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Lisa-Marie Hartung

Secrets

Das zweite Geheimnis Lilli & Valentin

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© 2017 Lisa-Marie Hartung

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback: 978-3-7345-8690-3
Hardcover: 978-3-7345-8691-0
e-Book: 978-3-7345-8692-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Was das Herz verlangt, kann man weder beeinflussen, noch kontrollieren.

Man kann es nur zulassen oder daran zugrunde gehen.

Prolog

Lilli war diese Schule gleich komisch vorgekommen. Doch um ihr Geheimnis herauszufinden, hatte sie fast drei Jahre gebraucht.

Doch von vorne.

Lilli Adams war schon immer klein gewesen.

Sie kannte jeden blöden Spruch, den man dazu sagen konnte auswendig und sie hasste es.

Was zur Hölle war so schlimm daran, klein zu sein?

Sie trug keine hohen Hacken in dem verzweifelten Bemühen, groß zu sein.

Lilli hatte sich mit ihrer geringen Größe abgefunden. Doch dann trat Valentin Wright in ihr Leben.

Ihre Eltern waren umgezogen, damit ihr Vater einen besseren Job annehmen konnte.

Sie brauchten angeblich das Geld.

Klar, als ob sie ihnen das glaubte!

Ihre Eltern zogen nur um, damit ihr Vater nicht zugeben musste, dass er gefeuert worden war. Sie hatte den Brief gesehen.

Tja, jetzt waren sie in eine neue Stadt gezogen mit neuen Nachbarn. Doch ihr konnte das egal sein, immerhin schickten ihre Eltern sie auf ein Internat.

Dort hätte sie es besser und es wäre viel, viel zivilisierter.

Klar, wer`s glaubt.

Doch Lilli hatte aufgehört, sich über ihre Eltern aufzuregen.

Also war sie am Sonntag brav ins Auto gestiegen, um mit ihnen die dreistündige Fahrt anzutreten.

Sie konnte sich jetzt schon die ersten Sprüche vorstellen, die sie zu hören bekommen würde.

Ja, sie war klein und süß und ihr Charakter war auch lieb und hilfsbereit. Doch sie konnte auch anders.

Nur schien das nie jemandem aufzufallen. Alle sahen immer nur das kleine Mädchen.

Lilli sah sich während der Fahrt Videos auf ihrem Handy an. Angeblich sollten auf dem kompletten Schulgelände Handys erlaubt sein. Man lebte in Häusern mit je vier Wohnungen. Jeder hatte seine eigene Wohnung.

Das klang ja schon mal nicht schlecht.

Allerdings hatten es die Unterrichtszeiten in sich. Diese waren nicht etwa tagsüber, nein. Der Unterricht lief nachts ab. Tagsüber schlief man.

„Wo habt ihr die Schule denn gefunden?“, hatte Lilli sich erkundigt.

Ihre Eltern hatten etwas von einem Anschreiben erzählt. Tja, die nächsten Tage oder sollte sie eher Nächte sagen würden sehr interessant und anstrengend werden.

Lilli war ein überzeugter Morgenmuffel.

Morgens hatte sie immer ausnahmslos schlechte Laune. Sie wusste auch nicht woran das lag.

Insgesamt würde sie sechs Jahre lang auf diese Schule gehen müssen, um ihren Abschluss zu machen.

Angeblich war der auch ganz besonders, ein extra anerkannter, speziell zertifizierter Abschluss oder so. Sie hatte es sich nicht gemerkt.

Das erste, was Lilli auffiel als sie ankamen, war der Zaun und die Wachen. Es sah aus wie in einem Gefängnis.

„Das ist aber keine Militärschule?“, hatte sie gefragt. Ihre Eltern hatten gelacht und ihr den Kopf getätschelt. Es war so erniedrigend!

Sie war doch keine sechs mehr!

Seufzend hatte sie ihre Koffer geschnappt und war losgetrottet.

Die Wachen hatten ihre Ankunft beobachtet, taten aber diskret.

„Lilli Adams?“, hatte der eine gefragt.

„Ja, anwesend“, hatte sie gescherzt und gelächelt.

Der Wachmann hatte zurückgelächelt.

Er war ihr sofort sympathisch.

Nachdem er ihren Ausweis überprüft hatte, hatte er sie durchgewunken.

„Dann geh mal rein. Brauchst du Hilfe mit deinem Gepäck?“, hatte er gefragt.

Sie hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt, dass sie das schon schaffen würde.

Immerhin war sie ja schon groß.

Ha, ha, toller Witz, groß, pfh.

Lilli war zur Verwaltung gegangen, die zum Glück ausgeschildert war. Sie hatte so gut wie keinen Orientierungssinn.

Dort hatte sie ihre Anmeldung abgegeben und ihren Wohnungsschlüssel bekommen. Man sagte ihr, die Direktorin würde sie morgen über alles weitere informieren. Und so war sie hierher gekommen.

1

Ihr Wecker klingelte erbarmungslos. Lilli stöhnte und wälzte sich in ihrem Bett herum.

Sie stöhnte erneut, aber das interessierte ihren Wecker wenig. Mit geschlossenen Augen tastete sie nach dem blöden Ding. Natürlich erwischte sie ihn nicht, sondern fegte ihn aus dem Bett.

Brummend kroch sie unter der Decke hervor und machte ihn aus. Elf Uhr nachts.

Sie war hundemüde.

Gähnend ließ Lilli ihre Knochen knacken und lief zu ihren Koffern. Sie hatte nicht ausgepackt sondern war gestern gleich ins Bett gekrochen.

Gebracht hatte es nicht viel.

Nach einer heißen Dusche fühlte sie sich schon besser, aber ihre Laune war immer noch nicht die beste. Dazu kam, dass sie zunehmend nervös wurde.

Wie würden die anderen wohl auf sie reagieren? Würden sie sie mögen? Waren womöglich gut aussehende Jungs da?

Alles Fragen, die eine Antwort verlangten.

Also schnappte sie sich einen Apfel, der von gestern übrig war und machte sich auf den Weg.

Sie hätte eh nicht mehr hinunterbekommen.

Man hatte ihr gesagt, sie solle im Schulgebäude nach ganz oben, den Gang entlang nach hinten zur letzten Tür gehen.

Also tat sie genau das.

Wahrscheinlich wartete ihre Direktorin, Mrs. Ducan schon auf sie.

Lilli ließ sich etwas Zeit, um das Schulgebäude zu bestaunen. Es war riesig und ganz in Weiß- und Cremetönen gehalten. Trotz dieser schlichten Farben machte die Eingangshalle mächtig Eindruck.

Als Lilli allerdings die ersten neugierigen Blicke bemerkte, machte sie, dass sie zur Direktorin kam. Mit den anderen würde sie sich noch schnell genug auseinandersetzen müssen.

Unschlüssig stand sie wenige Minuten später vor einer massiven Eichentür. Sollte sie einfach klopfen?

Ihr wurde diese Frage abgenommen als ein Junge, komplett in schwarz gekleidet, aus dem Raum kam. Er sah auf sie hinab und lächelte.

