817184_Saat_des_Segens_Seite_3.pdf

Kapitel 4

Das Haus war ein brodelnder Kessel, und Tamar war mittendrin. Selbst die, die Batsubas Geschichte, dass Tamar Er verhext hatte, nicht geglaubt hatten, waren nun überzeugt, dass sie für Onans Tod verantwortlich war, ja Tamar selbst begann sich zu fragen, ob sie nicht einen Teil Schuld hatte. In einem Jahr zwei Ehemänner tot – wie konnte das sein? Sicher, Er und Onan waren böse gewesen. Aber es gab viele böse Menschen, die sich bester Gesundheit erfreuten. Warum musste dies ausgerechnet ihren Ehemännern passieren?

Nein, Tamar hatte die Hand des Todes nicht gelenkt. Aber die Gerüchte ließen sich nicht aufhalten. Der Klatsch riss Judas Haus in Parteien und Meinungen auseinander, und am allermeisten spaltete Batsuba. Tamar wollte sich verteidigen, laut herausschreien, dass sie nie im Leben einen einzigen Zauberspruch gesprochen oder eine Beschwörung gemurmelt hatte, aber jedes Mal, wenn sie ihren Mund öffnen wollte, sah sie den Blick in den Augen der anderen und wusste: Es hatte keinen Zweck; sie glaubten der Lüge bereits. Und sie hatten Angst.

Auch Tamar hatte Angst. Von dem Tag an, an dem sie in dieses Haus gekommen war, hatte man sie wie eine verachtete Sklavin behandelt. Jeder hatte gewusst, dass Er sie schlug, aber niemand hatte einen Finger zu ihrer Verteidigung gerührt oder auch nur ein Wort des Mitleids gesprochen. Und jetzt hatte Onan ihr das Recht versagt, einen Sohn zu empfangen, der Ers Erbteil bekommen würde – und alle glaubten, dass sie ihm den Tod gewünscht hatte. Und in Wirklichkeit war sie doch in der Hoffnung in dieses Haus gekommen, eine gute Ehefrau zu sein und viele Kinder zu bekommen! Es war der Gott von Judas Vater, der die beiden jungen Männer getötet hatte. Hatte Juda das nicht selbst gesagt an dem Tag, an dem Er starb?

Aber jetzt sagte Juda überhaupt nichts mehr. Er brütete Wein trinkend vor sich hin, während Batsuba ihn mit ihrem Gekeife bestürmte. Tamar wusste: Es war einfacher für ihre Schwiegermutter, zu glauben, dass alles Tamars Schuld war, als dass Judas Gott dabei war, seine Familie zu zerstören. Wer würde der Nächste sein? Schela? Batsuba?

Jedes Mal, wenn Juda sie ansah, sah sie seinen Zorn und Argwohn. Er suchte einen Sündenbock für sein Elend, und alle im Haus zeigten auf sie.

Batsubas Hass war förmlich greifbar. Selbst wenn Tamar draußen arbeitete, konnte sie sie hören: „Ich will Tamar nicht mehr sehen! Sie muss weg!“

Begriff Batsuba nicht, dass sie ihr Haus nur noch mehr zerstörte, indem sie Öl ins Feuer goss? Warum flehte sie nicht zu Judas Gott um Gnade? Warum fragte sie nicht Jakob, was geschehen musste, um das Ruder herumzureißen? Warum saß Juda in seinem stummen Elend da und tat nichts, um den Zerfall seiner Familie zu verhindern?

„Versuch doch, mit ihm zu reden, Tamar“, sagte Aksa immer wieder.

„Das kann ich nicht. Ich antworte nicht auf Batsubas Lügen, noch nicht einmal, um mich zu verteidigen.“

„Alle sind gegen dich!“

„Was kann ich denn machen, wenn Judas Gott ihm Er und Onan weggenommen hat? Das ist Judas Sache, er ist das Haupt des Hauses.“

„Batsuba ist das Haupt.“

„Ja, weil Juda sie lässt! Was aus mir wird, liegt in seiner Hand, ich kann nur abwarten.“

Egal, was die anderen über sie dachten oder sagten, die Sitte verlangte nach wie vor, dass der nächste Sohn des Hauses Tamar Kinder gab. Aber würde Juda seinen dritten Sohn mit ihr verheiraten, nachdem zwei bereits tot waren? Würde er ihr Schela anvertrauen, nachdem Er und Onan schon im Grab lagen?

Wenn sie allein war, ließ Tamar ihren Tränen freien Lauf, aber vor den anderen beherrschte sie sich. Was hätte es gebracht, wenn sie vor Batsuba zu Kreuze gekrochen wäre? Es hätte Batsubas Herz keinen Deut weicher gemacht. Nein, sie würde die Selbstachtung bewahren vor allen, die ihr feindlich gesonnen waren.

Die Trauerzeit für Onan ging vorüber, die Wochen zogen dahin und Tamar wartete. Früher oder später musste ihr Schwiegervater zu einer Entscheidung kommen.

zwei_Aehren.eps

Nach 75 Tagen ließ Juda Tamar zu sich rufen. Er hatte gegrübelt und gegrübelt. Tamar hatte ein Recht darauf, Schela zu heiraten und Kinder von ihm zu bekommen – aber was, wenn auch sein letzter Sohn starb, wenn er sie heiratete? Batsuba war felsenfest davon überzeugt, dass Tamar eine Zauberin und böse Hexe war. Aber warum sollte das Mädchen so etwas tun? Sie brauchte doch Söhne, die für sie sorgen würden, wenn sie alt wurde, und sie brauchte einen Mann, der diese Söhne zeugte. Warum sollte sie ihre einzige Chance auf eine sichere Zukunft zerstören? Eine kinderlose Witwe war eine Frau ohne Hoffnung.

Aber Batsuba blieb eisern. „Ich werde dich bis in mein Grab hassen, wenn du ihr auch noch meinen letzten Sohn gibst!“, heulte sie. „Sie darf Schela nicht bekommen! Tamar muss weg! Ich kann nicht länger unter einem Dach wohnen mit dieser Hexe!“

Und wenn Batsuba nicht geiferte und drohte, suchte sie den Rat ihrer Teraphim. Das ganze Haus roch nach Weihrauch, und ein Seher nach dem anderen stand vor der Tür, angeblich mit Botschaften von den Toten.

Juda hatte Tamar kein einziges Mal bei einer Beschwörung oder Zauberzeremonie überrascht, aber dies bedeutete natürlich nicht, dass sie nicht insgeheim doch solche Dinge tat. Vielleicht war sie nur nicht so ehrlich wie seine Frau, die nie ein Geheimnis aus ihrer Leidenschaft für die kanaanitischen Götter gemacht hatte.

