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Inhaltsverzeichnis
Wachsendes Unbehagen
Kapitel 1: Hoffnung auf Umbruch
Kapitel 2: Ein Gespenst geht um in Moskau
Kapitel 3: Leichtigkeit und Verwirrung
Kapitel 4: Feindbilder
Kapitel 5: Stalingrad
Kapitel 6: Rufe hallen, Peitschen knallen
Kapitel 7: »Hot. Cool. Yours«?
Kapitel 8: Mit dem Recht des Stärkeren
Kapitel 9: »Ich wünsche Ihnen gute Laune«
Kapitel 10: Unterwegs im Land der Superlative
Kapitel 11: Die Rückkehr der Angst
Kapitel 12: Nachbetrachtung am Küchentisch
Über den Autor
Impressum

Kapitel 1:
Hoffnung auf Umbruch

Der Winter 2011/2012

Die Angst vor Russland sitzt tief in der deutschen Gesellschaft. Eigentlich ist es die vor der Sowjetunion, dem Land, aus dem die Väter nicht zurückgekehrt sind, die Brüder, die Freunde. Die Generationen, die den Krieg gefochten haben, wurden verheizt in der Kälte der Sowjetunion. Und wenn sie wiederkamen, und es kamen nicht viele zurück, waren sie gebrochen, kaputt oft, lange nicht mehr fähig zu lachen. Immer, wenn ich an diese Männer denke, erinnere ich mich an Onkel Kuno. Den Schwager meiner Großmutter. Ich habe ihn nur ein Mal gesehen. Er war bei uns zu Besuch, warum, weiß ich nicht. Er hat das Bein über die Armlehne des Sessels gehängt, das durfte ich nicht.

Es war die Zeit, als alte Männer auf dem Roten Platz standen und Raketen an ihnen vorbeifuhren, Raketen, die uns bedrohten, damals in Westdeutschland, in Hamburg. Raketen, gegen die hierzulande Pershing-II-Raketen stationiert wurden. Ich war dagegen, wollte unbedingt nach Bonn fahren zur großen Friedensdemonstration 1983 – und durfte nicht. Breschnew, Reagan, das SDI-Programm, die Verlegung des Krieges ins Weltall – klar machte uns das Angst. Aber es blieb unvorstellbar. Wird schon gut gehen. Wir sind ja für den Frieden. »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.« Lösungen konnten so einfach sein. Ich war auf einer linken Schule, das fand ich toll. »Mein Gott, der Russe steht ja schon vor Lauenburg«, sang unser Schulchor damals, »und er kommt bestimmt noch durch.« Immerhin stand er, der Russe. Gesungen haben sie es zur Melodie von »Joshua Fit the Battle of Jericho«. Den Text hatte ein Musiklehrer geschrieben. Der hatte strohig abstehende Haare, trug Jeans und Turnschuhe und ließ sich von den älteren Schülern duzen. Er kam mir damals unglaublich progressiv vor.

Wir wuchsen mit einer diffusen Angst vorm Russen auf, der damals die Sowjetunion war – real und abstrakt zugleich. Russland und die Sowjetunion waren damals für uns das Gleiche. Moskau war das Zentrum des Bösen hinter einem Vorhang, der eisern genannt wurde. Den kannte ich. Das waren der Grenzzaun bei Lübeck und die Mauer in Berlin. Von dort aus wurden Gesellschaften unterdrückt, Diktatoren gestützt, Reformer gestürzt, Dissidenten verhaftet, verfolgt und in Psychiatrien gebrochen. Mein Vater las den »Archipel Gulag« von Alexander Solschenizyn, und auch mein Klassenlehrer in der sechsten Klasse hat uns von dem Buch erzählt.

Onkel Kuno war in Russland, das war das Erste, was mir über ihn gesagt wurde. Meine Mutter war todunglücklich. Sie hatte Kohlrouladen gemacht. Kuno aß keine Kohlrouladen. Überhaupt keinen Kohl. Wegen Russland, wegen der Kriegsgefangenschaft. »Da gab es immer Kohl. Kapusta.« Vielleicht war Kapusta das erste Wort, das ich auf Russisch sagen konnte.

Kuno war Dorfschullehrer in Mulak gewesen, einem Ort bei Rastenburg in Ostpreußen. Unerreichbare verklärte Heimat. Kuno war der Mann von Tante Grete, der Schwester meiner Großmutter. Sechs Kinder hatten sie, Grete trug das Mutterkreuz, war aktive Nationalsozialistin. Glaubte an den Endsieg. Glaubte noch, als das Ende nah und klar war, dass es nicht siegreich wird. Sie blieb, als alle gingen. Wollte kämpfen. Mit der Waffe in der Hand »für Führer, Volk und Vaterland«. Ihre Kinder behielt sie bei sich, als die Rote Armee kam. Grete ward nie mehr gesehen, wurde vom Russen verschleppt, hieß es, ihre Kinder landeten in einem Waisenhaus, kamen später über das Rote Kreuz zur Familie nach Westdeutschland. Gretes Tod, wie auch die verlorene Heimat, waren Themen beim familiären Kaffeetrinken. Nach Russland ging man nicht, da war man froh, wenn man herausgekommen war.

