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Über dieses Buch:

Wenn Liebe zur Bedrohung wird …

England im frühen 16. Jahrhundert. Heinrich VIII. hat sein Herz an Anne Boleyn verloren – ein Skandal, der das ganze Königreich mit Unruhen, Intrigen und Gewalt erschüttert. Derweil hat Damascina, die behütet aufgewachsene Tochter eines angesehenen Rechtsgelehrten, andere Sorgen: Sie ist hin- und hergerissen in ihren Gefühlen für Bruno, der in einem altwehrwürdigen Kloster aufwuchs. Die junge Frau ist verzaubert von seinem schönen Gesicht, fürchtet sich aber vor seinen dunklen Seiten – denn das Rätsel um seine Herkunft lastet schwer auf Brunos Schultern. Als sich plötzlich der Zorn des Königs auf Damascinas Familie richtet, droht sie alles zu verlieren, was ihr wichtig ist. Wird Bruno ihr beistehen … oder sie verraten?

Fesselnd und romantisch – der Auftakt der international erfolgreichen Saga »Die Töchter Englands«: Bestsellerautorin Philippa Carr verwebt große historische Ereignisse mit den Lebensgeschichten starker Frauenfiguren zum mitreißenden Lesevergnügen!

Über die Autorin:

Philippa Carr ist – wie auch Jean Plaidy und Victoria Holt – ein Pseudonym der britischen Autorin Eleanor Alice Burford (1906–1993). Schon in ihrer Jugend begann sie, sich für Geschichte zu begeistern: »Ich besuchte Hampton Court Palace mit seiner beeindruckenden Atmosphäre, ging durch dasselbe Tor wie Anne Boleyn und sah die Räume, durch die Katherine Howard gelaufen war. Das hat mich inspiriert, damit begann für mich alles.« 1941 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, dem in den nächsten 50 Jahren zahlreiche folgten, die sich schon zu ihren Lebzeiten über 90 Millionen Mal verkauften. 1989 wurde Eleanor Alice Burford mit dem »Golden Treasure Award« der Romance Writers of America ausgezeichnet.

Eine Übersicht über den Romanzyklus »Die Töchter Englands« finden Sie am Ende dieses eBooks.

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eBook-Neuausgabe April 2017

Copyright © der Originalausgabe 1972 by Philippa Carr

Die Originalausgabe erschien 1972 unter dem Titel »The Miracle of St. Bruno’s«.

Copyright © der deutschen Übersetzung 1979 by Franz Schneekluth Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/faestock und Chrispo

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-95824-996-7

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Philippa Carr

Das Geheimnis im Kloster

Roman

Aus dem Englischen übersetzt von Maria Csollàny

dotbooks.

Prolog

Als am frühen Weihnachtsmorgen des Jahres 1522 der Abt des Klosters St. Bruno den Vorhang zur Seite schlug, welcher die Marienkapelle vom Kirchenschiff trennte, erblickte er in der Krippe, die Bruder Thomas kunstvoll geschnitzt hatte, anstelle des hölzernen Jesusknaben ein lebendes Kind.

Der Abt, ein schon betagter Mann, glaubte zunächst, die auf dem Altar flackernden Kerzen hätten seinen trüben Augen einen Streich gespielt. Er schaute von der Krippe weg auf die steifen Figuren Sankt Josephs, der heiligen Maria und der drei Könige und sah dann hinauf zur Statue der Jungfrau, die hoch über dem Altar segnend ihre Arme ausbreitete. Nun erst wagte er, seine Augen zur Krippe zurückwandern zu lassen in der Gewißheit, die pausbäckige Holzfigur vor sich zu haben. Aber in der Krippe regte sich das Kind.

Er lief stolpernd aus der Kapelle. Zeugen mußten her.

Im Kreuzgang prallte er auf Bruder Valerian.

»Mein Sohn«, stammelte der Abt mit zitternder Stimme, »ich habe eine Erscheinung gesehen.«

Er führte Bruder Valerian zur Kapelle, wo sie zu zweit auf das Kind in der Krippe starrten.

»Ein Wunder«, flüsterte Bruder Valerian ehrfürchtig.

Alsbald umgab die Krippe ein Kreis schwarzgekleideter Gestalten: Bruder Thomas aus der Schreinerwerkstatt, Bruder Clemens aus der Backstube, die Brüder Arnold und Eugen aus dem Brauhaus, Bruder Valerian, der seine Tage mit dem Abschreiben von gelehrten Schriften zubrachte, und schließlich Bruder Ambrosius, dem die Aufgabe zugefallen war, Garten und Felder zu betreuen.

Der Abt schaute prüfend in die Gesichter der ehrfürchtig schweigenden Mönche. Bruder Ambrosius sagte leise: »Ein Kind ist uns geboren.« Der Abt bemerkte in seiner Miene, wie er vergeblich versuchte, der Bewegtheit Herr zu werden. Bruder Ambrosius, der erst zweiundzwanzig Jahre zählte, bereitete dem Abt geheime Sorgen. Oft fragte er sich, ob der ungestüme, heftige Mann sich wohl auf die Dauer dem kargen Gemeinschaftsleben anzupassen vermochte. Aber dann wieder kamen Zeiten, in denen sich der junge Mönch leidenschaftlicher und inbrünstiger den Klosterregeln unterwarf als alle seine Mitbrüder. Allmählich war der Abt zu der Überzeugung gelangt, die Bestimmung des Bruder Ambrosius sei es, entweder ein großer Sünder oder ein großer Heiliger zu werden, der seinem erwählten Herrn – möge das nun Gott oder der Teufel sein – mit bedingungsloser Hingabe diente.

»Wir müssen das Kind versorgen«, brach Bruder Ambrosius abermals das Schweigen.

»Ja, wird es denn bei uns bleiben?« fragte der sanftmütige Bruder Clemens einfältig.

»Wie ist der Knabe hergekommen?« überlegte der nüchterne Bruder Eugen.

»Fragt man denn, wie ein Wunder zustande kommt?« wies ihn Bruder Ambrosius mit blitzenden Augen zurecht.

Bald verbreitete sich die Kunde über das Wunder von St. Bruno im ganzen Land, und von weit her reisten Pilger zur geheiligten Stätte. Gleich den Weisen aus dem Morgenlande brachten sie Gaben für das Kind. Und in den folgenden Jahren bedachte mancher reiche Kaufmann, manche Witwe die Abtei im Testament, so daß das Kloster, dessen Armut in der näheren Umgebung sprichwörtlich war, im Laufe der Jahre zu einem der wohlhabendsten Kirchengüter Südenglands aufblühte.

Kapitel 1
Die Juwelenmadonna

Ich wurde im September des Jahres 1523 geboren, neun Monate nachdem die Mönche den Knaben in der Weihnachtskrippe gefunden hatten. Wie Vater zu sagen pflegte, hielt er meine Geburt für ein ebensolches Wunder. Er war damals vierzig Jahre alt – also nicht mehr jung –, während meine Mutter noch nicht zwanzig Jahre zählte. Seine erste Frau war nach mehreren Fehlgeburten an der Entbindung eines Knäbleins gestorben, das seine Mutter nur um wenige Stunden überlebte, so daß es für meinen Vater einem Wunder gleichkam, endlich ein gesundes Kind in den Armen zu halten.