„Viel Spaß mit dem Drachen“, murmelte er.

Lilli war kurz von den schwarzen Augen abgelenkt, riss sich dann aber wieder zusammen. Der hatte verdammt gut ausgesehen. Hoffentlich war er in ihrer Klasse.

Ein Blick in den Raum verriet ihr, dass die Direktorin hinter ihrem Schreibtisch saß und sich kurz an die Stirn fasste.

Lilli trat ein und schloss die Tür.

„Dieser Junge“, hörte sie die Direktorin murmeln, bevor sie sie bemerkte und sofort ihre Sorgen verbarg.

Sie schien etwa im mittleren Alter zu sein.

Sie hatte schwarze Haare, die sie streng nach hinten gebunden trug und starke, kraftvolle Augen.

„Du musst Lilli sein, setzt dich doch“, bot sie ihr einen Stuhl an. Nervös setzte sie sich vor den Schreibtisch, der ebenfalls aus Eichenholz gefertigt war. Formulare und Unterlagen türmten sich darauf. Der Sessel, in dem die Direktorin saß, stach klar heraus. Er war weinrot und so groß, dass man ihn gar nicht übersehen konnte, selbst wenn man gewollt hätte.

Die Wand dahinter war mit Bücherregalen verdeckt. An den anderen Wänden hingen mehrere Gemälde, die hauptsächlich das Anwesen zeigten. Doch eins zeigte einen jungen Mann. Er hatte rabenschwarzes Haar und sah mürrisch aus.

Das Zimmer hatte außerdem riesengroße Fenster, die fast eine komplette Wand einnahmen. Lilli war beeindruckt. Wenn das Sonnenlicht hier hereinfallen würde, würde das Zimmer wie ein altes Studierzimmer aussehen.

„Hast du dich gut eingelebt?“, fragte Mrs. Ducan sie und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. Sie hatte ein feines Lächeln aufgesetzt und wirkte freundlich. Lilli fühlte sich gleich wohl und entspannte sich.

„Na ja, ich hab erst einmal geschlafen. Die Schulzeiten sind doch etwas anders“, antwortete sie wahrheitsgemäß.

Mrs. Ducan lächelte wissend.

„Ja, da hast du recht, aber du wirst dich daran gewöhnen, das verspreche ich dir.“

Nach einigem Geplänkel kamen sie dann zu den offiziellen Sachen. Lilli bekam eine Kopie der Schulregeln, die sie unterschreiben musste.

Es waren insgesamt drei.

Sie stutzte.

 

Secrets

Schulregeln

1. Das Verlassen des Schulgeländes ist strengstens verboten. Der umliegende Wald ist nur mit Genehmigung zu betreten.

2. Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Klassen sind strengstens untersagt.

3. Streitigkeiten sind ruhig und ohne Gewalt auszutragen.

Zuwiderhandelnde werden augenblicklich der Schule verwiesen.

Was sollte die zweite Regel?

Sie konnte es sich nur so erklären, dass es vielleicht ethnische Gründe haben könnte.

Kaum hatte sie unterschrieben, nahm Mrs. Ducan ihr das Blatt auch schon wieder ab.

„So, deine Uniform wird dir in den nächsten Tagen in deine Wohnung gelegt werden. Deinen Stundenplan hast du?“

Lilli nickte.

„Gut, dann komm mal mit, ich bring dich zu deiner neuen Klasse.“

Wortlos folgte Lilli ihr und bestaunte erneut das Gebäude. Es war einfach so groß!

Viel zu schnell standen sie vor einer Klassentür und ihr Herz fing an zu rasen. Ihre Hände wurden feucht und ihr Mund trocken. Jetzt kam es darauf an, gut aufzutreten.

„Keine Angst, sie werden dich schon nicht fressen“, grinste Mrs. Ducan und das hätte sie eigentlich warnen sollen. Sie öffnete die Tür und Lilli hielt den Atem an.

Valentin sah den Zwillingen dabei zu, wie sie sich wegen einer Matheaufgabe stritten. Die beiden waren so unterschiedlich, dass man nicht hätte meinen können, dass sie tatsächlich Zwillinge waren.

Sie waren entfernte Cousins von ihm, aber nicht nur deswegen hatte er sie ins Herz geschlossen.

Sie waren einfach so lebensfroh und lustig, dass man über ihre Frechheiten und Streiche nie lange böse sein konnte.

Mittlerweile waren sie schon fast zwei Wochen hier. Secrets.

Eine Spezialschule für Wesen aus einer anderen Welt. Hier lernte man mit Menschen umzugehen und sein inneres Tier zu beherrschen.

Heute würde ihr Mensch endlich eintreffen. Die anderen Klassen hatten schon alle einen bekommen und die Vampire sogar schon einen verloren. Sie taten sich besonders schwer ihre animalische Seite zu bändigen.

Lilli Adams.

Der Name verriet so gut wie nichts über die Person, die dahinter stand. Doch Valentin hatte ein gutes Gefühl.

Die Klasse wurde unruhig als ein unbekannter Geruch zu ihnen schwebte.

Orangen, mit einer Spur Zimt.

Die Neue.

Gespannt hielt die ganze Klasse inne, auch ihr Klassenlehrer Mr. Jones, den alle Jeff nennen durften, hielt in seiner Erklärung inne und sah zur Tür.

„Sie kommt“, meinte einer der Zwillinge.

Erwartungsvolle Stille breitete sich in der Klasse aus und alle Augen waren auf die Tür gerichtet.

Eine Weile geschah nichts, aber Valentin konnte die Nervosität der Neuen praktisch spüren.

Dann endlich ging die Tür auf und Mrs. Ducan trat herein. Hinter ihr schlüpfte ein Mädchen in den Raum.

Alle hielten den Atem an, dann trat ihre neue Klassenkameradin hinter Mrs. Ducan hervor.

Es schien fast so, als ob jeder die Luft gleichzeitig wieder hinaus stieß.

„Die ist voll süß!“, meinte der andere der Zwillinge und Gelächter ging durch die Klasse.

Valentin hatte die Augen die ganze Zeit auf der Neuen. Sie strahlte etwas aus, was seine Aufmerksamkeit erregte. Dabei war sie ganz normal gekleidet. Jeans, Shirt und Sneakers. Nichts Besonders. Und doch war da etwas.

Tief sog er ihren Geruch ein und prägte ihn sich ein.

Er merkte, dass die Neue vermied in die Klasse zu sehen und nur Mr. Jones ansah, während er ihr eine kleine Einweisung gab.

Sie war klein, hatte karamellfarbenes Haar und war so komplett anders, als er erwartete hatte.

Sie trug weder hohe Schuhe, noch versuchte sie mit viel Make-up von ihrer geringen Körpergröße ablenken zu wollen.

Sie übte eine Faszination auf ihn aus, die er nicht beschreiben konnte. Das Tier in ihm war unruhig und fixierte sie, nahm jede ihrer Bewegungen wahr.

Sie strich sich nervös das Haar hinters Ohr.

„So, wo soll Lilli denn sitzen?“, wandte Mr. Jones sich an die Klasse.