Als meine Frau und ich nach Moskau zogen, war die Zeit, in der Menschen in Europa Angst vor Russland haben mussten, eigentlich vorbei. Die Sowjetunion war an der eigenen Großmachtlüge zugrunde gegangen. Männerfreundschaften, wie die zwischen Kohl und Jelzin sowie Putin und Schröder, festigten den Frieden. Es gibt den Nato-Russland-Rat, Russland ist 2011 noch Mitglied der G8, des Clubs der reichsten demokratischen Wirtschaftsnationen. Die deutsche Wirtschaft macht gute Geschäfte, und auch kulturell wird getauscht, was man austauschen kann: Schüler und Studenten, Bilder, Filme, Künstler und so weiter. Trotzdem, nach Moskau geht man immer noch nicht. Aus Sicherheitsgründen. Die Skepsis schwingt bei den Abschiedsfeiern mit, bei jedem Gespräch, das wir führen, gerade mit den Älteren. »Moskau ist schneller zu erreichen als Madrid«, beruhige ich. »Gut zwei Stunden Flug. Wir werden eine schöne Wohnung haben. Wir besorgen euch ein Visum, und dann kommt ihr gucken.« Wir verschenken kitschige Bücher über Moskau mit all dem Gold und den Türmchen und dem schönen Schnee. Das soll beruhigen. Wir sagen: »Schaut, die Sowjetunion ist seit 20 Jahren Geschichte. Die 90er Jahre mit ihren Mafiakriegen sind auch vorbei.« Doch die Nachrichten zeigen im Winter 2011/2012 all diese Menschen auf der Straße. Seit der gefälschten Parlamentswahl im Dezember demonstrieren immer wieder Zigtausende. Das beunruhigt Menschen, die an die Ruhe in der EU gewöhnt sind. »Das ist ein gutes Zeichen«, sage ich, »die Menschen sind auf der Straße und demonstrieren gegen Wahlfälschungen. Sie wollen Demokratie.« Man kann argumentieren, wie man möchte: Moskau ist im deutschen Bewusstsein mehr oder weniger unterschwellig negativ belegt. Russland ist vielen Deutschen noch immer fremd, zumindest viel fremder als Frankreich oder Großbritannien. Gleichzeitig ist Russland die verkitschte Kulisse von ARD-Reisedokumentationen.

»Russland ist nicht gefährlich, Russland ist für Journalisten spannend«, erzähle ich, seit ich 1992 das erste Mal dort gewesen bin. Die Menschen sind nett, nein, es gibt keine Probleme, wenn du Deutscher bist, eher so eine Verbundenheit. Die Leute trinken viel und gern auf die Aussöhnung, darauf, dass Menschen nicht mehr aufeinander schießen, dass sie das sowieso nicht wollen, die einfachen Leute. Nein, ich hatte nie Schwierigkeiten wegen meiner deutschen Herkunft, nicht mal mit Überlebenden des Holocaust. Viele Russen unterscheiden zwischen Deutschen und Faschisten.

Wir sind erwartungsfroh, nahezu euphorisch, als wir für den Umzug nach Moskau packen. Wir sind Reporter, die am Tiefpunkt des Landes angefangen haben, aus Russland zu berichten, die selbst nach Essen Schlange standen, die nach dem Ende der Sowjetunion Armut gesehen haben und mit den Menschen über ihre Angst vor der ungewissen Zukunft gesprochen haben, die durchs Land gereist sind und Reportagen über stillstehende Fabriken gemacht haben. Vor McDonald’s in Moskau standen lange Schlangen. McDonald’s und Coca-Cola in Moskau klang damals noch paradox. Pepsi gab es allerdings bereits in den letzten Jahren der Sowjetunion. Recherchen in Moskau waren in den 90er Jahren immer auch so geplant, dass man an Schnellrestaurants vorbeikam, in denen es berechenbares Essen gab und vor allem die Gelegenheit, die Hände zu waschen und auf die Toilette zu gehen, bei McDonald’s oder in großen Hotels.

Abflug an einem Montag im Januar 2012. Unsere Möbel befinden sich in einem Container irgendwo auf dem Weg zur weißrussischen Grenze. Dort werden sie etwa zehn Tage stehen, sagt die Spedition. Tauwetter, Moskau im Matsch. Gedrängel, Dreck, Stau. Ich habe schlechte Schuhe, stelle ich fest. Tauwetter war nie gut für Moskau, denke ich. Die Abflüsse funktionieren nicht, erfahre ich, und in der Sowjetzeit wurden Straßenbaustudenten aus dem ganzen Ostblock nach Moskau gebracht, um zu lernen, wie man es nicht macht. Bald nach unserer Ankunft schneit es mehrere Tage. Auf der breiten Einfallstraße, an der wir wohnen, patrouillieren die Räummaschinen zu sechst versetzt hintereinander mehrfach täglich. Lkws bringen die Schneemassen zu Schneeschmelzmaschinen. Grau-schwarze Schneeberge liegen neben den Straßen der Hauptstadt. Nach dem vielen Schnee wird es hell. Und kalt. Die Stadt ist weiß, der Himmel blau. Auf den Dächern Kolonnen von Arbeitern, die aus Angst vor Dachlawinen den Schnee hinunterschippen. Auch sie sind meist Gastarbeiter aus Zentralasien, Tadschiken, Usbeken, Kirgisen.

Das Land ist im Wahlkampf. Am 4. März sind Präsidentenwahlen. Wer weiß, vielleicht wandelt sich Putin in einer dritten Amtszeit ja doch noch zu einem Liberalen. Die Demonstranten glauben nicht daran. Die Menschen sind sauer, zu durchschaubar ist der Platztausch von Putin zu Medwedew 2008 und nun wieder zurück.

Es ist Samstag, der 4. Februar. Minus 25 Grad. Die Menge staut sich. Metalldetektoren am Eingang zur Demonstration. Jeder muss da durch. Die Strecke bis zum Bolotnaja-Platz, auf dem die Abschlusskundgebung geplant ist, ist mit Gittern abgesperrt. Ich gehe nicht in einen Demokessel, denke ich. Die Erfahrung bei Demonstrationsberichterstattung in Deutschland hat mich gelehrt, darauf zu achten, dass ich schnell wegkommen kann, sollte es Ausschreitungen geben. Die Absperrungen seien üblich, sagen russische Freunde, »und die Metalldetektoren sind gut, damit man keine Waffen mit hineinbringen kann«. Skeptisch gehe ich mit.