Juda wusste, dass es Gott gewesen war, der Er und Onan getötet hatte. Wenn er Tamars Bitte erfüllt und Onan wegen seiner Sünde zur Rede gestellt hätte, vielleicht … Juda verwarf den Gedanken sofort wieder. Selbst wenn es Gott gewesen war, der seine Söhne weggenommen hatte – dieses Mädchen war ein böses Omen. Seit er sie ins Haus geholt hatte, hatte er nichts als Ärger mit ihr gehabt. Vielleicht würde er endlich etwas Frieden finden, wenn er sie wieder los war.

Schela war der einzige Sohn, der ihm noch geblieben war. Batsuba hatte recht; er musste ihn schützen. Und die eine Konstante in der Unglücksserie, die über sein Haus gekommen war, war Tamar. Er konnte, er durfte Schelas Leben nicht auch noch riskieren.

Und Schela hatte sowieso Angst vor Tamar, nachdem Batsuba ihm eingeredet hatte, dass er sterben würde, wenn er mit Tamar schlief.

Wann wirst du das tun, was recht ist, Juda?“

Tamars Worte stachen in sein Gewissen. Er schüttelte sie ab. Er beschützte doch nur seine Familie.

Dies war ein Notfall. Warum auch seinen letzten Sohn diesem gefährlichen Mädchen zum Mann geben? Warum dieses Risiko eingehen? Warum den Keil zwischen ihm selbst und Batsuba noch tiefer treiben? Warum das Elend noch größer machen?

Und war Tamar nicht wahrscheinlich sowieso unfruchtbar? Immerhin hatte sie in den Monaten, die sie Ers Frau gewesen war, kein Kind empfangen. Sie war nicht bereit gewesen, Onan zu betören. Warum jetzt auch noch Schela für sie verschleißen? Schela – sein letzter noch lebender Sohn, sein einziger Erbe, seine letzte Hoffnung. Nein, er würde Schela nicht opfern!

Er ließ ihn zu sich rufen. „Geh zu Hira in Adullam und bleib dort, bis ich zu dir senden lasse.“

Schela, sichtlich erleichtert, gehorchte auf der Stelle. Juda spürte einen kleinen Gewissensstich, aber er ging bald wieder vorbei. Er würde seinen Sohn schützen, und wenn es ihn seine Ehre kostete.

zwei_Aehren.eps

Tamar spürte gleich, dass etwas nicht stimmte, als Aksa zu ihr hinauskam und stumm wie ein Fisch neben ihr zu arbeiten begann. „Was ist, Aksa? Was ist passiert?“

„Heute Morgen hat Juda Schela fortgeschickt.“

Tamars Herz sank. „Sicher will er, dass er nach den Herden sieht.“

„Schela ist nach Adullam gegangen, und da sind gerade keine Herden.“

Tamar schaute zu Boden. „Dann kann ich nur noch warten, Aksa. Und hoffen.“

„Nichts kannst du machen.“ Aksa begann zu weinen.

Als Juda sie zu sich rief, ging Tamar voller Hoffnung zu ihm. Vielleicht gab es doch eine andere Erklärung? Aber als sie ihren Schwiegervater sah, wusste sie, dass Aksa recht hatte. Schela war fort, und sie konnte nichts daran ändern.

Juda sprach langsam und ohne sie anzusehen. „Ich habe eine schwierige Entscheidung getroffen. Schela ist noch zu jung, um die Aufgaben eines Ehemannes zu erfüllen.“

Schela ist zwei Jahre älter als ich, dachte Tamar. Laut sagte sie es aber nicht. Sie wusste, dass es nur eine Ausrede war, und Juda wusste es auch. Aber wenn sie ihn jetzt zur Rede stellte, würde sie ihn nur noch mehr gegen sich verhärten. Soll Batsuba ihn weiter mit ihren Lügen bearbeiten, die Wahrheit wird doch noch herauskommen … Sie würde gehorchen, sie würde geduldig sein, sie würde sich würdevoll verhalten. Die Zeit war auf ihrer Seite. Die Zeit und die Notwendigkeit. Juda brauchte sie; er brauchte einen Sohn, der die Sippe weiterführte. Wenn Juda ihr das Recht versagte, diesen Sohn zu gebären, wäre er ein Mann, der seine Ehre aufgegeben hatte, ein Mann, dem man nicht mehr trauen konnte.

„Ich werde dich holen lassen, wenn Schela älter ist.“

Tamar runzelte verwirrt die Stirn. „Holen lassen? Wie meinst du das?“ Sie suchte in seinem Gesicht und sah, wie seine Augen hart wurden.

„Batsuba lässt gerade deine Sachen packen. Einer der Diener wird dich und deine Amme zurück zu deinem Vater begleiten.“

„Zu meinem Vater? Aber, Herr, das ist …“

„Keine Widerworte! Es ist am besten so. Du wirst als Witwe im Hause deines Vaters bleiben, bis ich dich rufen lasse.“

„Am besten?“ Sie spürte, wie sie sich versteifte. „Soll ich nun also verstoßen werden wegen der Sünden, die andere gegen mich begangen haben?“

„Du wirst nicht verstoßen. Du gehst nach Hause.“

Hier ist mein Zuhause, auch wenn es nie warm und freundlich gewesen ist!“

„Sag nichts mehr gegen meine Familie! Ich habe diese Entscheidung für sie getroffen. Deine Anwesenheit hat mein Haus zu einem Kriegsschauplatz gemacht.“

„Du bist ungerecht!“ Die Tränen überwältigten sie.

Er sah zur Seite. „Mit Tränen kannst du mich nicht umstimmen.“

Verzweiflung und Wut drohten sie zu ersticken. „Glaubst du, mein Vater wird mich mit offenen Armen wieder aufnehmen?“ Sie kämpfte um den letzten Fetzen ihrer Selbstbeherrschung. „Eine zweifache Witwe? Ohne Kinder? Verworfen und vor die Tür gesetzt?“

„Sag ihm, dass ich will, dass du in seinem Haus bleibst, bis Schela erwachsen ist. Wenn der Tag kommt, werde ich nach dir schicken.“

Tamar hob den Kopf und starrte ihm in die Augen. „Wirst du das?“

„Ich habe es doch gerade gesagt.“

Sie sah ihn weiter unverwandt an. Sollte er ruhig sehen, was sie von seinen Versprechungen hielt.

Juda wurde rot und blinzelte. „Glaubst du mir etwa nicht?“

Sie antwortete nicht, aber dachte sich ihren Teil. Wann hatte sie je erlebt, dass Juda das tat, was recht war?

„Ich gebe dir mein Wort!“, sagte er rasch. „So! Wirst du jetzt gehen?“

Tamar senkte gehorsam den Kopf.

Gleich draußen vor der Tür stand Batsuba, ein Bild des Triumphes. „Deine Amme wartet draußen auf dich.“

Tamar schob sich an ihr vorbei, mit den Tränen kämpfend. Batsuba folgte ihr zur Haustür und stemmte die Hände in die Hüften. „Endlich sind wir dich los.“

Tamar sah sich nicht zu ihr um. Sie schaute auch nicht zu Aksa hin. Sie durfte jetzt nicht weinen und Batsuba noch mehr Grund zum Triumph geben. „Juda schickt uns zu meinem Vater zurück.“

Aksas Augen blitzten. „Ich werde Batsuba und ihr Haus verfluchen!“ Sie trat vor; Tamar packte ihren Arm und zog sie zurück.

