Mitarbeitern von Familienberatungsstellen oder Fachkräften des Jugendamtes. Und vor allem möchte dieser Ratgeber keine umfassende Handlungsanweisung bieten, die schrittweise für alle Fälle abgearbeitet werden kann. Die ständige Überprüfung, Reflexion und Anpassung der pädagogischen und therapeutischen Arbeit mit dem jeweiligen Kind muss weiterhin gewährleistet sein.

Dieser Wegweiser lädt Sie ein, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und gibt Impulse für einen förderlichen und unterstützenden Umgang.

Dr. Thomas Köhler-Saretzki

Dipl.-Psychologe

Leiter der Familienberatung der Christlichen Sozialhilfe e.V., Köln

| Janne, 14 Jahre

Janne ruft schon von Weitem voller Begeisterung: „Hallo Herr Köhler, ich komme nachher wieder zu Ihnen!“ Wir haben keinen Termin vereinbart. In ihrer Stimme liegen so viel Lebhaftigkeit und Freude, als hätten wir das schönste Erlebnis des ganzen Jahres miteinander geteilt und müssten die Erinnerungen noch einmal aufwärmen und nachbesprechen. Unser gemeinsames Erlebnis von gestern war ein einstündiger, stark strukturierter Intelligenztest ohne tiefer gehende Gespräche oder besonders nennenswerte schöne gemeinsame Interaktionen – zumindest für mich. Janne möchte mir am liebsten um den Hals springen, während sie auf mich zuläuft. Sie versucht, mich für einen kleinen Augenblick so voll und ganz einzunehmen und auch körperlich so zu klammern, dass es mir unangenehm wird. Das Verhalten von Janne in dieser Situation ist unserer Beziehung überhaupt nicht angemessen!

Ich versuche selbstverständlich, ihr offen zu begegnen und ihr zugewandt und feinfühlig meine völlige Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Ich interessiere mich für sie und frage nach, wie es ihr geht und was sie denn gerade macht.

Plötzlich verändert sich die Situation, ich habe das Gefühl, sie wendet sich nach innen, oder nach außen, ich weiß nicht, auf jeden Fall weg. Sie wendet ihr Gesicht ab und lässt ihre Blicke fliegen, nur zu mir gelingt ihr kein Blickkontakt mehr. Der Kontakt wird insgesamt verschwommen und diffus. Ihre verbalen Antworten werden vage, ich habe das Gefühl, sie ist nicht bei der Sache und ich verliere das Gespür für mein Gegenüber. Eine unsichtbare Wand schiebt sich zwischen uns. Janne sucht jede Gelegenheit, aus der Situation zu kommen und nutzt sie auch. Auf mein Lob für die Leistung von gestern zeigt sie keine sichtbare Reaktion. Ich fühle mich allein, obwohl mir jemand direkt gegenüber steht. Es entsteht ein innerer Druck, etwas zu sagen oder zu tun.

Janne läuft weg, auf jemand anderen zu. Sobald sie sich einige Meter entfernt hat, habe ich das Gefühl, dass hier ein freundliches, nettes junges Mädchen ist, mit dem ich gerne sprechen würde. Janne läuft um die Ecke, sie ist weg. Irgendwie bin ich verwirrt, gelöst, froh, irgendwie enttäuscht und auch verärgert.

Ich bin Janne auch schon oft begegnet, nachdem sie etwas angestellt hat. Die Reaktionsbreite, die dabei zu beobachten war, reichte von „vor Schreck erstarrt“ bis hin zu einem um sich schlagenden Mädchen völlig außer Rand und Band.

Mit drei Jahren wurde Janne aus ihrer Ursprungsfamilie herausgenommen und kam in eine Pflegefamilie. Sie war in einem körperlich und seelisch verwahrlosten Zustand, ein (sexueller) Missbrauch konnte nie ausgeschlossen werden. Die körperliche Entwicklung wirkte insgesamt stark retardiert. Richtig auffällig wurde Janne dann bei der Einschulung mit sechs Jahren. Sie kotete und nässte ein, schlug und kratzte andere Kinder, zeigte zunehmend distanzloses Verhalten und war nicht mehr ansprechbar. Die Unterbringung in einer Pflegefamilie scheiterte. Ab ihrem siebten Lebensjahr lebte Janne in verschiedenen stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, zuletzt fünf Jahre ununterbrochen in einer heilpädagogischen Intensivgruppe, bevor sie schließlich geschlossen untergebracht werden musste. Dabei handelt es sich um eine mit Freiheitsentziehung verbundene Unterbringung nach § 1631b BGB.