Ich freue mich über meine neuen Schuhe, die ich in Moskau gekauft habe. In dieser Mischung aus Wasser und Kälte müssen sie gefüttert, knöchelhoch und wasserdicht sein, nichts ist mieser als kalte Füße. Als Reporter steht man bei Demonstrationen stundenlang draußen, und das ist es, was wir in der ersten Zeit machen: Demo-Berichterstattung. »Putin ist ein Dieb«, skandieren angeblich 120.000 Menschen, und »Russland ohne Putin«. Die Demonstranten wärmen sich an der Vorstellung, bald in einem normalen Land zu leben, ohne die »Gauner und Diebe«, wie Alexej Nawalnyj, Antikorruptionsblogger und Oppositionsaktivist, die Beamten und die Politiker der Regierungspartei Einiges Russland von der Bühne herab nennt. Die Oppositionsbewegung ist weit gefächert, sie reicht von Monarchisten, Neonazis und Stalinisten bis hin zu überzeugten Basisdemokraten und Menschenrechtlern. Alles, was sie eint, ist der Wille, Putin und seine Machtclique loszuwerden. »Ihr habt großes Glück«, sagen Freunde, die sich in Russland auskennen, »ihr werdet unmittelbare Zeugen, wie Russland jetzt demokratisch wird.«

Die Korrespondenten, die schon länger da sind, sind begeistert. Ich habe Zweifel, traue mir aber noch nicht zu, die Bedeutung dieser Demonstrationen seriös einzuschätzen. 100.000 Menschen demonstrieren in einer Stadt, in der wahrscheinlich 15 Millionen Menschen leben – ist das eine große Demonstration, die die russische Regierung in ernsthafte Schwierigkeiten bringt? Russland ist sehr groß, und in der Provinz ist es viel ruhiger. Doch die enthusiastische Atmosphäre überlagert die Zweifel.

Manchmal scheint es, als dränge der Protest aus allen Löchern der Stadt gegen die Widerstände der Staatsgewalt. Wir leben an einer Einfallstraße, auf der jeden Tag viele Reiche und Mächtige ins Zentrum fahren. Tag und Nacht, stadteinwärts, stadtauswärts staut sich in Stoßzeiten der Verkehr. Ab und zu wird die große, breite Straße ruhig. Polizisten stehen am Straßenrand und winken die Autos, die noch fahren, an den Rand. Stille tritt ein – nur kurz, dann schwillt ein Rauschen an, die Luft vibriert, Sirenen heulen, Blaulichter blinken, und Polizeiautos fahren von links nach rechts und wieder nach links, pendeln die Fahrbahnen entlang, und eine lange schwarze Limousine mit russischem Wimpel und mit Putin oder Medwedew im Fond rast vorbei. Und aus den Nebenstraßen, in denen die Moskauer geduldig warten, quillt ein Hupen und ebbt erst ab, als die Macht vorbeigerauscht ist und den Protest nicht mehr hören kann. Denn dieses Hupen ist nicht Ungeduld, es ist ein Aufbegehren. Danach quellen die Autos erneut aus allen Ecken und Winkeln, um sich durch das Verkehrschaos der Stadt zu drängeln.

Der Januar bleibt kalt, der Februar wird kälter. Mehrfach sinkt die Temperatur unter 20 Grad. Die Gullys dampfen, die Leute drücken sich an Häuserwände, eilen von Einkaufszentrum zu Einkaufszentrum. Es ist so kalt, dass beim Schritt nach draußen die Nasenschleimhäute austrocknen. Der Temperaturunterschied zu den Wohnhäusern ist so stark, dass man sich gegen die Tür stemmen muss, um sie zu öffnen. Ich lerne Sergej kennen. Er hat ein Bündel weißer Bänder in der Hand und keine Handschuhe an. Seine Hände sind lila. Als ein älteres Ehepaar vorbeikommt, hält er ihnen zwei Bänder hin, sie schütteln den Kopf, zeigen auf ihre Jacken, dort prangen bereits weiße Schleifen. Sergej gehört zu einem harten Kern von etwa 100 Aktivisten. Seit Wochen treffen sie sich in einem Café, entwerfen Losungen für Handzettel, probieren Sprechchöre aus, diskutieren, wie sie reagieren wollen, wenn die Polizei Gewalt anwendet. In Küchen schneiden sie weiße Bänder zurecht und verteilen sie in der Stadt. Auch eine Freundin von uns macht mit. Die Schleifen finden reißenden Absatz.

Unsere Nachbarin trägt eine an der Handtasche. Im Gedränge der Metro, in der meist jeder vor sich hin starrt, lächeln Menschen mit weißen Schleifen einander wissend an. 10.000 Bänder haben die Aktivisten aus dem Café in die Provinz verschickt. Ihr Kreis ist überschaubar, wer dazukommt, wird integriert. Jeden Tag tragen immer mehr Menschen dieses Symbol der Freiheitsbewegung. An Daunenjacken, Pelzmänteln und Taschen geknotet, an den Antennen ihrer Autos werden sie bald so grau wie der Moskauer Schnee im Winter. Durch Moskau weht zu dieser Zeit ein Hauch von Revolution. »Bis vor Kurzem kannte ich niemanden, der aktiv ist«, sagt Sergej, »nun verteile ich weiße Schleifen, ist das nicht toll?«

Wir haben uns zur nächsten Demonstration verabredet. Sergej ist spät dran. Sein Gesicht ist gerötet, seine Finger wieder lila, er trägt wieder keine Handschuhe. An den Pelzmützen gefriert der Atem. Sergej will nach vorn an die Spitze des Zugs, dort geht der Block der Demokraten. Doch vor uns sind zu viele Menschen, er kommt nicht durch. Plötzlich ein Schrei durch die Menge. Olga! Die beiden umarmen sich. »Das erste weiße Band haben Olga und ich gemeinsam geschnitten.« Sergej strahlt, Olga auch: »Es ist kalt, aber ich denke, diese menschliche Wärme, diese Nähe wärmt uns alle«, sagt sie.