„Das wirst du nicht tun! Dies ist mein Haus, meine Familie. Egal, was Juda denkt, ich gehöre hierher.“

Aksas Augen füllten sich mit Tränen der Wut. „Sie haben dich nicht verdient“, flüsterte sie.

„Juda hat mich gewählt, Aksa, und ich will weiterhoffen, dass ich dieser Wahl würdig bin. Wenn du unbedingt etwas sagen musst, dann sprich Gebete für seine Familie.“

Es kam kein Diener, um sie auf der Reise zu begleiten, aber man gab ihnen immerhin Proviant mit: zwei kleine Gerstenbrote und einen Schlauch mit Wasser.

Als sie außer Sichtweite des Hauses waren, fiel Tamar auf die Knie und begann hemmungslos zu schluchzen. Sie füllte ihre Hände mit Staub und Sand und warf ihn sich auf den Kopf. Aksa weinte mit, genauso trostlos wie sie.

Es war nicht mehr als ein halber Tagesmarsch zu Zimrans Haus. Die Hitze der Sonne drückte die beiden Frauen, aber noch schwerer waren ihre Herzen. Die Sonne ging unter, als Tamar an der Tür ihres Vaterhauses ankam. Zimran war nicht erfreut, sie zu sehen.

zwei_Aehren.eps

Zimran befahl allen, den Raum zu verlassen. Tamars Mutter, ihre Schwestern und Brüder und Aksa beeilten sich, zu gehorchen. Tamar wünschte, auch sie könnte vor dem Zorn ihres Vaters fliehen, aber sie hatte keine Wahl. Sie musste still vor ihm stehen und das, was jetzt kommen würde über sich ergehen lassen.

„Ich habe dich Judas Sohn gegeben, damit du ihm Kinder schenkst und Friede zwischen unseren Sippen ist! Du hast mich verraten! Du hast uns alle verraten!“

Mühsam riss sich Tamar zusammen und bemühte sich, sachlich zu bleiben. „Juda hat mir sein Wort gegeben, dass er mich wieder holen lässt, wenn Schela alt genug ist, um seine Pflicht an mir zu erfüllen.“

Zimran sah sie verächtlich an. „Und du hast diesem Hebräer geglaubt? Närrin! Schela ist nur ein paar Jahre jünger als Er, höchstens drei oder vier! Und da behauptet Juda, er ist nicht alt genug, um Kinder zu zeugen? Ha! Wenn er so jung ist, warum nimmt Juda ihn dann zur Schafschur mit? Du hättest auf deinem Recht bestehen sollen!“

Sie taumelte unter dem Schlag, den er ihr versetzte, und fiel auf die Knie. „Ich habe getan, was ich konnte, Vater.“

Aber das war nicht genug!“ Zimran marschierte wie ein gefangener Löwe durch den Raum, das Gesicht rot, die Fäuste geballt. „Warum bist du nicht in seinem Haus geblieben, anstatt hierher zurückzukommen? Was nützt du mir denn hier? Du bringst Schande über mein Haus!“

Tamar legte ihre Hand an ihre pochende Wange. Ihr Herz stolperte vor Angst. Sie wagte kaum zu atmen, aber sie durfte der Angst nicht nachgeben, sie musste denken!Juda hat es versprochen, Vater. Versprochen.“

„Was gilt schon das Versprechen eines Hebräers? Mit den Leuten von Sichem hatten sie auch einen Bund geschlossen, und was kam dann?“ Er blieb vor ihr stehen. „Ich bin nicht mehr verantwortlich für dich! Wenn Juda dich nicht in seinem Haus haben will, warum sollte ich dich in meinem wollen? Du bringst uns allen nur Unglück!“

Sie musste überleben. „Wenn du das riskieren willst, Vater, dann tu es. Kümmer dich nicht um Judas Wünsche und wirf mich hinaus!“

„Judas Wünsche? Was für Wünsche?“

„Dass ich sein Haus aufbaue.“ Hatte ihr Vater immer noch Angst vor Juda? Hoffentlich. „Wird Batsuba Juda etwa noch mehr Söhne gebären, Vater? Sie ist so trocken wie der Wüstenstaub und kalt wie Stein. Und kann Juda Schela denn einer anderen Frau geben, bevor er seine Pflicht an mir getan hat? Juda will sein Haus bauen, und ich bin es, die er als Gebärerin erwählt hat. Ist das jetzt anders geworden?“

Die Augen ihres Vaters flackerten. „Wenn Juda vorhätte, sein Wort zu halten, hätte er dich behalten. Doch offenbar will er dich los sein. Bald werden alle wissen, dass Juda eine Tochter aus meinem Haus für die Ursache seines Unglücks hält!“

Die Worte ihres Vaters durchbohrten sie wie Pfeile. „Gib Juda Zeit zum Trauern, Vater. Gib ihm Zeit, nachzudenken!“

„Zeit! Alle Vorteile, die ich durch deine Heirat gewonnen hatte, habe ich wieder verloren! Glaubst du etwa, Juda wird seine Herden noch auf meinen Feldern weiden lassen, wenn du wieder hier bist? Jetzt muss ich andere Hirten suchen, die ihre Tiere bringen, oder mein Boden wird nicht gedüngt.“ Er funkelte sie an. „Du bist nutzlos! Du bist ein Fluch für mein Haus! Ich habe andere Töchter, die Männer brauchen, aber welcher Mann hält um die Hand einer Schwester von einer Verfluchten an? Wahrscheinlich würde Juda es als einen Gefallen ansehen, wenn ich dich töte!“

Die grausamen Worte trafen sie mehr als Schläge. Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie durfte jetzt keine Schwäche zeigen. „Wie du willst, Vater, dann schlag mich tot. Und wenn Juda nach mir schickt, damit sein Sohn Söhne mit mir zeugt, dann sag ihm, dass du mich im Zorn umgebracht hast!“

„Ich werfe dich ebenso hinaus, wie er es getan hat!“

„Er hat mich in die Obhut meines Vaters geschickt. Willst du Juda sagen, dass du mich nicht aufgenommen hast? Willst du diesem Hebräer wirklich erzählen, dass du seine Schwiegertochter fortgeschickt hast, sodass sie auf den Feldern von Fremden Ähren lesen, um Brot betteln und ihren Körper verkaufen musste, um zu überleben? Bestimmt wird er das verstehen. Die Hebräer lassen sich doch leicht überzeugen, nicht wahr? Sie sind stets gnädig und vergeben gern alle Übel, die man ihnen angetan hat. Mein Schwiegervater wird so gnädig zu dir sein wie du zu mir!“

Sie merkte, dass er ihr zuhörte, und redete schnell weiter. „Wenn ich zugrunde gerichtet bin und nicht mehr für Schela tauge, was wird dann mit Judas Haus geschehen? Ich werde immer Judas Schwiegertochter sein. Schela ist sein letzter Sohn, Vater. Ist Juda etwa die Art Mann, die sein Haus aussterben lässt, weil keine Nachkommen mehr da sind? Er hat mich ausgewählt!“ Sie hielt inne, um Zimran vielsagend anzusehen. „Es sei denn natürlich, du möchtest ihm den Brautpreis zurückzahlen.“

Ihr Vater wurde blass.