Man kann sich den Jubel des Hauses unschwer vorstellen. Keziah, meine Kinderfrau und Beschützerin in jenen fernen Tagen, erzählte mir immer wieder von dem Fest.

»Gott bewahre«, sagte sie dann wohl, »war das vielleicht ein Umtrieb. Man hätten glauben können, ein Erbprinz sei zur Welt gekommen und nicht das kleine Mädchen eines Rechtsanwaltes. Wie auf einer Hochzeit ging es zu: all das Wildbret und die vielen Spanferkel. Und Plunderzöpfe gab’s und Safrankuchen mit Honigbier für alle, die des Weges kamen. Aus zwanzig Meilen im Umkreis stellten sich die Bettler ein. Zunächst erbaten sie drüben in der Abtei Ablaß für ihre Sünden. Danach kamen sie zu uns rüber und stopften sich den Bauch mit Kuchen voll. Und alles wegen dir.«

»Und wegen des Knaben«, erinnerte ich sie. Sehr früh schon war mir das Wunder von St. Bruno bewußt.

»Ja, natürlich«, gab Keziah zu. Und wie immer, wenn von dem Knaben die Rede war, spielte ein seltsames Lächeln um ihren Mund, das ihre derben Züge sonderbar verklärte.

Da meiner Mutter weiterer Kindersegen versagt blieb, wuchs ich auf im Gefühl meiner Einmaligkeit. Ich wurde umsorgt und behütet wie ein Fürstensproß.

Mein Vater war ein freundlich stiller Mann, der tagsüber seinen Geschäften in der nahen Hauptstadt nachging. Ein Diener in dunkelblauer Livree band dazu eines der Boote an der Anlegestelle hinter unserem Haus los und ruderte ihn flußabwärts. Bei schönem Wetter trug mich Mutter die Stufen hinab und hieß mich Vater nachwinken, der mich freundlich anlächelte, bis die wachsende Entfernung sein Gesicht meinen Blicken entzog.

Unser Haus, ein behäbiger Fachwerkbau mit hohen Giebeln, war vom Großvater erbaut worden. Es hatte eine geräumige Halle, viele Empfangs- und Schlafzimmer und einen großen Wintergarten. Eine breite Treppe führte zu den oberen Geschossen. Im Ostflügel gelangte man über eine steinerne Wendeltreppe zu den Dienstbotenkammern unter dem Dach. An die Küche im Rückgebäude schlossen sich Speise- und Räucherkammern an, dahinter lagen Waschküche, Backhaus und die Ställe. Wir hielten Pferde, Kühe und Schweine, vom Kleinvieh nicht zu reden. Zum Haus gehörte ein Landbesitz mit weitausgedehnten Äckern und Feldern, die Vater durch Knechte bestellen ließ. An unser Gut grenzten die Ländereien des St.-Bruno-Klosters. Vater war mit einigen Laienbrüdern befreundet – noch aus seiner Jugend, als er selber daran gedacht hatte, Mönch zu werden.

Hinter dem Haus zog sich bis zum Flußufer hin ein Garten, in dem Mutter ihre Lieblingsblumen anpflanzte: Iris und Tigerlilien, Lavendel, Rosmarin und Nelken – und natürlich ihre über alles geschätzten Rosen. Im Sommer vor meiner Geburt hatte ihr ein Freund des Hauses von einer Reise die dreißigblättrige Damaszenerrose, die Blume der Kreuzfahrer, mitgebracht. Mutter war von den herrlichen Blüten so entzückt, daß sie ihre einzige Tochter nach ihr benannte und mir den Namen Damascina gab. Auf dem sattgrünen Rasen zwischen den Rosenbeeten tummelten sich unsere Hunde, mißtrauisch beäugt von den schillernd bunten Pfauenhähnen und ihren schlichtgefiederten Hennen, die ebenfalls ein Anrecht auf den Rasen besaßen. Das Füttern der prächtigen Vögel gehört zu meinen frühesten Erinnerungen.

Schon von jeher liebte ich es, auf der steinernen Gartenmauer zu sitzen und auf den Fluß hinabzuschauen. Noch heute erfüllt mich der Anblick der kräuselnden Wellen mit Friede und Gelassenheit.

Die sichere Obhut meines Elternhauses nahm ich in jenen unbeschwerten Kindertagen als selbstverständlich hin und lernte sie erst schätzen, als mich das Schicksal eines Besseren belehrte.

Eine Begebenheit steht mir noch klar vor Augen. Ich war damals etwa vier Jahre alt, und der Fluß mit seinen bunten Schiffen zog mich unwiderstehlich an. Da mir streng verboten war, allein ans Ufer zu gehen – meine Eltern fürchteten, mir könne etwas zustoßen – –, tat mir Vater oft den Gefallen und spazierte mit mir zum Mäuerchen am Ende des Gartens. Dort setzte er sich auf die niedrige Umrandung, stellte mich neben sich und legte zärtlich seinen Arm um mich. Er zeigte mir die Boote auf dem Fluß, erklärte mir, wie sie hießen und wer ihre Eigentümer waren. So sagte er: »Schau, der Segler gehört dem Lord von Norfolk«, oder: »Das ist die Barkasse des Herzogs von Suffolk.« Die meisten Leute kannte er aus der Stadt oder von seinen Anwaltsgeschäften. Auch er war bekannt; viele Fischer und Handelsleute zogen im Vorüberfahren vor ihm die Mütze, und er grüßte freundlich winkend zurück.

An einem Sommertag erklang Musik von einem großen Prunkboot, das den Fluß heraufgesegelt kam. Jemand sang ein Lied, begleitet von Lautenakkorden.

»Sieh, Damascina«, sagte Vater leise, als könnte man ihn hören, »dort kommt die Barke des Königs.«

Ein so prächtiges Schiff hatte ich noch nie gesehen. Farbige Seidenwimpel flatterten von den gespannten Seilen, und auf dem goldbunt gestrichenen Deck erblickte ich festlich gekleidete Männer. Die Edelsteine an ihren Ketten und Wämsern funkelten in der hellen Sonne. Vaters Arm legte sich fester um mich. Ich fürchtete schon, er werde mich emporheben und ins Haus tragen.

»Bitte, nein!« wehrte ich ab.

Vater schien nicht zu hören. So klein ich war, bemerkte ich doch, wie mein sonst so selbstsicherer und überlegener Vater mit Befangenheit, ja Angst kämpfte. Er stand auf, wobei er mich unverändert festhielt. Die Barkasse glitt dicht an uns vorüber, Gelächter übertönte die Musik, und dann sah ich einen Mann, einen Riesen von Gestalt, mit rotgoldenem Bart und einem fleischigen Gesicht. Auf dem Kopf trug er ein mit Federn und Edelsteinen geschmücktes Barett, das wie sein Brokatwams im Sonnenschein glitzerte. Dicht neben ihm stand ein Mann in purpurfarbenem Gewand.

Vater zog seinen Hut und grüßte. Mir flüsterte er zu: »Mach einen Knicks, Damascina.«

Es war überflüssig. Ich wußte sehr wohl, was ich angesichts dieser göttlichen Erscheinung zu tun hatte.