Das war der Moment, in dem sie in die Klasse sah.

Valentin hielt kurz den Atem an und seine Augen weiteten sich.

Sie hatte champagnerfarbene Augen, sehr große Augen. Lilli sah aus wie eine Puppe.

Die ganze Klasse starrte sie an und ein Raunen ging durch den Raum.

Die Zwillinge neben ihm unterhielten sich angeregt und gestikulierten wild mit den Armen. Dann hatten sie anscheinend eine Entscheidung getroffen, denn Rou rutschte einen Platz weiter und Hakuro ergriff das Wort.

„Sie kann hier sitzen!“, rief er und grinste sie breit an. Schüchtern lächelte sie zurück.

Der männliche Anteil der Klasse seufzte bei diesem Anblick.

„Na, dann setz dich mal“, lächelte Mr. Jones.

Lilli spürte, wie alle Blicke auf ihr lagen, als sie durch den Mittelgang nach hinten zu ihrem neuen Platz ging.

Das Schlimmste was hätte passieren können war eingetroffen. Es waren nicht nur ein paar gut aussehende Jungs in ihrer Klasse, nein, sie bestand praktisch nur aus ihnen. Sie hatte nur zwei weitere Mädchen gesehen.

Tapfer lächelte sie die beiden an, die sie unbedingt zwischen sich sitzen haben wollten. Sie sahen sich auf eine gewisse Art und Weise ähnlich, waren aber doch grundverschieden. Der eine hatte blonde, kurze Haare und wirkte wie ein frecher kleiner Junge. Der andere hatte dunkle, lange Haare, die ihm weit über den Rücken reichten und mit einem Band zusammengehalten wurden.

Auch er wirkte frech, schien aber etwas ernster zu sein. Beide hatten unglaublich blaue Augen und trugen Lederjacken. Irgendwie schienen hier alle Leder zu tragen.

Lilli fühlte sich nicht sehr wohl zwischen zwei Jungs zu sitzen. Neben zwei Mädchen oder am Rand wäre es ihr lieber gewesen.

„Gut, dann lasst Lilli mal mit ins Buch schauen und rechnet weiter. Später werdet ihr noch genug Gelegenheit haben euch zu beschnuppern.“

Ein Kichern lief durch die Klasse. Was war daran so lustig?

Grinsend schob ihr der Blonde sein Buch zu, damit sie mit hineinsehen konnte.

Sie lächelte ihn dankend an und sein Grinsen wurde breiter. Irgendwie fühlte sie sich etwas fehl am Platz. Ihre Nervosität hatte sich zwar etwas gelegt, aber ihr Herz schlug immer noch viel zu schnell.

Erleichtert sah sie, dass sie das Thema schon in ihrer alten Schule behandelt hatte und machte sich daran, die Aufgaben zu lösen.

Nach einer Weile spürte sie einen Blick auf sich und sah auf.

Der Junge neben ihr starrte sie überrascht an und auch sein dunkelhaariges Double hatte eine Augenbraue hochgezogen.

„Was denn?“, murmelte sie, als sie auch den Blick der anderen auf sich fühlte.

„Du verstehst das?“, erkundigte sich der Blonde.

„Ja?“

Was war denn los?

Verwirrt sah sie zu ihrem Lehrer. Er hatte ihr angeboten, ihn einfach Jeff zu nennen.

Er schien auch etwas überrascht zu sein.

„Sag mir doch bitte mal deine Ergebnisse von Aufgabe vier“, bat er dann.

Immer noch verwirrt tat sie es.

„Alles richtig“, meinte Jeff lächelnd und schlug sein Buch zu.

„Na, ich denke du wirst dir noch eine goldene Nase mit Nachhilfeunterricht verdienen“, meinte er dann.

Hä?

„Wir sind alle grottenschlecht in Mathe“, klärte sie ihr blonder Sitznachbar auf.

„Ja und du bist der Schlimmste“, lachte der Dunkelhaarige.

„Stimmt doch gar nicht!“, protestierte er.

Ihr Wortwechsel wurde durch die Klingel unterbrochen. „So, dann seit nett zu Lilli“, entließ Jeff sie.

Sofort standen alle rund um ihren Tisch und stürmten mit Fragen auf sie ein.

„Immer langsam!“, rief der Blonde neben ihr.

„Ich bin übrigens Rou“, stellte er sich vor und reichte ihr höflich die Hand.

Sie schüttelte sie verwirrt.

„Und das ist mein allerliebster Lieblingsbruder Hakuro“, wies er auf den Dunkelhaarigen neben ihr.

Dieser lächelte und nickte ihr freundlich zu.

„Seid ihr …“, fing sie an.

„Ja, Zwillinge“, bestätigte Hakuro.

Und doch so verschieden.

„Was für ein Shampoo benutzt du für deine Haare, dass sie so glänzen?“, fragte ein Mädchen sie plötzlich.

Lilli war irritiert.

„Shampoo?“, antwortete sie aber es klang eher wie eine Frage. Was sollte man denn sonst zum Haare waschen nehmen? Zahnpasta?

„Wie groß bist du?“, fragte ein anderer.

„Magst du Tiere?“, ein Zweiter.

Und noch dutzende andere Fragen prasselten auf sie ein. „Jetzt lasst ihr doch mal Luft zum Atmen“, erklang da eine tiefe, männliche Stimme zu ihrer Rechten.

Diese Stimme ging ihr durch Mark und Bein.

Lilli drehte den Kopf und sah in grüne Augen.

Ihr stockte der Atem.

Er hatte kastanienbraunes Haar, das ihm bis zum Kinn reichte, eine hohe Stirn und ein starkes Kinn.

Diese Augen. Sie nahmen sie regelrecht gefangen. Sie waren so wild und leuchtend, dabei aber sanft und beschützend. Lilli bekam eine Gänsehaut und das war der Moment, in dem sie sich in ihn verliebte.

Wie, als wäre es ein Befehl gewesen, rückten die anderen einer nach dem anderen ab.

„Das ist Valentin“, klärte Rou sie auf.

Lilli wandte sich ihm wieder zu, bemerkte aber den prüfenden Blick seines Zwillings.

Sie nickte nur und kam sich leicht überfordert vor.

„Dann lass uns mal zu Deutsch gehen“, meinte Rou und zog sie von ihrem Stuhl.

Über die Schulter hinweg warf sie Valentin noch einen Blick zu. Ihre Blicke trafen sich und Lilli fühlte sich wie in einer anderen Welt.

Dann ging die Tür hinter ihr zu.

2

„Sind eure Namen eigentlich chinesisch oder so?“, erkundigte sich Lilli in der Pause.

Rou lachte.

„Japanisch, nicht chinesisch“, meinte er dann.

„Haben sie auch eine bestimmte Bedeutung?“

Hakuro nickte.

„Rou bedeutet Wolf und Hakuro weißer Wolf“, meinte er und biss einen riesen Bissen von seinem Sandwich ab.

Also hieß er weißer Wolf, dabei waren seine Haare dunkel.

Wie gesagt, die beiden waren grundverschieden.

Also waren sie die beiden Wolfsbrüder.