Sie sprach leiser weiter. „Juda hat nicht viel von dir verlangt, Vater. Gib mir zu trinken, zu essen und ein Dach über dem Kopf und erhalte seinen Segen dafür.“

„Für wie lange?“

„Ein paar Jahre vielleicht. So lange Schela braucht, um Manns genug zu werden und mich zu heiraten.“

Die Wurzel der Angst saß tief in ihrem Vater. Sie musste diese Angst zu ihrem Schutzzaun machen. „Du brauchst Juda als Verbündeten, Vater, und nicht als Feind. Du bist nicht stark genug, um gegen ihn zu bestehen.“

Seine Augen blickten plötzlich listig. „Er ist nur ein Mann und hat nur noch einen Sohn.“

Ihr wurde kalt. Hatte sie jetzt Judas Familie in Gefahr gebracht, indem sie ihren Vater daran erinnerte, dass ihre Zahl kleiner wurde? Sie konnte seine Gedanken förmlich lesen: Er selbst hatte sechs Söhne. „Juda hat viele Brüder, Vater. Kämpferische Brüder mit vielen ebenso kämpferischen Nachkommen. Und ihr Vater ist Jakob, ein Mann, der mit dem unsichtbaren, lebendigen Gott spricht, der Sodom und Gomorra vernichtet hat. Vergiss nicht, was Jakobs Söhne mit Sichem gemacht haben. Eine ganze Stadt ausgelöscht um der Ehre eines einzigen Mädchens willen. Und bin ich jetzt nicht auch Judas Tochter, die Ehefrau seines Erstgeborenen Er, die Ehefrau Onans und die Verlobte seines letzten Sohnes, Schela? Was wird Judas Gott mit dir tun, wenn du versuchst, sein Haus zu zerstören?“

Zimran erblasste wieder, seine Zunge fuhr nervös über seine Lippen. „Du wirst arbeiten!“, sagte er schroff. „Du wirst nicht herumsitzen, dich bedienen lassen und fett und faul werden, bis Juda an sein Versprechen denkt. Eine Dienerin in meinem Haus wirst du sein.“

Sie neigte ihren Kopf, damit er ihre Erleichterung nicht sah. „Ich bin deine gehorsame Magd, Vater.“

„Ich hatte darauf gehofft, dass du eine Brücke bauen würdest“, sagte er bitter. „Die Sterne haben die Not, die du mir bringen würdest, nicht vorhergesehen.“

Sie schluckte ihre Tränen hinunter und zwang sich, ruhig und respektvoll zu sprechen. „Eines Tages wird Juda dir danken.“

Zimran lachte zynisch auf. „Das bezweifle ich. Aber ich werde wegen eines Mädchens nichts riskieren. Du wirst bei den Mägden schlafen. Für deine Schwestern bist du nicht die richtige Gesellschaft.“

Tamar wusste, dass er sie einfach nur demütigen wollte. Sie hob den Kopf und sah ihn direkt an. Er blickte zur Seite. „Du kannst gehen.“

Sie erhob sich würdevoll. „Möge der Gott Judas dich segnen für die Freundlichkeit, die du mir erweist.“

Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. „Bevor du gehst, möchte ich dir noch etwas zu bedenken geben. Du bist jung, und bald wirst du deiner Witwenkleidung überdrüssig werden. Die Jahre werden vergehen, und deine Aussichten darauf, Kinder zu bekommen, werden immer geringer.“

„Ich werde treu sein, Vater.“

„Das sagst du jetzt. Aber es wird eine Zeit kommen, wo du dich danach sehnen wirst, das Sackleinen und den schwarzen Schleier auszuziehen. Ich warne dich: Wenn du das tust, werde ich Juda über dein Schicksal entscheiden lassen, und du weißt, welches das sein wird.“

Ohne Zweifel ihr Tod, gefolgt von einer Feier.

„Ich werde treu sein, ich schwöre es bei meinem Leben. Was ich auch tue, ich werde Judas Haus Ehre machen!“ Sie hob das Kinn und sah ihn durch ihre Tränen an. Dann ging sie hinaus.

zwei_Aehren.eps

Juda hätte Tamar rasch vergessen, wenn Batsuba nicht so davon besessen gewesen wäre, sich an dem Mädchen zu rächen. Selbst nachdem Tamar fort war, gab sie keine Ruhe. „Meine Söhne müssen gerächt werden! Ich werde keine Ruhe haben, solange sie lebt!“

Und er auch nicht.

Batsuba hörte auf, den Haushalt zu führen, und überließ ihre Arbeit einigen trägen Dienerinnen, während sie selbst Tag und Nacht ihre Götter um Rache anflehte. Tamar musste sterben, das Haus Zimrans musste untergehen!

„Das Mädchen ist doch fort!“, rief Juda frustriert aus. „Gönn mir meine Ruhe und vergiss sie!“

„Wie du etwa? Zwei meiner Söhne liegen wegen ihr im Grab! Wenn du ein Mann wärst, hättest du sie getötet! Ich werde nie vergessen, was sie mir angetan hat, nie!“ Und sie betete weiter zu ihren Götzen.

Juda ließ sie gewähren. Konnten steinerne Götzenbilder hören? Konnten Teraphim aus Holz oder Ton etwas ändern? Sollte sie ruhig versuchen, bei ihnen Trost zu finden.

Er spielte mit dem Gedanken, sich eine zweite Frau zu nehmen, die ihm weitere Söhne schenken würde. Aber die Vorstellung, zwei Frauen unter seinem Dach zu haben, war furchtbar. Er war in einem Haushalt mit vier Ehefrauen aufgewachsen und wusste nur zu gut, wie viel Ärger und Elend mehrere Ehefrauen einem Mann bringen konnten, selbst wenn sie an denselben Gott glaubten wie er. Sein Vater hatte es schwer gehabt. Judas Mutter Lea und Rahel, die Lieblingsfrau seines Vaters, hatten einen Dauerkrieg darum geführt, welche von ihnen die meisten Söhne bekommen konnte. Noch schlimmer war es geworden, als sie Jakob ihre Mägde als Nebenfrauen aufgezwungen hatten, damit diese noch mehr Kinder stellvertretend für sie bekamen. Es war ein bitterer Machtkampf gewesen – und das Herz seines Vaters hatte ohnehin immer nur Rahel gehört. Von dem Augenblick an, als er sie das erste Mal gesehen hatte, hatte Jakob sie innig geliebt, und ihr Tod bei der Geburt von Benjamin hatte ihn fast selbst ins Grab gebracht. Er liebte sie immer noch, und er hatte Josef und Benjamin mehr geliebt als alle seine anderen Söhne, weil sie von Rahel waren.