Sergej und Olga haben sich in einem »Awtosak« kennengelernt. Das sind die hohen weißen Gefangenentransporter mit dem blauen Streifen. Es war am 6. Dezember 2011 bei einer Demonstration gegen Wahlfälschungen. Sergej stand in der Menge. Plötzlich fingen Männer an zu schubsen. Vier von ihnen in Zivil griffen ihn und brachten ihn zu dem Awtosak. »Hast du dir diese bedrohlichen Gefangenentransporter mal genau angeschaut?« Sie hielten seine Hände fest und warfen ihn gegen die Stufen.

Er konnte sich nicht abstützen, fiel, ohne den Fall abfedern zu können.

Das war der Moment, in dem aus einem unpolitischen jungen Mann ein Aktivist wurde. Die Polizei, die Exekutive mit ihrer Gewalt gegen Demonstranten, hat den Widerstand gegen sie provoziert. Jetzt geht es für die Mächtigen darum, den Trotz in Angst zu ersticken.

»Im Awtosak traf ich die nettesten Menschen der Welt«, erzählt Sergej. »Da waren ein Schauspieler, ein Musiker, ein Geschäftsmann. Und Olga.« Sie redeten und sangen, verbrachten die Nacht zusammen im Arrest. Sie bekamen keine Erklärungen und kein Essen, durften weder trinken noch austreten. Sie wurden nicht geschlagen.

Olga ist zierlich, Rastazöpfchen, klarer Blick. Sie arbeitet für die tschechische Botschaft. Vor Kurzem hat sie sich ausgezogen, als Aktion gegen Putin. Erst in einem Fotostudio, später mit anderen im Schnee zwischen Birken. Das ZDF hat sie dabei gefilmt. Olga zieht sich gern aus, setzt ihre Brüste als Mittel des Protests ein. Gierig nehmen ihr die Leute Aufkleber aus der Hand: »Wremja Wyschlo« steht darauf: »Die Zeit ist abgelaufen«, dazu ein Bild von Putin in einer Uhr. Sie zeigt 12 Uhr. Ein anderer Aufkleber ist weiß, blau, rot, die russischen Farben, dazu viele Hände, die nach oben gereckt werden, und die Forderung: »Für ein Russland ohne Putin« oder »Faire Wahlen«. Putin ist auch auf einem weiteren Aufkleber zu sehen. Dazu der Satz: »Genug geklaut und gelogen«. »Ist es nicht erstaunlich«, Sergejs Stimme überschlägt sich ein wenig, »so viele Leute kommen trotz der Kälte. Ich treffe dauernd Bekannte und Freunde. Einige habe ich erst vor Kurzem auf Kundgebungen oder auf der Polizeiwache kennengelernt, andere kenne ich schon lange – Gott, was ist das für ein Glück!« Zehntausende strömen an Olga und Sergej vorbei zur wahrscheinlich größten Kundgebung in Russland seit dem Ende der Sowjetunion, lächeln, freuen sich, dass es immer mehr werden. Auch Olgas Tante verteilt Aufkleber. Angeblich sind an diesem Tag in 111 Städten Russlands die Menschen auf der Straße.

Noch vor einem Jahr wollte Olga auswandern. »Jetzt hoffe ich, dass wir das Land ohne Gewalt verändern können. Mein Land ist ein sehr schönes Land. Und ich liebe dieses Land und möchte hier leben.« Früher hat sie es gemacht wie viele in Moskau, in Russland. Sie hatte ihre Freunde, traf nur die. »Alle anderen lohnten nicht. Aber jetzt weiß ich, es gibt viel mehr Leute in Russland, die ich treffen möchte. Ich habe das Gefühl, inmitten wunderbarer Menschen zu leben.« Immer wieder ist da so ein seliges Lächeln. Ungewohnt in einer Stadt, in der sonst wenig auf den Straßen gelächelt und geflirtet wird. Die Demonstranten brüllen sich warm: »Russland soll frei sein!« und »Russland ohne Putin!«. Nach gut einer Stunde und vielen Rednern kommt Juri Schewtschuk auf die Bühne. Der Frontmann der Kultband DDT stimmt seinen alten Hit »Rodina« an.

»Ich fahre in die Heimat,

sollen sie ruhig mosern, sie sei hässlich,

uns aber gefällt sie,

sie ist zwar keine Schönheit,

sie vertraut einem Lump,

uns gegenüber ist sie tra-la-la-la …«

Gut situierte Moskauer in guten Mänteln und teuren Jacken hüpfen und grölen mit. Viele Geschäftsleute, die es satthaben, dass ihnen jederzeit jemand ihr Geschäft abpressen oder lahmlegen kann, sind unter den Demonstranten.