Mein Knicks erwies sich als Erfolg; der Riese lachte gutmütig und winkte mir mit seiner beringten Hand zu. Das Schiff glitt an uns vorüber, und ich spürte, wie Vater tief aufatmete.

»Wer waren diese Männer, Vater?« fragte ich aufgeregt.

»Mein Kind, du hast eben dem König und seinem Kardinal deine Aufwartung gemacht.«

So also sah der König aus. Ich hatte von ihm gehört; nun wollte ich alles über ihn wissen. Die Leute sprachen seinen Namen mit einem scheuen Blick aus, in dem sich Angst und Ehrfurcht mischten.

»Wo fährt der König hin?« erkundigte ich mich.

»Nach Hampton Court. Du kennst das Schloß, mein Kleines.«

O ja, ich hatte das Schloß mit seinen Türmen und Zinnen bewundert, gegen das unser geräumiges Haus wie eine Fischerkate wirkte.

»Was tut er dort?«

»Es gehört ihm. Hin und wieder wohnt er dort für einige Wochen.«

»Du hast gesagt, er wohnt in Greenwich. Du hast mir sein Schloß gezeigt.«

»Liebes Kind, Heinrich der Achte besitzt viele Häuser und Schlösser. Der Kardinal hat ihm Hampton Court geschenkt.«

»So ein schönes Schloß? Hat es ihm nicht leid getan?«

»Nun, er wurde wohl … ein wenig gezwungen dazu.«

»Hat der König ihm das Schloß einfach weggenommen?«

»Still, Kind! Was du da sprichst, ist Hochverrat.«

Ich kannte das Wort nicht und merkte es mir, um später danach zu fragen. Im Augenblick interessierte mich vor allem, warum der König dem Kardinal Hampton Court fortgenommen hatte.

»Der Kardinal war sicher traurig, als er es ihm geben mußte«, bemerkte ich.

»Du willst es wieder mal ganz genau wissen«, wehrte Vater ab. Sonst war er sehr stolz auf meinen frühreifen Verstand und meine brennende Wißbegierde. Er ließ mir schon im zartesten Alter Unterricht erteilen und ermutigte mich, alles zu ergründen, was ich nicht verstand. Mit vier Jahren konnte ich bereits lesen und meinen Namen schreiben. Heute vermute ich, daß ich ein altkluges Kind gewesen sein muß.

»Sicherlich war er betrübt, als er dem König das Schloß schenken mußte«, sagte ich beharrlich. »Das ist ungerecht – nicht wahr, Vater?«

»Du darfst nicht so reden, Kleines. Als treue Untertanen müssen wir alle dem König gehorchen: ich und du und …«

»… und der Kardinal«, ergänzte ich.

»Du bist mein kluges Töchterchen«, lobte Vater erleichtert.

Nachdenklich sah ich eine Weile vor mich hin und sagte schließlich: »Da müssen wir froh sein, daß der König dem Kardinal das Haus weggenommen hat und nicht das unsere.«

Betroffen starrte Vater mich an und antwortete dann mit ernster Stimme, als spräche er zu einem Freund und nicht zu einem vierjährigen Kind: »Niemand steht für sich allein. Das Unglück eines einzelnen kann sehr rasch zum Unglück von uns allen werden.«

Ich verstand nicht recht, was er damit meinte, und blickte ihn scheu und verwirrt von der Seite an. Später sollte ich mich noch oft an die prophetischen Worte meines Vaters erinnern. Damals lenkte er mich rasch ab, indem er vorschlug: »Schau, wie hübsch die Weidenröschen blühen! Wollen wir nicht einen Strauß für Mutter sammeln?«

»O ja!« rief ich. Ich pflückte gern Blumen für Mutter, die sich über meine kleinen Gaben stets herzlich freute. Über den Weidenröschen vergaß ich den König und seinen traurigen Kardinal in der Prunkbarke.

Etwa ein Jahr später kamen Kate und Rupert in unser Haus. Einen furchtbaren Sommer lang wüteten die Pest und das Schweißfieber in Europa. Wie es hieß, waren Tausende in Frankreich und Deutschland der Seuche erlegen. In den schwülen Mittsommertagen griff die Krankheit auch in unserem Land um sich, und in den Duft der Blumen mischte sich süßlicher Gestank, der aus dem Fluß aufstieg.

In jener Zeit hielt ich mich an Keziah, wenn ich etwas über die alltäglichen Geheimnisse des Lebens erfahren wollte. Obwohl meine Eltern sehr stolz auf mein frühreifes Wesen waren, nahmen sie sich in ihren Reden vor mir in acht und überhörten gewisse Fragen, während Keziah unbekümmert drauflos schwatzte.

Eines Tages stellte sie auf dem Gang zur Stadt fest, daß einige Läden geschlossen hatten, da ihre Eigentümer der Pest zum Opfer gefallen waren.

»Diese fürchterliche Pestilenz, Gott schütze unser Haus vor ihr!« lamentierte sie in der Küche und schlug flehend die Augen zum Himmel auf.

Als die Seuche näher kam und auch in unserer Gegend Hunderte hinwegraffte, verschwand Keziah in die Wälder zu Großmutter Salter, die im Rufe einer Hexe stand, obwohl sie für jedes Leiden ein Tränklein bereit hatte. Erst als die unmittelbare Gefahr vorbei war, kehrte Keziah zu uns zurück. Wie sie mir voller Stolz im Vertrauen mitteilte, war die Alte ihre eigene Großmutter.

»Bist du auch eine Hexe, Keziah?« fragte ich neugierig.

»Schon möglich. Das hat schon manch einer gesagt«, antwortete sie lachend und schüttelte die wirren blonden Locken zurück. Ihre grünen Augen sprühten, als sie ihre Hände wie Klauen gegen mich ausstreckte und murmelte: »Wird besser sein, du bleibst hübsch brav – sonst hole ich dich in der Nacht.«

Ich quietschte vor Vergnügen bei dem Gedanken, Meine gute Kezzie könne mich entführen. Und dennoch: War es nicht besser, artig zu sein? Versteckte sich hinter ihrem schlauen Lächeln nicht manches Geheimnis, das sie keinem Menschen verriet? Keziah war für mich mit Abstand die interessanteste Person unserer Hausgemeinschaft. Trotz gelegentlicher Schauer fühlte ich mich bei ihr sicher, da sie mich sehr liebte. Von ihr hörte ich auch erstmals die Legende von St. Bruno. Vorausgesetzt, daß ich gehorsam war, wollte sie mir den Knaben einmal zeigen.

Dazu spazierten wir in den Garten zu der Mauer, die unseren Besitz vom Klostergarten trennte. Keziah hob mich hinauf. »Bleib ja still sitzen und rühr dich nicht«, befahl sie und kletterte mir nach. Sie wies auf eine Lichtung zwischen den Bäumen.

»Dort ist sein Lieblingsplatz. Wenn ich Wäsche aufhänge, sehe ich ihn oft dort sitzen. Vielleicht kommt er heute her.«

Sie behielt recht. Nach einer Weile, die wir plaudernd auf der Mauer verbracht hatten, kam der Knabe über den Rasen geschlendert. Er blickte zu uns herauf, als seien wir seltene Vögel auf einer Stange.