Nein, Juda würde sein Elend nur noch größer machen, wenn er sich eine zweite Frau nahm. Eine war schon mehr als genug, um einem Mann graue Haare wachsen zu lassen. Und dabei hatte er Batsuba sogar aus Liebe geheiratet. Oder was er dafür gehalten hatte. Sie war die Frau seiner Jugend, die Mutter seiner Söhne. Er würde sie nicht für eine andere beiseiteschieben, egal, wie schwierig sie war.

Und er müsste auch ein zweites Haus bauen, um seine zweite Frau vor dem Zorn der ersten zu schützen. Ihm stand noch deutlich vor Augen, wie sie Tamar behandelt hatte.

Juda hielt sich draußen bei seinen Herden auf, so oft es ging, um seiner Frau aus dem Weg zu gehen. Manchmal blieb er wochenlang fort. Aber selbst auf den Weiden verfolgte ihn das Unglück: Seine Kälber und Lämmer wurden von Krankheiten und Raubtieren dahingerafft. Die Sonne verbrannte das Gras. Als er die Tiere in die Täler führte, wo die Raubtiere sie nicht verfolgen konnten, riss eine Springflut nach einem Wolkenbruch die halbe Herde mit sich, ihre aufgedunsenen Kadaver ein Festschmaus für die Geier. Als er zurück nach Hause kam, musste er feststellen, dass die Braunfäule seine Weinreben vernichtet hatte. Die große Palme war von Schädlingen befallen. Der Garten lag brach, weil sich niemand darum gekümmert hatte. Der Himmel war aus Bronze, die Erde aus Eisen.

Dann wurde Batsuba krank, als die Unzufriedenheit sich wie ein Gift in ihren Körper fraß. Ihr Gesicht wurde schmaler, ihre Stimme rauer, ihre dunklen Augen hart wie Obsidian. Ständig klagte sie über Schmerzen im Nacken, im Rücken, im Magen, in den Gedärmen. Juda ließ Heiler kommen, die sein Geld mitnahmen und nutzlose Tränke daließen.

Was er in 20 Jahren harter Arbeit aufgebaut hatte, verwandelte sich vor seinen Augen in Staub und Asche, und er wusste genau, warum.

Gott ist gegen mich!

Juda lag vor seinem Schafspferch auf dem harten Boden mit einem Stein als Kopfkissen, starrte zu dem Abendhimmel hoch und erinnerte sich an die Verheißung, die Gott seinem Vater Jakob vor so vielen Jahren gegeben hatte – die gleiche, die er zuvor schon Jakobs Großvater Abraham gegeben hatte: Land und Nachkommen so zahlreich wie die Sterne am Himmel! Und der Herr hatte Jakob-Israel mit zwölf Söhnen gesegnet.

Dann kamen wieder die Albträume von dem unglückseligen Tag in Dotan, in denen Judas eigene Worte ihn verfluchten: „Was bringt es uns, unseren Bruder zu töten? Verkaufen wir ihn doch an die ismaelitischen Händler dort!“ Die Zisterne, in die sie Josef geworfen hatten, gähnte wie ein schwarzer Abgrund in diesen Träumen, und er hörte wieder die verzweifelten Schreie seines jüngeren Bruders.

Er wusste genau: Was seine Brüder und er mit Josef gemacht hatten, war der Grund dafür, dass sein Leben jetzt misslang. Und es gab kein Zurück, keine Möglichkeit, das ungeschehen zu machen, was er selbst damals getan hatte.

Helft mir, Brüder! Helft mir doch! Wie der arme Junge gegen seine Fesseln angekämpft hatte, wie er schluchzend um Gnade gebeten hatte. „Helft mir doch! Josefs Schreie hallten genauso laut in Judas Kopf wie an jenem Tag, an dem seine Brüder ungerührt zugeschaut hatten, wie die fremden Händler ihn nach Ägypten schleppten.

Damals hatte Juda Josef keine Gnade gezeigt. Warum sollte Gott ihm dann jetzt gnädig sein?

zwei_Aehren.eps

Vier Jahre vergingen, und äußerlich tat Tamar demütig und gehorsam ihre Arbeit. Aber innerlich kämpfte sie gegen ihr Schicksal an. Es konnte, es durfte nicht sein, dass sie alt werden und sterben würde, ohne Kinder bekommen zu haben! Aber noch war sie jung, noch hatte sie Zeit.

Sie arbeitete fleißig für ihren Vater und gab ihm keinen Grund zur Klage. Sie töpferte, sie flocht Körbe, webte Stoff. Sie stellte Werkzeuge für die Feldarbeit her. Erst als die Hirten ihre Herden fortgebracht hatten, schickte ihr Vater sie aufs Feld. Die Arbeit war hart, aber sie war gern im Freien. Besser Steine schleppen als die Verachtung der anderen ertragen.

Zimrans Felder trugen gute Früchte. Im dritten Jahr konnte er doppelt so viel Ernte einfahren wie zuvor.

„Wo ist das Unglück, das durch mich über dich kommt?“, fragte Tamar ihn.

„Warten wir ab, was das nächste Jahr bringt“, antwortete er.

Im fünften Jahr ging es dem Hause Zimrans so gut, dass man Tamar nachsah, dass sie immer noch da war. Ihre Schwestern wurden verheiratet, und sie durfte wieder im Haus der Familie wohnen. Ihr jüngerer Bruder nahm sich eine Frau und Tamar wurde zu ihrem Missfallen allmählich ein Objekt des allgemeinen Mitleids. Sie hasste das Gefühl, wie die anderen auf sie und auf Judas Haus herabsahen.

Aber sie hielt mit der Zähigkeit einer Klette an ihrer Hoffnung fest. Eines Tages würde Juda nach ihr schicken. Eines Tages würde sie Kinder bekommen. Eines Tages würde das Haus Judas stark und hoch geachtet sein wegen der Söhne, die sie ihm geschenkt hatte. Sie hatte solche Sehnsucht danach, ihren Platz als Gebärerin im Stamm ihres Mannes einzunehmen. Was für einen größeren Traum konnte es für eine Frau geben?

Manchmal, wenn sie nachts das Schreien des erstgeborenen Sohns ihres Bruders hörte, weinte sie. Würde sie je ein eigenes Kind in den Armen halten?

Bestimmt hatte Juda sie nicht abgeschrieben. Bestimmt würde er sie holen lassen. Er hatte es doch versprochen. Dieses Jahr vielleicht. Oder im nächsten. Oh, wenn es nur bald so weit wäre!