„Wie groß bist du eigentlich?“, hakte Rou nach.

Lilli seufzte und sah auf ihr Croissant.

„Eins sechsundfünfzig“, murmelte sie.

Sie hasste es so klein zu sein.

Rou lachte.

„Du bist echt winzig“, meinte er und stieß sie spielerisch mit dem Ellbogen an.

„Und ihr? Ihr seid doch bestimmt zwei Meter oder so“, lenkte sie ab.

Hakuro prustete los.

„Nee, wir sind komplett durchschnittlich, eins sechsundsiebzig.“

Ja, total durchschnittlich. Für Riesen vielleicht.

„Valentin ist fast zwei Meter groß“, überlegte Rou.

Valentin.

Wieder sah sie diese Augen.

Und wieder lief es ihr kalt den Rücken runter.

Irgendwie bekam sie ihn nicht mehr aus dem Kopf.

„Und? Welchem Klub willst du beitreten?“

Lilli überlegte. Irgendwie sprach sie keiner der Klubs an. Sie war weder sehr sportlich, noch konnte sie besonders gut malen oder ein Instrument spielen.

„Muss man denn irgendwo mit drin sein?“

„Nein, es soll nur das Gemeinschaftsgefühl stärken. Aber es ist nicht verpflichtend.“

Gut, dann würde sie einfach mitgliedslos bleiben.

„Seid ihr denn irgendwo drin?“

Rou grinste.

„Klar, ich bin im Basketballteam und Hakuro hier malt, genauso wie Valentin.“

So so, völlig verschieden die beiden.

Moment mal.

Valentin malte?

Das schien so gar nicht zu ihm zu passen. Sie hätte ihn eher bei einem Mannschaftssport erwartet oder beim Boxen. Er war einfach so groß und muskulös.

Malen … passte nicht.

„Was hast du denn heute noch so vor, wenn du keinem Klub beitreten willst?“

Lilli seufzte. Sie hatte noch mehr als genug zu tun.

„Auspacken und schlafen“, lächelte sie und sehnte sich nach einem Bett.

„Na dann, wenn du Hilfe brauchst, ruf uns an, wir kommen sofort“, sagte Rou und sprang von der Mauer, auf der sie saßen.

„Mach ich“, versprach Lilli und wollte auch von der Mauer springen, aber sie war doch recht hoch.

Vorhin hatte Hakuro sie hinaufgehoben.

Hilfe suchend sah sie nach unten und zögerte. Sie hatte sich bei einer ähnlichen Aktion mal schwer den Knöchel verknackst.

„Ich helf dir“, bot Hakuro an und schon hatte er sie hochgehoben.

Lilli keuchte, als er mit ihr in den Armen von der Mauer sprang.

Ehe sie sich versah, hatte sie schon wieder festen Boden unter den Füßen.

„Danke“, bedankte sie sich.

„Keine Ursache“, lächelte Hakuro.

Er hatte ein schönes Lächeln, es war ansteckend.

Seine blauen Augen sahen immer fröhlich aus.

Lilli verabschiedete sich und machte sich auf den Weg in ihre Wohnung.

Schon jetzt wusste sie, dass sie lange brauchen würde. Immerhin hatte sie fast all ihre Bücher mitgenommen. Na gut, sie hatte alle mitgenommen.

Lilli liebte es zu lesen und dies hatte sich ein bisschen zu einer Sucht entwickelt.

Aber sie weigerte sich standhaft das zuzugeben.

Sie spürte, dass sie jemand beobachtete und drehte sich um.

Grüne Augen sahen in ihre.

Valentin stand gute zwanzig Meter entfernt bei anderen aus ihrer Klasse und unterhielt sich mit ihnen, aber sein Blick war auf sie gerichtet.

Lilli sah, wie die Zwillinge zu der Gruppe stießen und Rou sich auf Valentin schmiss. Er boxte ihn freundschaftlich auf den Arm.

Sie waren entfernte Verwandte, das hatten sie ihr gesagt. Sie schienen sich gut zu verstehen.

Da bemerkte Rou sie und stieß Hakuro in die Seite und wies mit dem Kinn auf sie.

Hakuro sah in ihre Richtung und sofort blitzte ein Lächeln auf.

Rou winkte ihr zu und auch sie hob die Hand, bevor sie sich wieder umdrehte und zu ihrer Wohnung ging.

Valentins Blick spürte sie immer noch in ihrem Rücken. Kopfschüttelnd ging sie davon.

Valentin konnte seinen Blick einfach nicht von ihr lassen. „Ich weiß, warum sie ausgerechnet sie ausgewählt haben“, meinte Rou neunmalklug.

„Ach ja?“, fragte er abwesend. Gerade bog Lilli um eine Ecke und verschwand so aus seinem Blickfeld.

„Sie ist so süß und klein, dass es sofort den Beschützerinstinkt in einem weckt“, verkündete Rou, stolz darauf, es als erster herausgefunden zu haben.

Valentin wandte sich wieder den anderen zu und merkte sofort, dass Hakuro ihn prüfend ansah.

Dieser Kerl merkte immer alles!

„Na, dann dürfte es ja keine Probleme geben“, verabschiedete er sich.

Seine Füße führten ihn geradewegs zu ihrer Wohnung.

Er hielt inne und lauschte.

Man hörte sie im Inneren herumhantieren.

Als er gegen die Tür drückte, schwang sie auf geölten Schienen auf.

Nicht abgeschlossen.

Fahrlässig.

Leise trat er ein und schloss die Tür hinter sich.

Obwohl sie erst knapp einen Tag hier war, hatte die Wohnung schon ihren Geruch angenommen.

Orange mit Zimt.

Er atmete tief ein.

Seine Augen schlossen sich und seine Schultern sackten nach unten.

Dieser Geruch.

Kopfschüttelnd riss er sich zusammen und ging durch den Flur in den Wohnbereich. Dieser war wie in allen anderen Wohnungen auch mit den üblichen Möbelstücken ausgestattet. Sofa, Kommode, Fernseher, Esstisch und ein paar Bilder.

Zudem hingen einige Regale an den Wänden. Davor kniete Lilli und beförderte gerade einen riesigen Stapel Bücher aus einem Koffer auf ein Regalbrett. Ein Blick zeigte ihm, dass der ganze Koffer mit Büchern gefüllt war.

„Du musst sehr gut in Tetris sein“, meinte er. Lilli zuckte erschrocken zusammen und ihr Griff um die Bücher löste sich. Sie rutschten ihr aus den Händen.

Oh nein! Sie würden Dellen bekommen und verknicken. Lilli hasste es, wenn ihre Bücher ramponiert aussahen.

Vor allem Leserillen. Am liebsten war es ihr, wenn ihre Bücher auch nach dem zehnten Mal lesen immer noch wie neu aussahen. Das konnte sie sich jetzt abschminken. Doch kurz bevor die Bücher auf den Boden trafen, schnellte eine große Hand hervor und fing sie auf.

Lilli sah auf und begegnete Valentins Blick.

„Du scheinst Bücher ja echt zu lieben“, meinte er und stellte sie ins Regal.