Der große Gegner der freundlichen Demokraten ist die Mentalität aus der Zeit der Sowjetunion: die Apathie, der Glaube an die Macht, die Angst und die Vorsicht. »Meine Urgroßmutter glaubt, wir seien alle von der US-Regierung bezahlt«, erzählt Olga. »Sie hat immer der aktuellen Macht geglaubt, egal, wer gerade regiert hat, ob Stalin, Jelzin oder nun Putin.« Das ist ein sehr großes Problem. Viele Menschen glauben zwar den Äußerungen der Machthaber nicht, aber den Oppositionellen eben auch nicht. Im Zweifel entscheiden sie sich für die Mächtigen, das ist sicherer. Erst wenige Wochen später wird klar, wie richtig Olgas Worte sind. Denn die Machthaber werden ihre Kritiker als »Vaterlandsverräter« verunglimpfen und sich selbst als »Patrioten« aufspielen. Dabei ist es gerade die Liebe zu Russland, die viele Demonstranten auf die Straße treibt.

Ein paar Tage später diskutieren wir bei einem Abendessen im Kollegenkreis über die Demonstrationen und die Chancen der Opposition, die erneute Wahl Putins zu verhindern. Die Runde der Journalisten ist klein. Alle reden über den Antikorruptionsblogger Alexej Nawalnyj. »Ein toller Typ!« – »Endlich mal einer, der gut aussieht.« – »Einer, der reden und der auftreten kann.« – »Sexy!« – »Wenn es einer kann, dann wahrscheinlich er.« Etwas unsicher werfe ich ein: »Aber Nawalnyj hat sich doch rassistisch gegen Kaukasier geäußert …« Vor Jahren hat er in einem Internetvideo Migranten mit Insekten verglichen. Der Spot ist immer noch online. Die Runde schaut mich verständnislos an. Nawalnyj ist keine Alternative, denke ich. Zumindest keine, die ich gut finden kann. Das geht vielen so. Die Opposition hat offensichtlich keine Führungsfiguren, niemanden, der die Massen mitreißen und das verkorkste politische System Russlands in den Griff kriegen kann.

Dann geht es um die Überwachung von Journalisten in Russland. Die Gastgeberin des Abendessens erzählt von ihren Schuhen, die im Flur stehen und die sie lange nicht getragen hat. Auf einem sei Vogelmist, sagt sie und zeigt uns den Schuh. Sie habe keine Ahnung, wie er auf einmal auf den Schuh gekommen sei. Mich erinnert das an Lehrfilme der Stasi, die ich in den 90er Jahren gesehen habe. Es ging darum, Spuren in Wohnungen zu hinterlassen, um die Überwachten zu verstören. Meist eine Zigarettenkippe. Jemand anderes erzählt belustigt von einem Wasserschaden. Als die Handwerker das Parkett öffneten, seien dort ganz viele Kabel zum Vorschein gekommen. »Das machen wir mal besser gleich wieder zu«, hätten die Handwerker gesagt. Zwei Jahre später hatten auch wir so ein komisches Erlebnis. In unserer Wohnung hängt eine schwarz-weiße Silhouette aus Pappe von Franz Kafka an der Wand. Eines Tages hatte Kafka plötzlich drei Löcher in der Stirn.

Vor unserer Abreise haben uns Freunde und Kollegen immer wieder gefragt, ob wir in Russland beobachtet und abgehört werden. Wir ignorieren es, können ohnehin nichts daran ändern. Immer wieder zitieren wir den alten Witz: »Die Tatsache, dass Sie langsam paranoid werden, heißt ja nicht, dass Sie niemand beobachtet.« Im Deutschlandradio-Büro ist es ganz offensichtlich. Es ist schwierig, Plätze zu finden, an denen man mit empfindlichen Mikrofonen störungsfrei ein Gespräch aufnehmen kann. Je näher man den Wänden kommt, desto stärker wird das Sirren. »Mikrobeton«, nennt meine Russischlehrerin diese Bauweise. Das Haus gehört dem Außenministerium. Die meisten Korrespondenten in Moskau leben in solchen Häusern, in abgeschirmten Arealen, haben dort auch ihre Büros. Die waren dort schon in der Sowjetunion untergebracht, in einer Zeit, als Auslandskorrespondenten Moskau nur mit Sondergenehmigung verlassen durften und auch sonst unter strenger Beobachtung des sowjetischen Außenministeriums standen. Und auch heute noch gibt es Schlagbäume und Wachleute. Manchmal notieren sie penibel die Passdaten der Besucher, manchmal ist es ihnen egal. Der Geheimdienst ist immer mit dabei, und wenn er nicht mit dabei ist, so denken zumindest alle, er sei dabei. Russland ist und bleibt das Mutterland der Paranoia. Und so geht eine 70-jährige Freundin von uns auch fest davon aus, dass alle Demonstranten bestellt oder gekauft sind, egal, auf welcher Seite sie mitlaufen.

Und teils stimmt das sogar. Das Machtsystem reagiert mit sowjetischen Methoden auf die Umbruchstimmung. Leute werden zu Loyalitätskundgebungen zusammengekarrt: Studenten, Lehrerinnen, Dozentinnen, andere Staatsangestellte. In den Metrostationen und auf den Straßen beobachte ich, wie Menschen Gruppen um sich scharen und Namenslisten abhaken. Ich höre, wie junge Leute sich austauschen, wie viel Geld sie für die Teilnahme bekommen. Es ist schwer, mit den Demonstranten zu sprechen. Sie drehen sich weg, verweisen auf den Leiter ihrer Gruppe, antworten formelhaft und kurz, sie seien für Putin, weil sie für Stabilität sind. Einmal treffen sie sich im Siegespark. Der Ort ist trefflich gewählt, er erinnert an den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, einem der wenigen Ereignisse, das große Teile der russischen Gesellschaft eint und an das Putin anknüpft. Das Motto der Kundgebung lautet: »Gegen Orange – für Stabilität«. »Orange« steht für gewaltfreie Demokratiebewegungen. Wenn die Menge nicht groß genug wird, machen die Behörden die Zahlen größer, als sie sind. Als nur 15.000 Putin-Anhänger kommen, spricht die Polizei von 120.000, und das Fernsehen verbreitet manipulierte Bilder. So bekommen außerhalb Moskaus nur wenige Menschen etwas von der Aufbruchstimmung der Opposition mit. Denn dort ist das Fernsehen für viele die einzige Nachrichtenquelle.