Obwohl mir das damals natürlich nicht bewußt wurde, beeindruckte mich die Schönheit des Knaben zutiefst. Ich saß da und schaute, mit dem einzigen Wunsch, ihn immerfort ansehen zu dürfen. Aus seinem blassen, etwas länglichen Gesicht leuchteten die dunkelsten blauen Augen, die ich je gesehen hatte. Das blonde Haar legte sich in weichen Locken um den Kopf. Er war ein wenig älter und kräftiger als ich und zeigte bereits damals eine selbstbewußte Haltung, die mich überwältigte.

»Heilig sieht er ja nicht gerade aus«, flüsterte Keziah.

»Vielleicht ist er dazu noch zu jung.«

»Wer seid ihr?« fragte der Knabe, der näher gekommen war.

»Ich heiße Damascina Farland und wohne dort drüben in dem Haus«, gab ich zur Antwort.

»Ihr habt dort oben nichts zu suchen. Das ist Klosterboden.«

»Du irrst dich, mein Lieber.« Keziah lachte glucksend. »Die Mauer gehört zu unserem Garten.«

Der Knabe sah sich um, ob ihn jemand aus dem Kloster beobachtete, und hob einen Stein auf. Drohend stellte er sich in Positur.

»Du bist garstig«, rief Keziah. »Siehst du wohl, Damascina – er ist gar kein heiliger Knabe! Viele Heilige waren in ihrer Jugend große Sünder, so steht es im Buch. Den Heiligenschein bekommen sie erst, wenn sie älter sind.«

»Der Knabe ist ja heilig von Geburt«, bemerkte ich leise.

»Du bist ein böses Weib!« schrie der Knabe und hob den Arm zum Wurf.

»Bruno«, rief eine zornige Männerstimme. Unbemerkt hatte sich ein Mönch über den Rasen genähert. Als er uns auf der Mauer sitzen sah, blieb er jäh stehen. Keziah blickte ihn mit einem spöttischen Lächeln an. Ich hatte ihn noch nie gesehen, denn im Gegensatz zu den Laienbrüdern verließen die geweihten Mönche niemals das Klostergebiet.

»Was tut ihr dort oben?« fragte er barsch. Ich glaubte schon, Keziah würde herabspringen und mit mir davonlaufen aus Angst vor seinem Zorn.

»Ich schaue mir bloß einmal den Knaben an. Das ist doch nicht verboten, oder?« erwiderte Keziah schnippisch.

Anscheinend verwirrte ihn ihre Unverfrorenheit, denn er schwieg.

»Ich wollte den Wunderknaben einmal meiner kleinen Miß zeigen«, plauderte Keziah weiter, als verstehe sich unser Tun von selbst. »Aber der böse Junge will uns mit Steinen verjagen.«

»Das war unrecht, Bruno«, tadelte der Mönch.

»Sie dürfen nicht dort oben sitzen.« Der Knabe legte trotzig den Kopf zurück.

»Und du darfst nicht mit Steinen werfen. Du weißt, Bruder Valerian hat dich gelehrt, alle Menschen zu lieben.«

»Die Sünder nicht«, erwiderte der Knabe stolz.

Ich verging fast vor Scham. Der heilige Knabe hatte selber gesagt, wie seien Sünder. Ich mußte an das Kind in der Krippe denken: Es war gekommen, um die Welt zu erlösen – und nicht, um Steine auf die Sünder zu werfen.

»Ihr seht gesund aus, Bruder Ambrosius«, sagte Keziah unbefangen, als spräche sie mit einem der Gärtner und nicht mit einem geweihten Mann. Am Ende des Satzes ließ sie einen Laut hören, der ebensogut ein unterdrücktes Weinen wie ein Lachen sein konnte.

Der Knabe beobachtete uns unablässig. Im Augenblick interessierte mich das, was zwischen Keziah und dem Mönch vorging, weitaus mehr. Mochte er meinetwegen heilig von Geburt sein und später ein Prophet oder dergleichen werden – im Augenblick war er ein Kind wie ich, während sich zwischen den Erwachsenen ein Netz jener geheimnisvollen Fäden spann, die ich bisher vergeblich zu ergründen versucht hatte.

Der Anblick von Laienbrüdern war keine Seltenheit in unserem Ort. Sie gingen stets zu zweit, wenn weltliche Geschäfte einen Gang außerhalb der Klostermauern erforderlich machten. Man sah sie auf den Feldern, wo sie die Arbeit der Knechte überwachten, sie gewährten Reisenden und Bettlern Obdach und eine Mahlzeit, wenn jemand hilfesuchend an der Klosterpforte klopfte.

Einen richtigen Mönch hatte ich bisher jedoch noch nie gesehen, und erst recht nicht im Gespräch mit einer Frau. Ich wußte damals nicht viel über Keziah und wunderte mich über die Keckheit, mit der sie den Mönch behandelte. Weshalb wies er sie nicht zurecht?

Aber er blickte sie nur sonderbar an und sagte lediglich: »Du solltest dich nicht um Sachen kümmern, die dich nichts angehen.« Dann nahm er den Knaben fest an die Hand und führte ihn fort. Ich hoffte, der Knabe würde sich umdrehen und noch einmal zurückschauen. Es fiel ihm gar nicht ein.

Als sie außer Sicht waren, sprang Keziah von der Mauer und half mir herab. Erregt begann ich zu plappern: »Bruno heißt er, hast du gehört?«

»Er ist nach dem Schutzheiligen des Klosters getauft.«

»Ist er jetzt der heilige Bruno?«

»Wohl kaum. Vielleicht wird er es mal.«

»Ich glaube, er mag uns nicht leiden.«

Keziah antwortete nicht. Sie schien über etwas nachzugrübeln. Bevor wir ins Haus eintraten, faßte sie mich an der Hand und sagte: »Hör zu, kleine Dammy! Das war unser Erlebnis. Wir wollen es geheimhalten und mit niemand darüber sprechen, ja?«

»Warum?«

»Es ist klüger so. Versprich es mir.«

Ich versprach es feierlich mit Handschlag.

John und James, zwei Laienbrüder und Freunde meines Vaters aus der Zeit, die er vor Jahren im Kloster zugebracht hatte, kamen hin und wieder zu uns ins Haus.

Eines Tages hatte ich lange mit den Hunden herumgetobt und schlich mich nun müde zu Vater, der mit einem Buch auf der Gartenbank saß. Auf seinen Knien schlief ich rasch und tief ein, wie nur Kinder es vermögen. Als ich erwachte, hörte ich Bruder John und Bruder James mit Vater reden. Ich hielt die Augen geschlossen und rührte mich nicht, um ihren Worten lauschen zu können.

»Weißt du, William«, sagte Bruder John gerade, »seit dem Wunder hat sich vieles in der Abtei verändert. Bloß gut, daß wir noch Vertrauen zueinander haben – wie damals, als du bei uns im Kloster weiltest.«

»Ganz richtig«, bestätigte Bruder James, der nur selten den Mund auftat.