Wenn sie allein auf den Feldern war, hob sie ihre Augen zum Himmel, und die Tränen rannen über ihr Gesicht. Wie lange, o Gott, wie lange werde ich verlassen sein? Wann werde ich endlich Gerechtigkeit erfahren? O Gott Judas, hilf mir! Wann wird Juda sehen, dass ich seinem Haus die Kinder schenken kann, die er braucht, damit sein Name nicht erlischt? Wirke du in seinem Herzen, Gott, verändere ihn!

So betete Tamar zu Judas unsichtbarem Gott. Und dann tat sie das Einzige, das ihr zu tun blieb: Sie wartete … und wartete … und wartete …

Kapitel 5

Es war ein Markttag, an dem Tamars Vater und ihre Brüder am Stadttor mit Freunden zusammensaßen, während sie mit ihrer Mutter an ihrem Stand aus Ziegenleder saß und Flachstuch verkaufte. Tamar ließ sich von keinem noch so geschickt feilschenden Kunden über den Tisch ziehen; bei ihr warf der Stand immer einen satten Gewinn ab. Ihre Mutter war zufrieden und überließ ihr gern das Verhandeln.

Die Geschäfte gingen gut an diesem Nachmittag, und Tamar hatte alle Hände voll zu tun, während ihre Mutter Sonne, Mond und Sterne auf ein rotes Kleid stickte, das sie für ihre Tochter im Tempel in Timna genäht hatte. Wie jedes Jahr bekam Tamars Schwester auch in diesem ein neues Kleid mit Schleier. Zimran fand den Stoff und das bunte Garn zwar teuer, aber ließ seine Frau stets kaufen, was sie für nötig hielt. Für eine Tempeldienerin war das Beste gerade gut genug, und Zimran war nur zu begierig, die Götter – alle Götter – günstig zu stimmen. Tamars Mutter verbrachte Stunden damit, die importierten Stoffe mit feinem Garn und winzigen Perlen zu verzieren. Sie fertigte auch mit kleinen Schellen besetzte Schmuckbänder für die schlanken Fesseln des Mädchens an.

Obwohl Tamar ihre Trauerkleider trug, bis sie fadenscheinig wurden, bat sie nie um Ersatz, geschweige denn um ein feines Kleid, sondern gab sich mit ihrem weiten schwarzen Umhang zufrieden, der sie von Kopf bis Fuß einhüllte. Er störte sie nicht – die trostlose Wüste ihres Alltags dafür umso mehr. Sie merkte, wie die Verzweiflung ihre Entschlossenheit auffraß.

Sie war für mehr geboren als für solch ein Dasein! Sie war dazu erzogen worden, eine Frau und Mutter zu werden! Aber inzwischen waren sechs Jahre vergangen, und immer noch hatte Juda sie nicht holen lassen.

Tamar erhob sich, um mit dem nächsten Kunden zu feilschen. Der Nachmittag war schon vorangeschritten, und der Mann schien beste Qualität zum Billigpreis zu wollen. Sie lehnte sein Angebot ab und setzte sich wieder. Er bot mehr, und das Feilschen ging von vorne los. Schließlich kaufte der Mann das letzte Stück Tuch und ging. Tamar setzte sich aufseufzend neben ihre Mutter.

„Ich brauche noch etwas von dem blauen Garn“, sagte ihre Mutter. „Ich dachte, ich hätte genug für diese Schärpe, aber es reicht nicht. Geh und hol welches, aber mach schnell.“

Tamar ging an den anderen Ständen vorbei. Körbe mit Feigen und Granatäpfeln und Weintrauben, Krüge mit Olivenöl und Honig, Weinschläuche, arabische Gewürze, die die großen Karawanen gebracht hatten … Kinder spielten neben ihren Müttern. Tamar sah andere Witwen, die meisten viel älter als sie, die zufrieden dasaßen, während ihre Söhne oder Schwiegertöchter ihren Geschäften nachgingen.

Sie kaufte das blaue Garn und nahm einen anderen Weg zurück, diesmal vorbei an Ständen mit Teraphim aus Holz, Ton und Stein, diversen Töpferwaren, Körben und Waffen. Sie fühlte sich deprimiert und ruhelos.

Zwei junge Männer kamen ihr entgegen. Der eine sah vage bekannt aus. Sie kniff die Augen zusammen. Vielleicht ein Freund ihrer Brüder?

Er kam näher, und da begriff sie. Schela! Sie starrte ihn an. Er war ein erwachsener Mann mit vollem Bart und breiten Schultern! Sein Begleiter war ein junger Kanaaniter. Beide waren mit gebogenen Messern bewaffnet, trugen Weinschläuche über ihren Schultern und waren offensichtlich betrunken. Schela stieß mit einem Mann zusammen und schubste ihn fluchend beiseite. Tamar stand wie angewurzelt da und starrte die beiden an. Ihr Herz raste.

„Guck dir die junge Witwe da an“, lachte Schelas Freund. „Wie sie dich anglotzt! Vielleicht will die was von dir.“

Schela schob sich an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. „Mach Platz!“

Die Röte schoss ihr ins Gesicht. Judas Sohn hatte sie noch nicht einmal erkannt! Er war genau wie sein Bruder Er, genauso arrogant und verächtlich. Jetzt stieß er gegen einen der Teraphim-Stände, sodass die Tonfiguren laut gegeneinanderklapperten. Die Hände des Standbesitzers fuhren erschrocken nach vorne. Schela und der andere gingen lachend weiter.

„Macht Platz …“

Tamar kämpfte gegen die Wut und Verzweiflung an, die in ihr hochstiegen. Juda hatte also nie vorgehabt, sein Versprechen zu halten … Was würde aus ihr werden, wenn ihr Vater starb? Würde sie um die Reste vom Tisch ihrer Mutter betteln müssen oder hinausgehen und die übrig gebliebenen Ähren auf dem Feld eines Fremden lesen? Für den Rest ihres Lebens hätte sie die Schmach der Sitzengelassenen zu tragen und wäre vom Mitleid der anderen abhängig. Und alles, weil Juda sie preisgegeben hatte. Das war nicht gerecht! Ihr Schwiegervater hatte sie angelogen. Sie hatte nichts zu erwarten – keine Kinder, keine Zukunft, nichts.

Sie kehrte zum Stand ihres Vaters zurück und reichte ihrer Mutter das blaue Garn. Dann setzte sie sich in die Ecke, wo der Schatten am tiefsten war, das Gesicht abgewandt.

„Du bist lange fort gewesen. Was hat dich aufgehalten?“

Heiße Tränen stachen in Tamars Augen. Sie vermied es, ihre Mutter anzusehen. „Die Frau war etwas hartnäckig mit dem Preis.“ Nein, sie würde ihre Schande nicht zeigen.