Wie war der denn hier rein gekommen?

„Was dagegen?“, schnauzte sie und stand auf. Sie hasste es, wenn sich Leute an sie heranschlichen.

„Keines Wegs, Prinzessin“, sagte er und hob beschwichtigend die Hände.

„Vielleicht bist du deswegen so klein, weil du nicht oft genug in der Sonne warst und dich stattdessen in deinen Büchern vergraben hast“, scherzte er.

Der Scherz kam nicht sonderlich gut an. Wenn Lilli etwas mehr hasste als wenn man sich anschlich, dann waren es Bemerkungen über ihre Größe.

Sie würde noch wachsen, verdammt noch mal!

Sie war halt ein Spätzünder. Konnte sie doch nichts für!

„Ich bin nur so klein, weil mein Herz so groß ist!“,

schnauzte sie. War das ein Blitzen in seinen Augen gewesen?

Wütend funkelte sie ihn von unten an. Er lächelte belustigt.

„Jetzt mal im Ernst. Du bist so klein, dich könnte man einfach unter den Arm klemmen und mitnehmen“, kicherte er.

Sie stöhnte genervt und beschloss ihn zu ignorieren.

„Sollen wir es mal ausprobieren?“

Wütend fuhr sie herum.

„Wag es ja nicht!“, fauchte sie.

Doch da hatte er sie schon hochgehoben und sie wie einen Basketball unter den Arm geklemmt.

„Lass mich sofort runter!“

Sein Geruch wehte ihr in die Nase. Er roch nach Wald und Regen, eine tolle Kombination. Sie liebte den Wald.

„Gleich Prinzessin, alles mit der Zeit“, kicherte er und ging mit ihr aus ihrer Wohnung.

Wieso nannte er sie Prinzessin? Und wohin zur Hölle brachte er sie?

„Valentin!“, drohte sie. Er hielt kurz inne und sie hoffte schon, dass er sie absetzen würde, doch er ging einfach weiter.

Seinen Namen aus ihrem Mund zu hören, hatte sein Tier angefacht. Er wusste nicht, was mit ihm los war.

Seit Lilli Adams in sein Leben getreten war, verhielt er sich keineswegs so, wie sonst.

Valentin beschleunigte seine Schritte. Ihr Geruch wehte ihm in die Nase und sein Tier hätte am liebsten laut gebrüllt.

Da hatten sie zum Glück ihr Ziel erreicht.

„Viel Spaß, Prinzessin“, murmelte er und gab ihr einen kleinen Schubs, damit sie durch die Tür trat.

3

Lilli stolperte nach vorne und konnte sich gerade noch so halten. Als sie aufsah und sich die Haare aus dem Gesicht wischte, war sie baff.

Sie befand sich wohl im Gemeinschaftsraum. Doch es war niemand aus den anderen Klassen da, sondern nur ihre.

Doch was sie eigentlich so überraschte war, dass der ganze Raum geschmückt war. In quietschpink.

„Herzlich Willkommen!“, riefen alle.

Lauter Jungs in Ledersachen in einem pinken Raum. Es war einfach zum Schießen. Sie lachte so lange, bis sie nicht mehr konnte und ihr Tränen in den Augen standen. „Warum Pink?“, brachte sie heraus, als sie wieder etwas Luft bekam.

„Weil du ein Mädchen bist, die stehen doch auf Pink“, lachte Rou und bot ihr ein Glas mit unbekannter Flüssigkeit an. Sie nahm es dankend an.

Es stellte sich heraus, dass es Bowle oder so war. Auf jeden Fall war reichlich Alkohol vorhanden.

„Ich steh nicht auf Pink. Ich bin vielleicht ein Mädchen, aber nicht so ein Mädchen“, lachte sie.

Hakuro trat zu ihnen.

„Auf welche Farbe stehst du denn dann?“

Da musste Lilli nicht lange überlegen.

„Grün“, antwortete sie wahrheitsgemäß. Hakuros Blick flog über sie hinweg. Lilli drehte sich um und sah in moosgrüne Tiefen.

Valentin sah sie an. Sein Gesichtsausdruck war undeutbar.

Verwirrt nahm sie einen weiteren Schluck der Bowle. Irgendwie fühlte sie sich unbehaglich.

Und so war sie offiziell in ihrer Klasse aufgenommen. Sie nahmen sie mit offenen Armen in ihr Rudel auf und behandelten sie wie eine kleine Schwester. Lilli hatte keine Ahnung, was sie noch erwarten würde oder welches Geheimnis sie verbargen.

Sie hatte keine Ahnung, ob die Lehrkräfte wussten, was hier abging aber sie beschloss es zu genießen.

Die Bowle machte sie locker und entspannte sie.

Die Tatsache, dass sie hier eigentlich kaum jemanden näher kannte, verschwand.

Lilli grölte mit, als Rou und Hakuro ein Wettsaufen veranstalteten und spielte sogar beim Flaschendrehen mit.

Dieses war eine etwas abgemilderte Form. Man konnte wählen, ob man die Person, auf die die Flasche zeigte, küsste oder ihr eine Aufgabe stellte.

Irgendwie war bei ihr der Wurm drin. Egal wie fest oder leicht sie die Flasche anstieß, immer zeigte sie auf Valentin.

„Wenn das nicht ein Zeichen ist“, meinte Rou nach dem fünften Mal.

Lilli war am Verzweifeln. Am Anfang hatte Valentin noch gegrinst, aber jetzt war seine Miene undeutbar geworden. War er wütend?

Aber sie konnte doch selbst nichts dafür!

Sie entschloss sich, ihn etwas zeichnen zu lassen, immerhin war er ja im Kunstkurs.

Valentin sah sie eine Weile intensiv an und sie dachte schon, er würde es nicht machen, doch dann zauberte er aus irgendeiner Tasche seiner Jacke einen Stift und einen kleinen Notizblock. Wenige Sekunden später hatte sie eine perfekte Zeichnung von sich selbst in den Händen. Lilli fiel die Kinnlade runter.

Die war echt gut!

„Ich steig aus“, meine Valentin und machte sich auf den Weg zur Bowle.

Toll, jetzt hatte er schlechte Laune, nur wegen ihr. Dabei machte sie das doch alles nicht mit Absicht!

Die nächste Runde war witzig, weil Rou eine ihrer Klassenkameradinnen küsste. Sie hatte die Wange angegeben, doch er schmatzte ihr einfach einen großen Kuss auf die Lippen.

Alle grölten los und die Betroffene wurde rot.

„Wenn schon, denn schon!“, rief Rou nur. Hakuro stieß ihn in die Seite, doch auch er grinste.

Viel zu schnell war die Reihe wieder an ihr.

Gespannt, wen sie jetzt treffen würde, drehte sie die Flasche. Sie blieb zwischen zwei Jungs stehen.

„Aus“, meinte Rou traurig.

„Nicht ganz!“, protestierte Hakuro und wies zwischen den Jungs auf … den Tisch mit der Bowle.

Lilli konnte es nicht fassen.

Die blöde Flasche zeigte doch tatsächlich schon wieder auf Valentin!