»Ein trauriger Tag, als du uns verließest«, fuhr Bruder John fort. »Aber wahrscheinlich hattest du recht. Deine Wünsche sind erfüllt. Du hast ein gutes Weib, ein liebes Kind. Hast du auch den Frieden gefunden, den du suchtest?«

»Wenn alles bleibt, wie es heute ist, bin ich zufrieden«, erwiderte Vater.

»Alles auf der Welt ändert sich, William.«

»Ich weiß. Unsere Zeit ist sogar sehr rasch in Bewegung. Und mir gefällt die Richtung nicht, in der sie hintreibt.«

»Der König ist zügellos in seinen Begierden. Er will sein Vergnügen um jeden Preis. Und unsere gute Königin muß büßen für die Dame aus Hever, die nichts im Sinn hat, als unseren Frieden zu stören.«

»Arme Königin Katharina. Sie ist um viele Jahre älter als Heinrich. Was meint ihr – wie lange wird die neue Dame Heinrichs Herz gefangenhalten?«

Die Männer versanken in Schweigen.

Dann begann Bruder John: »Man hätte eigentlich denken sollen, daß unser Kloster nach der Ankunft des Knaben tugendhafter und frömmer geworden wäre. Eher das Gegenteil ist der Fall. Ich erinnere mich an einen Junitag, sechs Monate, bevor der Knabe zu uns kam. Die Hitze lastete auf dem Land, und ich spazierte aus dem verbrannten Garten zum Flußufer, um die kühlere Luft am Wasser zu genießen. Wir waren sehr arm damals, William. Im Jahr zuvor war die Ernte vor Nässe verdorben, wir mußten das Saatkorn kaufen. Und nun verdorrte das Getreide auf den Feldern. Es ging abwärts mit St. Bruno. Zwei Jahrhunderte nach seiner Gründung schien die Abtei dem Untergang geweiht. Einige von uns dachten daran, zu gehen. Wer blieb, würde über kurz oder lang vor Hunger und Kälte krank werden und sterben. So stand ich unten am Fluß und haderte mit dem Herrn. Nur ein Wunder konnte uns noch retten. Verstehst du, William: Ich bat nicht etwa, nein – verstockt und aufsässig forderte ich Gott auf, ein Wunder zu tun. Und zur Weihnachtszeit ging es in Erfüllung.«

»Nun, jedenfalls hat Gott dich erhört. Das Kloster ist wohlhabend, kein Mönch braucht mehr zu hungern oder zu frieren. Sei unbesorgt, daß es mit St. Bruno abwärtsgehen könnte. Noch nie in ihrer Geschichte hatte die Abtei so viel Einfluß.«

»Das ist wohl wahr, und doch frage ich mich, ob es besser so ist.

Mit dem Wohlstand ist der Krämergeist eingezogen. Wir sind hochfahrend und weltlich geworden. Hab’ ich nicht recht, Bruder James?«

James murmelte zustimmend.

»Möglicherweise ist es gottgefälliger, seinem Nächsten zu dienen, als sich in Meditationen und Kasteiungen zu verlieren«, meinte Vater.

»Das dachte ich früher auch. Nein, darum geht es nicht. Die Gegenwart des Knaben ist es, die unseren Frieden stört. Ob du mir glaubst oder nicht: Unsere Brüder wetteifern miteinander, dem Jungen einen Gefallen zu tun. Bruder Arnold ist eifersüchtig auf Bruder Clemens, weil Bruno öfter ins Backhaus als in die Braustube geht. Natürlich, weil er dort Kuchen zugesteckt bekommt. Die Schweigepflicht wird andauernd verletzt, überall hört man es flüstern, und immer über den Knaben. Sie spielen und toben mit ihm: ein unwürdiges Verhalten für Männer, die sich dem Ernst des Klosterlebens geweiht haben!«

»Es ist auch außergewöhnlich, daß Mönche ein Kind aufziehen!«

»Vielleicht hätten wir klüger getan, es einem Weib in Pflege zu geben. Deine gute Frau hätte den Knaben gewiß besser erzogen.«

Noch eben rechtzeitig hielt ich meinen Protest zurück. Was sollte dieser widerwärtige Knabe bei uns? Hier war ich zu Hause und Mittelpunkt allen Geschehens. Das fehlte mir noch, daß der Bursche zu uns kam und in unserem Hause ebensolchen Unfrieden stiftete wie drüben im Kloster. Ich horchte weiter.

»Er wurde euch gesandt«, gab Vater zu bedenken.

»Und doch zweifle ich, daß der Knabe ein Segen für uns ist. Wir haben an irdischem Wohlstand gewonnen und unsere stille Zufriedenheit eingebüßt. Wie ich schon sagte, beäugen sich Clemens und Arnold eifersüchtig und fallen beide über Bruder Thomas her, wenn er dem Jungen ein Pferdchen schnitzt. Ambrosius ist ruhelos. Wie er mir gestanden hat, fühlt er stets den Teufel hinter sich. Er geißelt sich blutig, aber das Fleisch triumphiert über den Geist. Ständig verstößt er gegen das Schweigegebot. Manchmal vermute ich, daß er draußen in der Welt besser aufgehoben wäre. Sein einziger Trost ist der Knabe, der ihn über alles liebt.«

»Was immer du auch einwendest, er ist ein Segen für euch. Der junge Bruno hat das Werk des alten Bruno vor dem Untergang gerettet. Du sagtest, er tröstet Bruder Ambrosius.«

»Und doch ist er ein Kind wie jedes andere. Gestern traf ihn Bruder Valerian mit einem heißen Fladen in der Hand an. Der Bub hätte ihn aus der Küche gestohlen. Stell dir das vor! Bruder Valerian war entsetzt. Der heilige Knabe hatte gestohlen! Clemens verteidigte ihn zwar und suchte es so darzustellen, als wäre es ein Irrtum, aber er verstrickte sich in Widersprüchen. Ich frage dich, William …«

»Harmloser Unfug«, meinte Vater begütigend.

»Harmlos? Daß er stiehlt und andere zur Lüge verleitet? In einem Kloster?«

»Beruhige dich. Immerhin zeugt es von der Güte des Bruders, daß er ihn in Schutz nahm.«

»Clemens hätte früher nie gelogen. Außerdem wird er fett. Ich habe den Verdacht, daß er dem Knaben heimlich Kuchen bäckt und, statt zu fasten, ihm beim Essen Gesellschaft leistet. Arnold und Eugen prüfen ihr Bier auch öfter, als nötig ist. Manchmal kommen sie taumelnd und mit hochroten Köpfen aus dem Braukeller. Ich habe gesehen, wie sie sich umarmten und stützten. Dabei ist uns vorgeschrieben, kein menschliches Wesen ohne Not zu berühren. Wir werden reich und träge, William. Das ist kein Klostergeist mehr.«

»Immerhin habt ihr keine Sorgen. Es sollen Klöster aufgelöst worden sein, um mit ihrem Besitz die königlichen Universitäten in Eton und Cambridge zu unterstützen?«

»Da hast du richtig gehört. Auch geht die Rede, daß die kleineren Klöster den größeren unterstellt werden sollen.«