Ihre Mutter tadelte sie nicht weiter, aber Tamar spürte ihren argwöhnischen Blick. „Stimmt etwas nicht, Tamar?“

„Ich bin nur müde.“ Das stimmte. Müde von dem endlosen Warten und Hoffen, dass Juda sein Versprechen halten würde. Müde von der Trostlosigkeit eines nutzlosen Daseins. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Sie brauchte Rat. Weisen Rat. Aber wem konnte sie trauen? Mit ihrem Vater konnte sie nicht reden; er würde ihr nur sagen, dass er es ja immer schon gewusst hatte, dass Juda sie verstoßen hatte. Auch nicht mit ihrer Mutter, denn die war ganz zufrieden damit, wie es war; sie wurde älter und konnte ein paar helfende Hände gut gebrauchen. Zimran war zwar mittlerweile reich genug, um sich Diener zu leisten, aber er zog es vor, seinen Gewinn in einen neuen Getreidespeicher aus Stein zu stecken.

Der Markttag endete, alle bauten die Stände ab. Tamars Vater und ihre Brüder kamen, um den Esel zu beladen. Der Weg nach Hause war lang.

Die Begegnung mit Schela erwähnte Tamar erst, als sie allein mit Aksa war.

„Hat er mit dir gesprochen?“

„Er hat gesagt, ich soll ihm Platz machen.“ Tamar presste die Hand auf ihren Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken, das in ihr hochstieg. Sie schloss die Augen, um sich wieder zu fassen, und schüttelte den Kopf.

Aksa umarmte sie und streichelte ihr über den Rücken. „Ich wusste, dass dieser Tag kommen würde.“

„Ich stand direkt vor ihm, Aksa, und er hat mich nicht erkannt.“

„Du warst ein junges Mädchen, als du in Judas Haus kamst. Jetzt bist du eine Frau. Es ist normal, dass Schela dich nicht wiedererkannt hat. Ich weiß nicht, ob Juda dich noch erkennen würde.“

„Verstehst du nicht, was das bedeutet?“

„Doch, ich schon. Du bist diejenige, die es nie verstanden hat.“

„Ich dachte …“

Aksa schüttelte den Kopf. „Du hast gehofft. Du warst die Einzige, die Glauben an diesen Mann hatte.“ Sie berührte zart Tamars Wange. „Er ist derjenige, der treulos gewesen ist.“

„Ich muss etwas tun, Aksa! Ich kann das nicht einfach so hinnehmen!“

Sie berieten sich bis spät in die Nacht, ohne eine Lösung zu finden. Schließlich fiel Tamar völlig erschöpft in einen unruhigen Schlaf.

zwei_Aehren.eps

Tamar war gerade dabei, die Ziegen zu melken, als ihre Mutter zu ihr kam, ihr Gesicht bestürzt. Tamar stand auf. „Was ist geschehen, Mutter?“

„Judas Frau ist tot.“ Tränen liefen die zerfurchten Wangen ihrer Mutter hinunter, aber ihre Augen waren wie Feuer.

Tamar wich einen Schritt zurück. Ihr Rücken war auf einmal eiskalt. „Wer hat die Nachricht geschickt?“

„Niemand! Dein Vater hat es zufällig von einem Bekannten gehört, der mit den Hebräern Handel treibt. Judas Frau ist schon begraben! Sie haben dich noch nicht einmal geholt, um sie zu betrauern. Dass meine Tochter von einem Hebräer so schimpflich behandelt wird und keiner unternimmt etwas dagegen … das bringt mich noch in mein Grab!“ Tamars Mutter begann nun ernstlich zu weinen.

Tamar wandte sich ab und wünschte sich, im Erdboden zu versinken.

Ihre Mutter trat noch näher. „Wann siehst du endlich ein, wie deine Lage wirklich ist? Dein Bruder hat Schela auf dem Markt gesehen. Aus Mitleid mit dir hat er es nur mir erzählt und nicht deinem Vater. Schela ist längst ein erwachsener Mann! Vielleicht hat er das Haus seines Vaters schon verlassen. Vielleicht wird er sich selbst seine Frau aussuchen und tun, was ihm beliebt – gerade so wie sein Vater Juda!“

Tamar drehte sich zur Seite. Was ihre Mutter da sagte, stimmte. Juda hatte seine Söhne noch nie zügeln können, weder Er noch Onan; warum sollte das bei Schela anders sein? Alle Männer in Judas Haus lebten für das Vergnügen des Augenblicks, ohne an das Morgen zu denken. Tamar zitterte am ganzen Körper. Sie musste etwas tun, um nicht laut loszuschreien. Sie setzte sich wieder, um die Ziegen weiterzumelken.

„Hast du gar nichts dazu zu sagen? Dieser elende Kerl hat dich verraten!“

„Genug!“ Tamar funkelte zu ihrer Mutter hoch. „Ich werde nicht gegen Juda oder seine Söhne sprechen. Ich werde dem Haus meines Mannes treu bleiben, egal, wie sie mich behandeln. Oder wie ihr mich behandelt.“ Sie wünschte sich, ihre Gedanken genauso gut zügeln zu können wie ihre Zunge.

„Wir geben dir zu essen.“

„Von dem ich mir jeden Bissen verdienen muss.“

„Dein Vater sagt, du sollst nach Kesib gehen und im Tor ausrufen, dass dir Unrecht geschehen ist.“

Ihr Vater wusste also alles. Ihre Demütigung war komplett. Tamar drückte ihre Stirn gegen die Flanke der Ziege, der Schmerz zu tief für Tränen.

„Und das hättest du schon längst tun sollen!“ Ihre Mutter ließ nicht locker. „Es ist dein gutes Recht! Willst du für den Rest deines Lebens hier sitzen und nichts tun? Wer wird für dich sorgen, wenn du alt wirst? Was soll aus dir werden, wenn du nicht mehr arbeiten kannst?“ Sie kniete sich neben Tamar und nahm ihren Arm. „Sag den Stadtältesten, wie dieser Hebräer dich behandelt und uns gedemütigt hat! Sie sollen alle erfahren, dass Juda wortbrüchig ist!“

Tamar sah sie an. „Ich kenne den Mann besser als du, Mutter. Er wird mich nicht segnen, wenn ich ihn vor ganz Kesib und Adullam bloßstelle! Wenn ich den Namen meines Schwiegervaters schlechtmache, wird er mir dann wohl Gnade zeigen und mir Schela geben?“

„Dann willst du noch weiterwarten und dich nicht wehren? Willst du noch mehr Jahre vorbeiziehen lassen und kinderlos alt werden?“ Ihre Mutter schluchzte auf. „Wie viele Jahre wird es dauern, bis du keine Kinder mehr bekommen kannst? Du wirst nicht ewig jung sein! Wer wird sich über dich erbarmen, wenn dein Vater stirbt?“

Tamar schlug die Hände vor das Gesicht. „Jetzt dräng mich doch nicht so! Ich suche ja nach …“ Sie brach ab und schluchzte.