Eine kleine Gruppe Oppositioneller will das ändern. Sie machen sich auf den Weg nach Sibirien. Sie reisen, um ihren Aktivisten vor Ort Beistand zu leisten, Erfahrungen zu teilen, Solidarität zu bekunden, die Protestbewegung auszuweiten. Die Reisenden sind prominent. Tatjana Lasarjewa, Moderatorin einer beliebten Kindersendung und Schauspielerin, die auch singt; Sergej Parchomenko, einer der Moderatoren des Moskauer Radiosenders Echo Moskwy; Maxim Blant, ein weniger bekannter Wirtschaftsjournalist. Verstärkt durch eine Fotografin, einen Aktivisten der Wahlbeobachter-Organisation Graschdanin Nabljudatel, »Der Bürger als Beobachter«, und eine weitere Journalistin.

Die erste Station ist Tomsk in Sibirien, ungefähr auf der Hälfte zwischen Moskau und der Pazifikküste. Die Stadt hat etwa eine halbe Million Einwohner, ein bisschen Industrie, einen Fluss, alte Häuser aus Holz und roten Ziegeln. Das Treffen findet in einem Bierkeller statt. Lange Tische vor einer Bühne, Tresen, Barhocker. Rauch hängt in Schwaden in der Luft. Kellner bringen Bier und Fisch. Etwa 200 Leute sind gekommen. Es ist selten, dass Hauptstädter anreisen, die keine Politiker sind und dennoch politisch Stellung beziehen. An Oppositionspolitiker hingegen sind viele gewöhnt, und was die sagen, ist bekannt. An einem der Tische sitzt Anna, Journalistin bei der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti. Sie findet es gut, dass die Aktivisten aus Moskau da sind. »Tomsk wird sich verändern. Nun können wir wirklich an die Protestbewegung glauben. Das ist kein Märchen, sondern Realität.« Innenpolitisch ist RIA Nowosti damals noch eine halbwegs zuverlässige Quelle. »Wir haben auf sie gewartet, denn das, was sie sagen, ist sehr wichtig. Diese Leute mal zu treffen, ist besser, als sie nur im Fernsehen zu sehen.« Die Aktivisten aus Moskau erläutern, wie man sich über Facebook vernetzt, wie man Wahlbeobachter wird, was die dürfen und wie man Straßenaktionen plant. An einem langen Tisch sitzt ein Mann und trinkt Bier. Er heißt Andrej Malanow und will, dass die aus Moskau zuhören, wissen, was in Tomsk los ist. Die Menschen im Norden der Region seien bearbeitet worden, sagt er, »von Putin-Leuten. Deshalb hat Einiges Russland bei der Dumawahl so gut abgeschnitten. Hier in Tomsk haben bei den Parlamentswahlen viele die Opposition gewählt.« Die Regierungspartei hat zwar bei der Wahl 2011 im Gebiet Tomsk nur gut 37 Prozent bekommen, war aber mit Abstand die stärkste Partei.

Die Stimmung ist euphorisch. Die Reisegruppe macht Feierabend. In einem Restaurant am Fluss gibt es gefrorenes Muksun-Carpaccio mit Kapern, dazu Wodka. Muksun ist ein Weißlachs, der in sibirischen Flüssen lebt. Der Fluss heißt in Tomsk Tom und fließt im Sommer vor dem Restaurant. Jetzt im Winter fahren auf ihm Autos, und Menschen nutzen die Abkürzung ans andere Ufer. Oft heißt es, die Menschen in der Provinz wählten die Kreml-Partei aus Überzeugung und wollten gar keine Veränderungen. Die vielen Menschen in dem Keller, ihr Interesse, besonders an den Schilderungen der lokalen Aktivisten, sagen etwas anderes.

Am nächsten Morgen geht es früh weiter. 250 Kilometer sind es bis Nowosibirsk, der größten Stadt Sibiriens. Im Minibus ist es warm, draußen sehr kalt. Die Landschaft macht bescheiden: schwarz-weiße Birken vor weiten weißen Flächen. Lediglich braunes Gestrüpp, das aus dem Schnee herausragt, sorgt für farbliche Abwechslung. Die Aktivisten schlafen, ich schaue aus dem Fenster. Deportationslandschaft. Windschiefe Laternen, Begrenzungspfosten. Durch meinen Kopf geistern gebeugte und in Lumpen gehüllte Figuren aus Solschenizyn-Romanen und aus Texten Mandelstams. Arbeitslager so weit weg, dass jede Flucht unmöglich ist, die bei diesem Wetter tödlich endet. Die industrielle Stärke des Landes sei »dank des ehrlichen Enthusiasmus, der heldenhaften Arbeit« der Väter und Vorväter geschaffen worden, sagt Putin ein gutes Jahr später und verhöhnt damit die Opfer, die Kanäle und Eisenbahntrassen, Fabriken und Wohnhäuser bauen mussten, die Sklaven der Sowjetunion, die Denunzierten, willkürlich Verhafteten, unrechtmäßig Verurteilten, an unbewohnbare Orte Verbannten. Der Kleinbus stoppt. »Awtoturist« steht an der Raststätte. Alles dampft, die Autos, das flache Gebäude, die Menschen, die aus den Autos steigen. Die Nasenschleimhäute trocknen an der Luft, Kälte beißt sich in die Backen. Ein blauer Lada Niva – der Jeep der Sowjetunion, fährt immer und hilft überall abzuschleppen – zieht einen Pkw auf den Parkplatz. Es ist das perfekte Auto für die Gegend. Und auch der Fahrer, in dicke Tarnkleidung gehüllt, im Mundwinkel eine Zigarette, scheint perfekt zu sein, um hier zu leben. Die Landschaft wirkt schier endlos, still und gefährlich. Hier muss man leben wollen. Oder müssen. Dabei ist die Strecke zwischen Tomsk und Nowosibirsk recht dicht besiedelt. Das Gefühl der Weite und die Einsamkeit des Verlorenen werden trotzdem denkbar. Dank der Kombination aus Vorstellungskraft und Wissen.