„Sag mal, hast du nen Magneten im Arsch oder was?“, fragte einer der Jungs.

Valentin lachte.

„Nicht dass ich wüsste.“

„Seit wann ist Glas magnetisch?“, konnte Lilli Hakuro murmeln hören.

Sie wurde nervös und fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Was war nur mit dieser blöden Flasche los?

Verunsichert sah sie zu Valentin. Dieser hatte seinen Blick fest auf sie gerichtet.

Lilli schluckte.

„Versuch es noch mal“, meinte Rou. Lilli widerstrebte es dieses Phänomen weiter zu ergründen, aber sie war auch neugierig. Also drehte sie die Flasche erneut. Wage nahm sie wahr, dass Valentin sich bewegte.

Gespannt folgte sie der Flasche mit den Augen. Als sie stehen blieb sah sie nach oben.

Grüne Augen bohrten sich in ihre.

Verzweifelt drehte sie die Falsche erneut und wieder zeigte sie auf Valentin.

Er wusste, dass sie das nicht mit Absicht machte, aber es verwirrte ihn. Wie zum Teufel konnte die Flasche immer ihn treffen? Und immer nur, wenn sie an der Reihe war? Valentin beobachtete sie genau, doch nichts wies auf einen Trick hin, nichts auf irgendeine Taktik ihrerseits.

„Na, was nimmst du? Küssen oder Aufgabe?“, erlöste Rou sie nach einer Weile.

Nervös sah sie ihn an. Er konnte ihre Gefühle an ihren Augen ablesen.

„Küssen, würde ich sagen, das muss doch ein Zeichen sein!“, meinte einer. Andere stimmten mit ein, bis alle

„küssen, küssen!“, riefen.

Lilli sah sich unbehaglich um. Er konnte ihre Nervosität praktisch riechen. Sie strich sich die Haare zurück und sah überall im Raum umher, nur um ihn nicht ansehen zu müssen.

Scheu wie ein Reh.

Er lächelte und setzte sich in Bewegung. Neben ihr blieb er stehen und hielt ihr eine Hand hin.

Sie sah zu ihm auf und diese großen Augen trafen auf ihn. Erneut rührte sich sein Tier und wollte losbrüllen. Valentin lächelte aufmunternd und da ergriff sie seine Hand und ließ sich von ihm hochziehen.

Angespannt stand sie nun neben ihm und sah ihn immer noch nicht an.

Er drückte ihre Hand, damit sie ihn ansah.

Ihre Augen trafen sich. Er las Unsicherheit und … Angst? Konnte es sein, dass dies ihr erster Kuss war?

Die anderen forderten sie immer lauter auf sich zu küssen.

Ihr Blick huschte umher, als suche sie einen Ausweg, einen Fluchtweg.

Sein Raubtier sprach darauf sofort an.

Nur mit Mühe konnte er es zügeln.

Als sie ihn schließlich wieder ansah, blitzte etwas in ihren Augen auf.

Entschlossenheit.

Gespannt verfolgte er ihr Mienenspiel.

Schließlich beugte sie sich vor.

Tief sog er ihren Orangenduft ein und hielt die Luft an. Sie zögerte kurz, kam seinem Gesicht aber immer näher.

Erneuter Blickkontakt. Feste Entschlossenheit in ihren Augen.

Dann drehte sie ihren Kopf und kam seinen Lippen immer näher.

Er beugte sich tief hinunter, damit sie ihn erreichen konnte.

Valentin erwartete schon ihre Lippen auf seinen zu fühlen.

Kurz bevor sie sich trafen, drehte sie den Kopf leicht und küsste ihn federleicht auf die Wange.

Viele stöhnten enttäuscht, manche buhten sogar.

„Ihr habt nicht gesagt, wohin ich ihn küssen soll“, rechtfertigte sie ihr Tun und hob beschwichtigend die Hände.

„Schlaues Ding, das merk ich mir!“, lachte Rou.

Lilli zwinkerte ihm zu.

Valentin beobachtete sie mit Argusaugen. Sie hatte ihn reingelegt!

Jetzt war sein Jagdinstinkt geweckt.

Er würde nicht eher ruhen, bevor er sich seinen Kuss erobert hatte.

Lilli spürte genau, dass er sie beobachtete, ließ sich aber nichts anmerken und stieg schließlich auch aus.

Sie war heilfroh, dass ihr die Idee gekommen war.

Mit zittrigen Knien lief sie zur Tür und entschuldigte sich kurz.

Sie war ihm so nah gewesen.

So nah würde sie ihm nie wieder kommen.

Nachdenklich berührte sie ihre Lippen.

Wie es wohl gewesen wäre?

4

Lilli beäugte die Tasche misstrauisch. Na ja, eigentlich beäugte sie deren Inhalt skeptisch.

Es war ihre Schuluniform aber irgendwie konnte sie nur Leder ausmachen.

Ihr war schon aufgefallen, dass die Klassen alle ihren eigenen Stil hatten, aber sie war davon ausgegangen, dass dieser von ihnen selbst kam.

Doch es sah ganz so aus, als wäre die Schule selbst dafür verantwortlich.

Skeptisch zog Lilli alle Teile einzeln aus der Tasche.

Eine Lederjacke, ein Ledertop, eine Lederhose und Rock, dazu Lederstiefel. Der Uniform zugutehalten musste man, dass es auch ein ganz normales Top mit spitzenbesetztem Ausschnitt gab.

Ganz ehrlich, so würde sie nie vor die Tür gehen, nicht mal wenn sie dafür Geld bekäme.

Die Lederjacke und die Schuhe gingen ja noch und das normale Top war ganz süß, aber den Rock, die Hose und das andere Top konnte man locker in einem Porno anziehen.

Lilli fiel auf, dass das Schullogo nur auf der Jacke aufgestickt war.

Dann war es ja eigentlich ganz leicht.

Die Pornosachen stopfte sie wieder in die Tüte.

Das Top, die Jacke und die Schuhe zog sie an. Dazu kam ein einfacher dunkler Faltenrock, perfekt!

Die Schuhe hatten sogar etwas Absatz und ließen, weil sie so hoch waren, ihre Beine länger wirken.

Mit dieser Kombo konnte sie leben.

Gerade wollte sie die Sachen wieder ausziehen und über einen Stuhl legen, damit sie sie am nächsten Tag gleich griffbereit hatte, da klingelte es an ihrer Tür.

Überrascht hob sie den Kopf.

Sie hatte nicht mit Besuch gerechnet.

Valentin stand vor ihrer Tür und fragte sich verzweifelt, wie er in diese Situation gekommen war.

Genaugenommen wusste er es.

Diese Zwillinge!

Sie hatten ihm einfach Lillis Schulbücher in die Hand gedrückt und gesagt, er solle sie ihr bringen.

Dann waren die beiden verschwunden und hatten ihn mit vollen Armen stehen gelassen.

Diese Rotzlöffel!

Mürrisch sah er den Flur entlang. Sie hatte eine der höher gelegenen Zimmer bekommen. Die waren meist sehr beliebt.

Glückspilz.

Da öffnete sich ihre Tür.