Einen langen Augenblick sagte ihre Mutter nichts. Dann legte sie sachte ihre Hand auf Tamars Schulter. „Das Leben ist hart für eine Frau, Tamar. Aber ohne einen Mann ist es unmöglich.“

Tamar holte zitternd Luft und hob ihren Kopf. „Das weiß ich am allerbesten.“ Sie wischte sich die Tränen ab und sah ihre Mutter an. „Ich werde einen Weg finden.“

Ihre Mutter sah seufzend zu den Hügeln hin. „Der Mann, der mit deinem Vater sprach, sagte, dass Judas Frau lange krank gewesen ist, mindestens zwei Jahre. Ein langsames, schweres Sterben.“ Sie zögerte. „Juda hatte doch nur eine Frau, oder?“

„Nur Batsuba.“

„Keine Konkubinen?“

„Keine.“ Die Milch der Ziege plätscherte in den Tonkrug. Tamar versuchte, sich ganz auf das Melken zu konzentrieren und nicht an die sanfte Hand ihrer Mutter zu denken. Sie hatte schon genug geweint.

„Der Mann sagte auch, dass Juda bald mit seinem Freund aus Adullam nach Timna gehen wird.“ Ihre Mutter ließ die Worte einen Augenblick in der Luft hängen, bevor sie hinzufügte: „Zum Schafschurfest, das jetzt bald beginnt, du weißt ja.“

Tamar sah zu ihr hoch. Die Spur eines Lächelns lag in den Augen ihrer Mutter. Sie ließ ihre Fingerspitzen wie eine stumme Aufforderung über Tamars Schulter hinabgleiten und ging dann fort.

Tamar fuhr mit dem Melken fort. Ihr Kopf arbeitete fieberhaft. Mochte Juda hundertmal keine Lust haben, sein Versprechen zu halten – sie hatte immer noch ihre Rechte. Nach der Sitte ihres Stammes war Juda selbst verpflichtet, ihr einen Sohn zu schenken, wenn er nicht Schela mit ihr schlafen ließ.

Seine Frau war tot, und Juda hatte nichts Dringenderes zu tun, als zum Schafschurfest nach Timna zu gehen … Der gerechte Zorn stieg in Tamar hoch. Sie konnte sich gut vorstellen, was ihr Schwiegervater in Timna machen würde. Die Stadt war das Zentrum des Handels und des Astarte-Kultes. Es gab dort Dutzende von Huren, die bereit waren, ihren Körper für einen Bissen Brot und einen Becher Wein zu verkaufen. Das konnte leicht Tamars eigenes Schicksal werden, falls ihr Vater sie aus dem Haus warf.

Nein, sie durfte nicht länger dasitzen und darauf warten, dass Juda ein Versprechen einlöste, das er nie ernst gemeint hatte. Wenn sie nicht bald etwas tat, würde Juda sich seinen Gelüsten hingeben und den Samen, der von Rechts wegen ihr zustand, an die erstbeste Prostituierte in Timna verschwenden.

Sie biss sich auf die Unterlippe. Was sollte sie tun? Weiter keusch darauf warten, dass Juda ihr ihr Recht gewährte – aber jetzt wusste sie, dass er es nie tun würde. Oder sie konnte die Sache selbst in die Hand nehmen. Sie konnte … Jawohl, sie konnte sich als Hure verkleiden und an die Straße setzen, auf der Juda in die Stadt kommen musste. Schela hatte sie nicht mehr erkannt; warum sollte es Juda tun?

Sie trug den Milchkrug ins Haus, wo ihre Mutter dabei war, den neuen Schleier für ihre Schwester fertig zu besticken. Sie setzte den Krug ab und schaute auf den Schleier. Was, wenn sie einfach die Kleider ihrer Schwester anzog?

„Das ist der schönste Schleier, den ich je genäht habe.“ Ihre Mutter biss den Faden ab. „So. Fertig.“ Sie hielt ihr Werk hoch.

Tamar nahm den Schleier und ließ ihn vorsichtig über ihre Hand gleiten. „Er ist sehr schön.“

„Schau dir das Kleid an.“ Ihre Mutter nahm das Gewand und hielt es ihr hin. „Ich habe alles gemacht, was deine Schwester braucht: Stirnband, Schleier, Kleid, Schärpe, Fußschellen und Sandalen.“ Sie drehte sich zu Tamar hin. „Der Schleier war das letzte Stück.“

Sie streckte ihren Arm aus, und Tamar legte den Schleier vorsichtig darüber. Sie sah, dass die Hände ihrer Mutter zitterten, als sie den Schleier sorgfältig zusammenlegte und in den Korb legte. „In zwei Tagen will dein Vater deiner Schwester die Sachen schicken. Sie braucht sie rechtzeitig zum Fest.“

Ahnte ihre Mutter etwas von dem Plan, der gerade in ihrem Kopf Gestalt annahm? „Ich arbeite morgen auf den Feldern, Mutter. Ich komme vielleicht erst spät heim.“

Ihre Mutter erhob sich nicht, sah sie auch nicht an. „Zur Wegkreuzung bei Enajim sind es drei Stunden Fußweg. Du musst vor Sonnenaufgang losgehen.“

Tamars Herz hüpfte. Sie sagte nichts.

Ihre Mutter neigte ihren Kopf. „Wenn Juda dich erkennt, wird er dich töten. Das weißt du, nicht wahr?“

„Wenn ich sterbe, sterbe ich.“

„Schela hat nicht viel im Kopf; ihn könntest du leichter überlisten.“

„Vielleicht, Mutter. Aber ich will nicht noch einen Schakal. Diesmal will ich den Löwen.“

zwei_Aehren.eps

Die Öllampe brannte noch, als Tamar aufstand. Ihre Mutter wusste genau, wie viel Öl nötig war, damit die Lampe die ganze Nacht brannte. Bald würde sie zu flackern beginnen und ausgehen, pünktlich zum ersten grauen Lichtschein der Morgendämmerung. Tamar schlich auf Zehenspitzen durch das Zimmer und nahm den Korb mit den Kleidern ihrer Schwester. Dann ging sie hinaus.

Draußen ließen die ersten Sonnenstrahlen die Sterne am Himmel verblassen. Tamar ging rasch über die Felder ihres Vaters und erreichte bald die Hügel. Die Sonne stand hoch am Himmel und die Erde war warm, als sie die Wegkreuzung von Enajim erreichte. Sie ging geradewegs in den Olivenhain. Als sie sicher war, dass niemand sie von der Straße aus sehen konnte, streifte sie ihr Witwenkleid ab und legte die Kleider und den Schmuck an, die ihre Mutter für ihre Schwester gemacht hatte. Sie löste ihr Haar und kämmte mit den Fingern durch ihre langen, dicken schwarzen Locken. Die kleinen Schellen um ihre Fesseln klingelten leise, als sie ihren schwarzen Witwenumhang in den Korb stopfte und diesen hinter einem Baum versteckte.