Wiktoria fragt plötzlich: »Wie geht es dir als Deutscher mit deiner Schuld, wenn du durch diese Landschaft fährst?« Wiktoria ist die Fotografin. »Bitte?« – »Als Deutscher. Wie geht es dir, wenn du durch diese Landschaft fährst, mit deinem Schuldkomplex?« – »Ich habe keinen Schuldkomplex in dieser Landschaft«, sage ich. Es ist das erste Mal seit 1992, dass mir in Russland jemand eine solche Frage stellt. »Vom Schuldgefühl zum Verantwortungsbewusstsein ist ein langer Weg in meiner Generation«, erkläre ich ihr später. »Außerdem, wer sagt dir, dass ich nicht Jude bin oder meine Großeltern im Widerstand waren oder im Exil lebten?« Das Thema wird uns die nächsten Jahre begleiten. Je kritischer wir über Verbrechen berichten, je nachdrücklicher wir die Geschichtsklitterung der Propaganda thematisieren, desto heftiger werden die Reaktionen ausfallen, wir als Deutsche hätten eine Kollektivschuld und seien zu respektvoller Zurückhaltung verpflichtet. Aber das war Anfang 2012 in Sibirien noch nicht absehbar.

Ankunft in Nowosibirsk. Hinter einer großen Lenin-Statue und vor dem Opernhaus mit seinen mehr als 1700 Plätzen bauen Arbeiter eine Bühne ab. Gerade ist Putin hier gewesen. Überall blaue, rote und weiße Luftballons, einige liegen auf dem Boden, einige fliegen herum. An den Laternen hängen noch Fahnen in den gleichen Farben, immer drei. Die Aktivisten aus Moskau versuchen, die weißen zu ergattern. Maxim Blant, Dreitagebart, Jeans, kleiner Zopf, greift sich eine weiße Fahne, schwenkt sie über dem Kopf, hält inne: Revolutionspose. Fotos. Eine der Putin-Helferinnen stürmt herbei, blickt verächtlich, schimpft. Der Wind ist eisig, alle haben es eilig. Maxim Blant grinst: »Die Kundgebung hat um 12 Uhr angefangen, und um eins ist schon keiner mehr hier. Das sagt doch alles. Zu den Versammlungen für Putin gehen Leute, die Angst vor Revolutionen und Unruhen haben. Und solche, die, vorsichtig ausgedrückt, gebeten wurden.« Selbstverständlich gehen auch jetzt alle davon aus, dass die Mehrheit der Leute, die Putin zujubelt, bezahlt wird. Nachweisen lässt sich das in diesem Fall schwer, es ist eben keiner mehr da.

Ohne weiße Fahne brechen die Oppositionellen zu ihrer eigenen Veranstaltung in einem Musikclub auf – »Brodjatschaja Sobaka«, »Streunender Hund«. Sie werden erwartet. Vor der Tür stehen zwölf Männer um die dreißig. Sie legen los: »Glaubt ihr überhaupt an das, was ihr tut? Warum unterstützt ihr Leute, die unser Land zerstören wollen? Ihr seid von Amerika bezahlt!« Sie machen Fotos und filmen die Oppositionellen aus Moskau. Blant knipst zurück. »Das ist auch mein Land«, entgegnet er. Ein kräftiger Typ baut sich direkt vor ihm auf, filmt ihn mit einer kleinen Kamera, fordert ihn auf: »Stellen Sie sich bitte vor!« Sein Haar ist kurz, der Bart gestutzt, die Augen blau. Die Felljacke trägt er leicht geöffnet und bei minus 25 Grad nicht mal einen Schal. Er ist der Wortführer. »Stellen Sie sich doch erst mal vor«, erwidert Blant. Der kräftige Typ antwortet mit einer Gegenfrage: »Wer hat Sie geschickt?« Viele Menschen in Russland können sich eigenständiges politisches Handeln einfach nicht vorstellen. Nach ein paar Minuten gehen alle gemeinsam in den »Streunenden Hund«. Dort warten etwa 80 Leute auf die Gäste aus Moskau.

Kaum sitzen die Aktivisten auf der kleinen Bühne, geht der Streit in die nächste Runde. Rufe branden auf, Männer mit kurzen Haaren stehen auf, machen Fotos, filmen. Niemand kann mehr ausreden, Fragen stellen, antworten, Dinge erklären. Ein Vertreter der Putin-Jugend Naschi tritt auf, der »Unsrigen«. »Eti nje Naschi«, ruft er, »nje Naschi!« – »Das sind nicht unsere!« Lachen beim Rest im Raum. Schlagartig eskaliert die Situation. Tassen fliegen, Gläser, Teekannen. Schließlich Fäuste. Tische und Stühle fallen um. »Es wäre Zeit, die Polizei zu rufen und diese aggressiven Leute rauszuschmeißen«, sagt der Betreiber. Tatjana Lasarjewa, die Fernsehmoderatorin und Schauspielerin, spielt ihre Weiblichkeit und Prominenz aus, legt ihm die Hand um die Schulter, nimmt ihn in den Arm, beruhigt ihn. Der Anblick, wie der blonde Fernsehstar den bulligen Typen im Arm hält, ist rührend. Plötzlich sind auch vier gut gebaute Männer in heller Tarnkleidung und mit langen Knüppeln im Raum. Sie diskutieren nicht, allein ihre Anwesenheit reicht, um die Situation zu entschärfen. Der Besitzer des Clubs hat sie holen lassen. Es geht noch ein bisschen hin und her, dann bilden die Aktivisten Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Themen, die Rausschmeißer blicken ernst auf die Schläger, damit diese ruhig mitarbeiten. Irgendwann wird es ihnen langweilig und einer nach dem anderen geht.