»Um so besser für euch, daß St. Bruno zu den reichen Abteien des Landes zählt.«

»Im Augenblick mag das so scheinen. Vergiß nicht – die Zeiten wandeln sich schnell, und der König hat habgierige Ratgeber. Und seit sich die Kirche den Scheidungsgedanken Heinrichs widersetzt …«

»Still«, warnte Vater. »Es ist nicht ratsam, darüber zu reden.«

»Aus dir spricht der Rechtsanwalt«, erwiderte Bruder John lächelnd. »Im Ernst: Ich mache mir ebensolche Sorgen wie an jenem Tag, als ich am Fluß das Wunder herausforderte. Seit dem König eingefallen ist, er könnte die Ehe mit Katharina für ungültig erklären lassen und jenes Kebsweib heiraten, befindet er sich ständig in Gewissensnöten.«

»Der Papst wird ihm den Dispens nicht erteilen. Heinrich wird die Königin behalten müssen, und jenes Dämchen bleibt, was sie ist: eine Konkubine.«

»Gott gebe, daß du recht behalten mögest.«

»Außerdem ist sie krank. Der König ist halb verrückt vor Angst, daß sie sterben und ihn verlassen könnte.«

»Vermutlich bliebe uns dann manches Unheil erspart.«

»Willst du nicht nochmals um ein Wunder bitten, Bruder?«

»Nie wieder«, sagte Bruder John überzeugt.

Das Gespräch wandte sich anderen Dingen zu, die mich weniger interessierten. Ich schlummerte abermals ein und erwachte erst, als mich Mutters Stimme weckte. Aufgeregt rufend kam sie in den Garten gelaufen.

»Schlimme Botschaft, William«, sagte sie atemlos. »Meine Cousine Mary und ihr Mann sind beide am Schweißfieber gestorben. Wie entsetzlich!«

»Das ist in der Tat eine Schreckenskunde, meine Liebe. Wann ist es geschehen?«

»Vor über einer Woche. Zuerst starb Mary. Ihr Mann folgte ihr einige Tage später in den Tod.«

»Und die Kinder?«

»Sie leben. Als sich die ersten Anzeichen der Krankheit bemerkbar machten, schickte Mary die Kinder zu einer alten Dienerin aufs Land. Nun läßt die Dienerin uns als nächste Verwandte fragen, was mit den Waisen geschehen soll.«

»Mein Gott, was gibt es da noch zu überlegen? Natürlich nehmen wir sie auf. Fortan wird hier ihr Zuhause sein.«

Auf diese Weise traten Rupert und Kate in mein Leben ein.

Ihre Ankunft bewirkte mancherlei Veränderung in unserem Hauswesen. Unversehens war ich die jüngste einer Kinderschar: Rupert war vier, Kate zwei Jahre älter als ich. Zuerst zeigten sich die beiden naturgemäß scheu, und auch ich verhielt mich ablehnend, bis ich merkte, daß das Leben mit den neuen Gefährten zwar schwieriger, aber wesentlich interessanter zu werden versprach.

Trotz ihrer Pummeligkeit war Kate damals bereits eine kleine Schönheit. Sie hatte rötlichblondes Haar, hellgrüne Augen und eine milchweiße Haut mit winzigen Sommersprossen auf dem Nasenrücken. Schon mit ihren sieben Jahren war sie so eitel, daß jede Anspielung auf die bräunlichen Fleckchen sie zu Tränen erboste. In den Dingen des alltäglichen Lebens erwies sie sich als weitaus beschlagener, ja gerissener als ich; dafür war ich ihr in Griechisch, Latein und englischer Grammatik überlegen.

Genaugenommen sah Rupert ihr ähnlich; die Geschwister gaben jedoch ein Paradebeispiel dafür ab, wie sich dieselben vererbten Anlagen durch geringfügige Abweichungen verwandeln. Ruperts Haar war ebenfalls rotblond, aber stumpf und spröde; seine Augen hatten eine wäßriggraublaue Farbe, und sein Gesicht bedeckte ein Fleckenteppich von vielgestaltigen Sommersprossen. Er gehörte zu jenen bescheidenen Menschen, deren Gegenwart man kaum wahrnimmt, und war stets beflissen, meinen Eltern zu gefallen. Vater, der zunächst vorhatte, Rupert zum Rechtsanwalt auszubilden, verwarf seine Pläne bald, als er dessen Leidenschaft zur Landwirtschaft bemerkte. Rupert lebte förmlich auf beim Heuen und Ernten und brachte jeden freien Augenblick auf seinen geliebten Feldern zu.

Meine Eltern zeigten viel Verständnis für die verwaisten Geschwister. Noch bevor sie eintrafen, hatte Vater mir klargemacht, wie entsetzlich es für ein Kind ist, beide Eltern zu verlieren. Von nun an sollte ich Rupert und Kate als Bruder und Schwester betrachten, und falls mich je der Ärger gegen sie überkam, sollte ich mir vor Augen halten, wie glücklich ich gegen sie war, da ich ja Vater und Mutter hatte.

Naturgemäß steckte ich mehr mit Kate als mit Rupert zusammen. Nach dem Unterricht verschwand Rupert hinaus aufs Feld, wo er sich mit Schäfern und Kuhhirten unterhielt. Kate blieb bei mir im Haus und setzte alles daran, sobald sich die Tür des Schulzimmers hinter uns geschlossen hatte, meine Kenntnisse in den Wissenschaften durch ihre Lebensklugheit wettzumachen.

So rieb sie mir unter die Nase, daß unsere Familie im Vergleich zu der ihren durchaus nicht vornehm war. Ihr Vater hatte als Earl oft bei Hofe verkehrt, während der meine bloß ein bürgerlicher Anwalt war. Rupert hätte nach seiner Volljährigkeit große Erbgüter zu erwarten – was sich später allerdings als Irrtum herausstellte –, und es sei eine große Ehre für meinen Vater, daß er sich als ihr Vormund und Anwalt um ihre Angelegenheiten kümmern dürfe. Das war echt Kate: Schon früh verstand sie es, eine Gefälligkeit, die man ihr erwies, als besondere Gunst ihrerseits darzustellen.

Was ihre Zukunft betraf – nun, sie würde heiraten, selbstverständlich einen Herzog. Sie würden ein großes Landgut und einen Stadtpalast in London besitzen und bei Hofe ein- und ausgehen.

Seit Kate in mein Leben getreten war, erschienen all die harmlosen Vergnügungen meiner Kinderjahre, wie das Herumtollen mit den Hunden, das Pfauenfüttern und Blumenpflücken, als kindischer Zeitvertreib. Kate wußte viel aufregendere Spiele. Sie liebte es, sich zu verkleiden und andere Personen darzustellen und nachzuahmen; sie kletterte auf die Bäume und bewarf die Passanten mit Nüssen und Steinchen. Manchmal zog sie ein Laken über den Kopf und erschreckte damit die Mägde im Keller oder auf dem Trockenboden als ›Gespenst‹. Einmal tat sie das so wirkungsvoll, daß ein Küchenmädchen die Treppe hinunterfiel und sich den Knöchel brach. Ich mußte schwören, daß ich ihre Machenschaften nicht verriet, so daß unter den abergläubischen Dienstboten das Geraune ging, bei uns spuke es.