„Hi, ich bring dir deine Bücher“, fing er an und hielt inne. Sie trug ihre Schuluniform. Und einen Rock.

Sofort flog sein Blick zu ihren Beinen.

Gott, diesen Rock müsste sie nie wieder ausziehen, wenn es nach ihm ging.

„Komm rein, die scheinen schwer zu sein“, sagte sie und trat zurück. Er sah ihre Überraschung und Unschlüssigkeit.

Ja, seit dem beinahe Kuss hatten sie sich nicht mehr gesehen.

„Das wurde aber auch Zeit“, betrieb sie leichte Konversation.

„Ja, die Verwaltung hat sich ganz schön Zeit gelassen“, stimmte er zu und stand nun unschlüssig in ihrem Wohnzimmer. Ein Blick in die Tasche auf ihrem Sofa zeigte ihm, dass sie die Uniform auch eben erst bekommen hatte.

„Haben die Zwillinge die vorbeigebracht?“, erkundigte er sich und wies mit dem Kinn auf die Tasche.

„Oh? Ja, haben sie“, meinte Lilli und räumte die Tasche weg, damit er die Bücher auf dem Tisch abstellen konnte.

Sie stand mit dem Rücken zu ihm und ihr Rock hob sich etwas.

Er sah nicht weg.

Sie hatte wirklich verdammt schöne Beine.

Sein Tier knurrte und wollte sich auf sie stürzen, sie als sein Eigentum beanspruchen.

Valentin biss die Zähne zusammen.

So ein Mist aber auch!

Die Bücher polterten genau in dem Moment zu Boden, als sie sich zu ihm umdrehte.

„Was ist passiert?“

Natürlich, sie hatte keine Ahnung, was er gerade erlebt hatte.

Er sah, wie sich ihr Blick senkte und auf seinen Fuß fiel. Darauf lagen alle Bücher, die ihm soeben hinuntergefallen waren.

„Hast du dir wehgetan?“, erkundigte sie sich.

„Nee, geht schon“, löste er sich aus seiner Starre und bückte sich.

Sie kam zu ihm und half ihm die Bücher einzusammeln. Gerade wollte sie nach dem letzten Buch greifen, als er dasselbe tat.

Ihre Hände berührten sich.

Beide hoben den Blick und sahen einander in die Augen. Der Moment zog sich in die Länge, die Zeit schien still zu stehen.

Valentin sah nur in diese Augen und wusste, dass es um ihn geschehen war.

Er hörte eine Tür aufgehen, konnte das Geräusch aber nicht ganz zuordnen.

Erst als sich Schritte näherten, sah er auf.

Ein Junge aus ihrer Klasse steckte den Kopf zur Tür herein.

„Hey, die beiden Flaschen haben mir gesagt, dass du hier bist. Die Tür stand offen“, erklärte er sein Eindringen.

„Ich brauch da mal bei was deine Hilfe“, meinte der Junge, Julian hieß er, erinnerte sich Valentin.

„Klar“, sagte er und hob das Buch auf. Lilli hockte immer noch vor ihm.

„Wir sehen uns morgen“, verabschiedete er sich.

Valentin zog die Tür hinter sich zu und war heilfroh noch einmal entkommen zu sein.

Das durfte nie wieder vorkommen.

Sie war ein Mensch.

„Was gibt`s denn?“, erkundigte er sich.

„Es ist wegen dem Rudel“, fing Julian an.

Gut, darum musste er sich wohl persönlich kümmern. Das Rudel stand immer an erster Stelle, immer.

Lilli verbrachte den folgenden Tag damit, Valentin aus dem Weg zu gehen.

Warum musste immer ihr so etwas passieren? Heute trug sie ihre Uniform aber mit einer kurzen Hose darunter.

Sie würde nie mehr einen Rock anziehen, nie mehr.

Schon allein bei dem Gedanken, was gestern vorgefallen war, wurde sie rot.

Rou und Hakuro hatten heute keine Zeit für sie, da ihr Geschichtslehrer Mr. Zazeck ihnen eine Hausarbeit aufgebrummt hatte. Da sie noch neu war, war sie verschont geblieben.

Laut den anderen war er der schrecklichste Lehrer der ganzen Schule und unglaublich streng. Lilli kam er einfach nur wie ein schlecht gelaunter alter Mann vor.

Aber sie war doch froh, dass sie keine Hausarbeit schreiben musste. In Geschichte war sie nämlich unglaublich schlecht.

Lilli bog gerade um eine Ecke und stieß auf den Jungen, den sie schon an ihrem ersten Tag in der Schule vor dem Büro der Direktorin getroffen hatte.

Er lächelte ihr kurz zu und ging weiter.

Er schien nett zu sein, aber irgendwie schwebte ein schwarzer Schatten über ihm.

Lilli grübelte gerade darüber nach, als sich drei weitere Typen aus seiner Klasse zu ihr gesellten.

„Hey, du bist doch die Neue oder?“, sprach sie einer von ihnen an.

„Ja.“

Was wollten sie von ihr?

„Hast du Lust mit uns zu kommen?“, fragte der zweite. Mitkommen? Wohin mitkommen?

„Wir wollen zu einer Party, das wird lustig“, schaltete sich nun auch der Dritte ein.

Sie kamen immer näher auf Lilli zu, bis sie sie umkreist hatten. Sie fühlte sich unbehaglich und wollte nur noch weg.

Irgendetwas stimmte hier gar nicht. Die sahen sie so komisch an, als wäre sie ihr Mittagessen oder so.

„Na, wie wär`s?“, hakten sie nach.

Lilli wich einen Schritt zurück und prallte gegen einen der Drei. Sie fühlte sich wie ein eingekreistes Reh.

Als sie wieder etwas nach vorne trat, stieß sie erneut gegen einen von den Dreien.

„Lasst mich gehen, ich will nicht mit euch mit“, versuchte sie es auf vernünftige Art und Weise.

Doch ihr Herz raste und die Angst kroch in ihre Glieder.

„Ach komm schon, das wird lustig“, drängten sie.

„Nein, lasst mich!“, rief sie und versuchte sich an ihnen vorbei zu drängen, doch sie hielten sie fest.

Die Drei waren viel größer und viel stärker als sie.

Lilli sah sich hektisch nach einem Fluchtweg um.

„Lasst die Kleine in Ruhe!“, rief da eine bekannte Stimme.

Lilli sah auf und ihr Blick traf die schwarzen Augen des Jungen von vorhin.

„Mensch Dante, es muss doch gar keiner mitkriegen“, meinte einer, aber sie traten von ihr zurück.

Dante hieß er also.

„Wenn ihr es versaut, erwischt es uns alle“, meinte er nur und ging davon.

Hey! Er konnte sie doch nicht mit denen allein lassen!

„Verpisst euch ihr Flachschippen!“, erklang da eine weibliche Stimme.

Ein Mädchen stand vor ihnen. Dem Aussehen nach zu urteilen gehörte sie in dieselbe Klasse wie Dante.

„Hab dich nicht so“, versuchte es einer der Drei.