Zu einem dritten und letzten Treffen fährt die Gruppe weiter nach Akademgorodok, ein Städtchen kurz vor den Toren Nowosibirsks, in den 50er Jahren in den Wald gebaut, damit Wissenschaftler in Ruhe forschen können. In der Sowjetunion war es ein Hort freien Denkens. Es ist ein Heimspiel vor allem für Tatjana Lasarjewa, sie stammt aus Akademgorodok. Im Publikum sitzen ihre Freunde, Nachbarn, Bekannte. Später gibt es Essen im Hinterzimmer, Wodka und Lieder von Bulat Okudschawa, dem bekannten Chansonnier. Der Name des Clubs ist Nikuda, auf Deutsch »Nirgendwohin«. »Die Chance war noch nie so groß, etwas dauerhaft in Russland zu ändern«, meint Maxim Blant. Sein Wodkaglas ist leer. »Jetzt ist es der Mittelstand, der aufbegehrt: Geschäftsleute, Angestellte, Journalisten.« Politik verliert das Stigma. »Ich hoffe, dass das lange anhält und nicht in einem Monat zu Ende ist.« Blant hat wieder Wodka im Glas. Der Supervisionsbedarf an diesem Tag ist groß. Alle trinken auf ein demokratisches Russland mit freien Menschen und die Wahl in einem Monat. Und ich bin mir noch einmal sicher, dass wir die Chronisten der letzten Phase der Demokratisierung Russlands werden.

»Moskau, Russland, Putin« – unter diesem Motto gibt Putin Vollgas, füllt Stadien mit bezahlten Demonstranten. Seine Anhänger tragen Schilder: »Wir verteidigen das Land« oder »Gegen orange Revolutionen«. Am 23. Februar begeht Russland den »Tag der Vaterlandsverteidiger«. Putin tritt im Luschniki-Stadion auf, dem Stadion der Olympischen Spiele 1980, dem größten Russlands. 100.000 Anhänger schwenken weiße, blaue und rote Luftballons. Zwar spricht er nur sieben Minuten, doch die haben es in sich: »Wir sind heute wahrhaftig Verteidiger unseres Vaterlandes! Wir lassen nicht zu, dass sich jemand in unsere inneren Angelegenheiten einmischt! Wir lassen nicht zu, dass uns jemand seinen Willen aufdrängt! Denn wir haben unseren eigenen Willen! Wir sind ein Siegervolk! Das ist in unseren Genen! Die Schlacht um Russland geht weiter! Der Sieg ist unser!« Ich bekomme eine Gänsehaut. Das kann er doch nicht ernst meinen. Welche Schlacht wird denn zurzeit in Russland gekämpft? Habe ich irgendetwas verpasst? Ich schwanke zwischen Angst und Verharmlosung der Rede als Wahlkampf. Aber Putin ist nicht der einzige führende russische Politiker, der so etwas sagt. Dmitrij Rogosin, Vizepremier und vier Jahre lang Botschafter Russlands bei der Nato, spricht bei einem Kongress zur Unterstützung der Armee von der »stählernen Faust im Lackhandschuh«: »Der Lackhandschuh ist unsere Diplomatie. Niemand darf daran zweifeln, was sich unter dieser Oberfläche verbirgt: eine stählerne Faust, hart und bereit, sich auf jeden Aggressor zu stürzen – oder auch auf eine Gruppe von Aggressoren, wenn sie sich erlauben, Russland anzugreifen.« Der Generalstabschef Nikolaj Makarow droht gar mit einem Präventivschlag, sollten die Amerikaner das Projekt des Raketenabwehrschirms wie geplant in Polen und Tschechien umsetzen. Dabei wurde Russland doch dezidiert eingeladen, sich daran zu beteiligen.

Zusätzlich zeigt das Fernsehen ständig Spielfilme und Dokumentationen über den Zweiten Weltkrieg. Ich sehe die Bilder und bekomme den Eindruck, dass die Bevölkerung auf Krieg vorbereitet wird. »Quatsch«, sagen alle, die schon lange da sind. »Das ist irrational, das macht Putin nicht.« Das finde ich schließlich auch, es ist ja auch beruhigender, das zu glauben. Ein mulmiges Gefühl aber bleibt und die Hoffnung, dass mich meine Ahnung täuscht.

Gegen Putin zu demonstrieren, scheint okay zu sein. Dagegen kann die Regierung noch nichts machen. Der Anschein von Demokratie soll ja, so gut es geht, gewahrt bleiben. Doch der Protest hat Grenzen, und die Performerinnen von Pussy Riot testen sie zielsicher aus. Bei klirrendem Frost stehen sie auf dem Roten Platz, in bunten Sommerkleidchen und mit Sturmhauben über dem Gesicht, und brüllen das Lied »Putin hat Schiss« – an dem Ort, an dem früher Zarenerlasse verlesen, an dem Ende des 17. Jahrhunderts Aufständische hingerichtet wurden, an dem 1968 acht Menschen gegen den Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei demonstriert haben.