Wenn Kate in der Nähe war, war immer etwas los. Wo sich die Gelegenheit bot, horchte sie an den Türen und verkündete mir dann das meist Unverstandene als abenteuerliche Neuigkeit. Sie ärgerte unsere Lehrer bis zur Weißglut und streckte ihnen die Zunge heraus, sobald sie ihr den Rücken kehrten.

»Du bist genauso schlimm wie ich, wenn du über mich lachst, Dammy«, sagte sie oft. »Glaub ja nicht, daß du besser bist. Wenn ich wegen meiner Untaten in die Hölle muß, kommst du mit!«

Ein schrecklicher Gedanke. Dann besann ich mich auf die Logik meines Vaters und sagte mir, daß es gewiß weniger lasterhaft war, über eine Tat zu lachen, als sie zu begehen.

»Ich werde Vater fragen, ob das wahr ist.«

»Untersteh dich! Sonst erzähle ich ihm, was du in letzter Zeit alles angestellt hast.«

»Hab’ ich ja gar nicht! Das warst doch immer du!«

»Laß nur gut sein – er glaubt mir schon, wenn ich es ihm erzähle.«

»Du kommst in die Hölle, wenn du lügst.«

»Dorthin komme ich sowieso. Ein bißchen mehr oder weniger Bosheit macht da gar nichts aus.«

Zuletzt lief es immer darauf hinaus, daß ich Kate gehorchte, sobald sie ihr stärkstes Mittel einsetzte und drohte, mir ihre faszinierende Gesellschaft zu entziehen. Natürlich hatte sie recht bald heraus, wie viel mir an ihr gelegen war und wie sehr ich sie bewunderte. Sie erpreßte mich nach Strich und Faden. Oft sehnte ich mich nach der Gegenwart Ruperts. Wenn er dabei war, hatte ich von seiner Schwester nichts zu befürchten. Leider waren wir beide in seinen Augen zu jung und unvernünftig und außerdem Mädchen. Er verhielt sich zwar immer nett und freundlich gegen uns, ging uns aber möglichst aus dem Weg. Ich erinnere mich, wie er einmal an einem kalten Spätwintertag ein neugeborenes Lamm in die Küche brachte, das er hingebungsvoll pflegte und tatsächlich vor dem Tod rettete. Ich sah ihm zu und dachte daran, wie gut ich ihm sein könnte, wenn er sich ein wenig um mich kümmerte.

Ein paar Wochen später traf Vater mich allein im Garten. Wir gingen zum Fluß hinunter, er setzte sich auf die Mauer und legte den Arm um mich, wie in früheren Tagen.

»Es ist ein anderes Leben im Haus jetzt, nicht wahr?« fragte er. Ich nickte.

»Bist du froh darüber?«

Ich schaute ihn voller Zweifel an. Er drückte mich fester an sich, als er sagte: »Es ist besser so für dich, Damascina. Kinder sollten in Gesellschaft aufwachsen.«

Um ihn abzulenken, sprach ich von dem Tag, an dem wir den König mit dem Kardinal in der Prunkbarke vorübergleiten gesehen hatten. »Seitdem sind sie nicht wiedergekommen.«

»Nein, mein Kleines. Den Kardinal werden wir auch nicht mehr zu Gesicht bekommen. Prunk und Ehre sind vorbei für den armen Mann.«

»Warum denn?« fragte ich bestürzt.

»Kardinal Wolsey ist beim König in Ungnade gefallen. Sein Besitz wurde beschlagnahmt.«

Ich vermochte mir nicht vorzustellen, wieso der mächtige Kardinal zu einem armen Mann geworden war. Obwohl mir weitere Fragen auf der Zunge lagen, schwieg ich. So sehr hatten sich unsere Beziehungen gewandelt, daß ich nicht mehr Vater, sondern Kate um Rat und Erklärung fragte.

Als Kate und Rupert zwei Jahre bei uns wohnten und ich sieben Jahre alt geworden war, starb der Kardinal. Der König hatte ihn wegen angeblicher verräterischer Umtriebe in den Tower werfen lassen, wo er an Entkräftung zugrunde ging.

Mir kam es vor, als hätte es niemals eine Zeit ohne Kate und Rupert gegeben. In den beiden letzten Jahren hatte ich viel von Kate gelernt. Sie war nun neun, groß und kräftig gewachsen und sah mindestens zwei Jahre älter aus.

Ich hatte im Unterricht so gute Leistungen erbracht, daß der Lehrer Vater versicherte, ich könne mir in wenigen Jahren das nötige Rüstzeug eines Studenten erwerben. Er verglich mich dabei mit den gelehrten Töchtern von Sir Thomas More, dem Freund meines Vaters. Für mich hatten die Studien insofern große Bedeutung, als ich Kate auf diesem einen Gebiet zu übertreffen vermochte. Aber Kate rümpfte ihr Näschen über Griechisch und Latein.

»Was sollen die Zitate und Sprüche? Machen alte Sprachen etwa eine Herzogin aus dir? Du wiederholst ja doch bloß, was ein anderer längst vor dir gesagt hat.«

Und während ich mich in die alten Schriften vertiefte, ritt Kate mit Rupert ins Gelände hinaus. In ihrem grünen Reitgewand, ein passendes Federhütchen auf dem Kopf, wirkte sie wie der personifizierte Frühling. Wenn sie vorbeitrabte, blieben die Leute stehen und gafften ihr nach. Nur die Haltung ihres Kopfes und ein unterdrücktes Lächeln in den Mundwinkeln verrieten, daß Kate sich ihrer Wirkung voll bewußt war.

Sie tanzte leichtfüßig und graziös, sie improvisierte auf der Laute seltsam wohlklingende Liedchen, die sie mit einfachen Akkorden begleitete und die trotzdem besser gefielen als meine mühsam einstudierten Etüden. An Festen wie Weihnachten oder der Maifeier beherrschte sie die Szene. Als die Moriskentänzer in unser Haus eindrangen, tanzte sie mit ihnen, und meine Eltern, die sie zunächst hatten zurückrufen wollen, stimmten, überwältigt von ihrer Lieblichkeit, in den allgemeinen Applaus mit ein.

Oftmals jedoch, wenn Kate vor den versammelten Zuschauern brillierte, traf mich Vaters liebevoller Blick, der mir lächelnd bestätigte, daß niemand – und sei er noch so liebreizend und anmutig – mich von meinem Platz in seinem Herzen verdrängen konnte.

Kate verdankte ich, daß mir meine Eltern früher gewisse Freiheiten gewährten, als sie von sich aus getan hätten. Sie begriffen, daß sie mich nicht ewig als Kleinkind an der Hand führen konnten. Auch glaubten sie wohl, ich sei in der Obhut des älteren Mädchens gut aufgehoben, was in gewisser Hinsicht sogar zutraf. Kate mochte mich auf ihre Art gern leiden und hing an mir wie ein Ritter an seinem allzeit dienstbereiten Knappen. Und geschickt verstand sie zu verschleiern, was wir beide genau wußten – daß ich im Leben wie im Robin-Hood-Spiel den Part der Dame Marian neben ihr übernahm: eine Nebenrolle.