„Verschwindet!“, rief das Mädchen mit Nachdruck.

„Komm, wir teilen auch“, wollten sie sie bezirzen.

„Haut ihr jetzt endlich ab, oder soll ich euch Beine machen?“, motzte sie und schlug den einen, der ihr zu nahe kam.

„Kommt, wir gehen!“, beschloss der Anführer und sie trollten sich.

Das Mädchen sah ihnen nach, bis sie verschwunden waren.

„Tut mir echt leid, die sind unmöglich. Wie kleine Kinder“, lächelte das Mädchen sie entschuldigend an.

Lilli war immer noch geschockt und ihr Herz raste nach wie vor, aber sie winkte nur ab, ließ sich ihre Gefühle nicht anmerken.

„Schon gut“, murmelte sie.

„Alles in Ordnung? Die haben dir doch nichts getan?“

Lilli schüttelte den Kopf.

Das Mädchen lächelte, was ihre frechen grünen Augen zum Funkeln brachte.

„Gut, ich bin übrigens Jessica, aber sag Jess zu mir“, stellte sie sich vor und reichte ihr die Hand.

Immer noch wie betäubt, ergriff sie sie und stellte sich ihrerseits vor.

„Lilli? Passt ja. Du bist echt winzig“, lachte Jess.

Lilli sah sie böse an.

„Ganz ruhig, war nur ein Witz, lass mich am Leben!“, ruderte Jess mit erhobenen Händen zurück.

„Pack deinen Killerblick ein, ich spendier dir einen Kaffee. Der hier ist echt gut.“

Schweigend folgte Lilli Jess.

Sie schien echt nett zu sein, so ganz anders als ihre Klassenkameraden.

„Wenn die dich noch einmal belästigen, komm zu mir, ich klär das“, bot Jess an und Lilli war dankbar, dass sie ihr half.

„Hast du dich denn schon gut eingelebt?“, erkundigte sie sich.

Lilli nickte.

„Ja, alle sind ziemlich nett zu mir. Wenn man die Drei von vorhin abzieht“, lachte sie.

Sie saßen gemeinsam im Gemeinschaftsraum.

„Ja, Verrückte und Bekloppte muss es halt auch geben“, scherzte Jess.

„Wie gesagt, komm einfach zu mir“, fing sie an, sah an ihr vorbei und lächelte.

„Oder zu meiner besseren Hälfte“, beendete sie ihren Satz.

Ein Junge mit dunklem Haar und blauen Augen kam zu ihnen und begrüßte Jess mit einem Kuss.

Sie waren also zusammen.

„Was ist mit mir?“, erkundigte sich der Junge und nickte Lilli zur Begrüßung kurz zu.

Sie lächelte und erwiderte die Geste.

„Sie soll zu dir kommen, wenn die Idioten wieder Auslauf haben“, meinte Jess und klopfte auf die Armlehne ihres Sessels, auf die sich der Junge fallen ließ.

„Klar, ich bin übrigens Drake“, stellte er sich vor.

„Lilli“, murmelte sie.

Er grinste, mehr sagte er nicht zu ihrem Namen. Eine willkommene Abwechslung.

„Haben sie schon wieder Scheiße gebaut?“, erkundigte sich Drake und trank von Jess Kaffee.

„Wie immer“, seufzte sie und nahm ihm den Becher wieder ab.

„Idioten“, murrte Drake.

„Also, kennst du die Hauptattraktionen dieser Schule schon?“, erkundige er sich dann bei Lilli.

Verwirrt sah sie ihn an. Hauptattraktionen? Was meinte er damit?

„Na dann wird es aller höchste Zeit!“, rief er und schon hatte er sie auf die Füße gezogen und sie hinter sich hergeschleift.

„Ein Wunder, dass diese frechen Zwillinge dir das nicht gezeigt haben“, scherzte er.

Lilli lachte.

Die beiden schienen bei allen schon ihren Ruf weg zu haben. Was sie wohl angestellt hatten?

Drake führte sie ins Schulgebäude und Lilli fragte sich schon, was er hier wohl wollte. So spannend waren die Klassenräume nun auch nicht.

Er führte sie weiter und Jess hüpfte ihnen leise kichernd hinterher. Anscheinend wusste sie, was er ihr zeigen wollte.

Drake führte sie durchs Treppenhaus und stieg immer höher. Bis sie in einem Dachboden standen.

Toll, hier war alles vollgestellt und es roch muffig. Mehr gab es hier aber auch nicht zu sehen.

Was wollte er ihr denn nun zeigen? Spinnweben?

„Jetzt guck nicht so, wir sind noch nicht da“, zog er sie auf, stieß eine Luke in der Decke auf und zeigte nach oben.

„Wag mal nen Blick und sag mir, wie du es findest“, meinte er und winkte sie an sich vorbei.

Gespannt kletterte Lilli die Leiter hoch und war mal wieder froh, keinen Rock angezogen zu haben.

Was sie am Ende der Leiter sah, haute sie fast um.

Sie war auf einer Art Dachterrasse, die das gesamte Schulgebäude einnahm. Es war riesig und man hatte eine Wahnsinnsaussicht.

„Wow“, mehr fiel ihr dazu nicht ein.

Drake und Jess kamen nach ihr hochgeklettert und sahen ebenfalls in den dunklen Nachthimmel. Tausend Sterne funkelten und der Mond schien voll und rund auf sie herab.

„Wunderschön, nicht?“

Oh ja, da hatte sie recht.

Lilli ließ den Blick schweifen und entdeckte Liegestühle etwas weiter hinten. Anscheinend kam man gerne hierher und verbrachte seine Zeit hier.

„Habt ihr auch eure Eintrittskarten dabei?“, erklang da eine Stimme hinter ihnen und Lilli wäre fast in die Luft gesprungen, so hatte sie sich erschreckt.

Mit wild schlagendem Herzen wirbelte sie herum und sah in tiefes, glitzerndes Grün.

Valentin.

Erleichtert stieß sie die Luft aus.

Hatte sie sich erschreckt.

Warum schlich er sich auch so an?

„Nee, ich dachte für uns VIP`s wäre es kostenlos“, scherzte Drake. Valentin lehnte lässig an einer Wand. War wohl der direkte Zugang von der Treppe.

Jetzt stieß er sich von der Wand ab und kam auf sie zu. „Aber nur, weil du in so einer entzückenden Begleitung bist“, meinte er und sah Lilli dabei fest in die Augen. Sie schluckte schwer. Was meinte er damit?

„Wir lassen euch dann mal allein, viel Spaß noch“, rief Jess und schubste Drake praktisch zur Luke.

„Bist du schon mit deiner Hausarbeit fertig?“, fragte Lilli. Valentin kicherte leise und kam näher. Misstrauisch beäugte sie ihn und wich einen Schritt zurück.

„Kann schon sein“, sagte er und in seiner Stimme lag ein Knurren, das sie frösteln ließ, aber nicht auf eine unangenehme Art und Weise.

„Was hat dich zu den Gruftis getrieben, Prinzessin?“, fragte er und trat etwas zurück. Doch sein Blick registrierte jede ihrer Bewegungen.