Als Kate vom Tod des Kardinals erfuhr, deutete sie die Geschehnisse auf ihre Weise.

»Warum hat er dem König nicht bei seiner Scheidung geholfen? Der König will Anne Boleyn haben, aber sie ist klug und sagt: ›Eure Gemahlin kann ich nicht sein, und Eure Mätresse will ich nicht sein.‹ Das macht den König verrückt.« Kate hob dabei ihre Hände, als wehrte sie einen stürmischen Liebhaber ab; das Wort ›Mätresse‹ hatte sie von den Erwachsenen aufgeschnappt. In diesem Augenblick war sie Anne Boleyn. Manchmal spielte sie mit dem Gedanken, ob ein Herzog als Gatte für sie wohl das passende sei? Warum nicht gleich der König? Wenn sie erst einmal bei Hofe auftauchte … »Und Königin Katharina?« fragte ich.

Kate schützte verächtlich die Lippen. »Sie ist alt und reizlos. Und sie vermag dem König keinen Sohn zu schenken.«

»Warum nicht?«

»Warum, warum. Du bist ein Dummkopf. Ich kann dir nicht erklären, warum sie keinen Sohn bekommt, dazu bist du viel zu klein.« Immer wenn Kate selber mit ihrem Latein am Ende war, behauptete sie, ich sei zu klein – oder zu dumm –, um es zu verstehen. Sie fuhr fort: »Der Kardinal hat sich auf die Seite des Papstes gestellt und versucht, dem König die Scheidung auszureden. Deshalb mußte er sterben. Warum war er auch so einfältig.«

»Hat der König ihn umgebracht?«

»Das nicht gerade. Bruder John hat mal zu deinem Vater gesagt, er starb an gebrochenem Herzen.«

»Wie schrecklich!« Ich dachte zurück an jenen nicht allzu fernen Tag, an dem er mich lachend neben dem König gegrüßt hatte.

»Aber wozu hat er sich dem König widersetzt? Der König will sich scheiden lassen und Anne Boleyn heiraten. Dann bekommt er von ihr einen Sohn, der später sein Nachfolger wird. So einfach ist das.«

Mir schien es nicht so einleuchtend.

»Weil du noch so unreif bist.«

Was mir im Gegensatz zu Kate sehr wohl auffiel und verständlich dünkte, war der Schatten, der sich seit dem Tode des Kardinals über das Land senkte. Was konnte man erwarten, wenn der König seinen vertrauten Freund auf diese Weise umkommen ließ? Vater ging oft mit sorgenvoller Miene im Haus umher. Wenn ich ihn ansprach, lächelte er liebevoll und gab sich unbekümmert; aber ich merkte dennoch, daß er eine Maske anlegte. Wollte er mich nicht vorzeitig betrüben, oder traute er mir nicht?

An einem sommerlichen Frühlingstag erwachte ihr Interesse für den Knaben.

Ich saß im Obstgarten unter einem Baum und lernte Vokabeln. Die Sonne schien warm vom Himmel, und das Summen pollenbeladener Bienen begleitete meine Stimme, als ich mir halblaut die lateinischen Wörter einprägte.

»Schmeiß das blöde Buch fort!« kommandierte Kate, die plötzlich aufgeregt hinter mir aufgetaucht war. »Ich zeig’ dir was.«

»Das Buch ist nicht blöd«, protestierte ich. Aber dann siegte die Neugier, und ich fragte: »Was hast du denn entdeckt?«

»Zuerst schwöre, daß du keiner Menschenseele davon weitersagst.«

»Von mir aus.«

»Nein, du mußt die Hand erheben und bei der Heiligen Mutter Gottes und deiner Seligkeit schwören, daß du niemand etwas verrätst.«

»Das wäre ja Gotteslästerung.«

»Schwöre, oder ich sage dir nichts.«

Achselzuckend hob ich die Hand und tat, wie sie verlangte. »So, und jetzt komm mit«, befahl Kate triumphierend.

Ich folgte ihr durch den Obstgarten, hinaus zu jener Mauer, auf der ich damals mit Keziah gesessen hatte. Über die alten Steine wuchs an einer Stelle ein Gewirr dichter Efeuranken. Kate schob den Pflanzenvorhang etwas zur Seite, und erstaunt blickte ich auf eine kleine Pforte.

»Ich hab’ nach Nestern gesucht, da entdeckte ich das Türchen da. Es geht schwer auf, die Angeln sind ganz verrostet. Hilf mir mal.«

Zu zweit stemmten wir uns gegen die Tür, die ächzend nachgab. Kate sprang in den Klostergarten.

Ich blieb auf unserem Grund stehen. »Kate, das dürfen wir nicht. Du kannst doch nicht einfach ins Kloster eindringen.«

»Ich hab’ stets gewußt, daß du ein Feigling bist, Damascina Farland«, rief Kate lachend. »Das letzte Mal, daß ich dir etwas Aufregendes zeige.«

Der Trotz trieb mich, fast gegen meinen Willen, zu ihr hinaus. Der Efeuvorhang rutschte auf seinen Platz zurück. Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, daß sich der Klosterbesitz von gewöhnlichem Land unterscheiden müsse. Aber das Gras war ebenso grün, und die Obstbäume trugen dieselben Blüten wie auf unserer Seite; nirgends ein Zeichen, daß wir geweihten Boden betreten hatten.

»Komm«, flüsterte Kate und zog mich an der Hand in ein dichtes Gebüsch, von dem aus wir die grauen Mauern der Abtei in der Ferne durch die Bäume schimmern sahen. »Wir gehen nicht zu nahe hin. Wenn die Mönche uns sehen, finden sie heraus, wo wir eingedrungen sind, und versperren die Pforte. So können wir herkommen, wann immer wir Lust haben.«

Wir bemerkten, daß sich hinter dem Gebüsch eine versteckte Lichtung aus hohem Gras befand. Weder aus unserem Garten noch aus dem Kloster konnte uns hier jemand erblicken. Ich muß hinzufügen, daß der Klostergarten an dieser Stelle mehr einem verwahrlosten Park glich. Das Grundstück war so weitläufig, daß nur der sonnigste Teil als Kräuter- und Gemüsegarten genutzt wurde. Wo wir uns versteckt hatten, wuchsen Holunderbüsche zwischen knorrigen alten Apfel- und Birnbäumen, deren Früchte sicherlich eingesammelt wurden, um die man sich jedoch das übrige Jahr kaum kümmerte.

Kate, die genau wußte, wie mir zumute war, beobachtete mich aus dem Augenwinkel. Am liebsten wäre ich schnurstracks durch die Pforte in unseren Garten zurückgelaufen.

»Was wohl die beiden Alten, John und James, sagen würden, wenn sie uns hier entdeckten?« mutmaßte Kate.

Eine Stimme in unserem Rücken gab die Antwort.

»In den Keller sperren würden sie euch und euch bei den Armen aufhängen, bis eure Hände verfaulen und ihr tot herabfallt.« Wir fuhren herum. Hinter uns stand der Knabe.

»Ich habe gesehen, wie ihr hereingeschlichen seid.«