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Entwicklung und Bildung in der frühen Kindheit

 

Herausgegeben von Manfred Holodynski, Dorothee Gutknecht und Hermann Schöler

Miriam Leuchter

Kinder erkunden die Welt

Frühe naturwissenschaftliche Bildung und Förderung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023434-5

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-032440-4

epub:   ISBN 978-3-17-032441-1

mobi:   ISBN 978-3-17-032442-8

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Vorwort der Herausgeberin und der Herausgeber

Die Lehrbuchreihe „Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit“ will Studierenden und Fachkräften das notwendige Grundlagenwissen vermitteln, wie die Bildungsarbeit im Krippen- und Elementarbereich gestaltet werden kann. Die Lehrbücher schlagen eine Brücke zwischen dem aktuellen Stand der einschlägigen wissenschaftlichen Forschungen zu diesem Bereich und ihrer Anwendung in der pädagogischen Arbeit mit Kindern.

Die einzelnen Bände legen zum einen ihren Fokus auf einen ausgewählten Bildungsbereich, wie Kinder ihre sozio-emotionalen, sprachlichen, kognitiven, mathematischen oder motorischen Kompetenzen entwickeln. Hierbei ist der Leitgedanke darzustellen, wie die einzelnen Entwicklungsniveaus der Kinder und Bildungsimpulse der pädagogischen Einrichtungen ineinandergreifen und welche Bedeutung dabei den pädagogischen Fachkräften zukommt. Die Reihe enthält zum anderen Bände, die zentrale bereichsübergreifende Probleme der Bildungsarbeit behandeln, deren angemessene Bewältigung maßgeblich zum Gelingen beiträgt. Dazu zählen Fragen, wie pädagogische Fachkräfte ihre professionelle Responsivität den Kindern gegenüber entwickeln, wie sie Gruppen von Kindern stressfrei managen oder mit Multikulturalität, Integration und Inklusion umgehen können. Die einzelnen Bände bündeln fachübergreifend aktuelle Erkenntnisse aus den Bildungswissenschaften wie der Entwicklungspsychologie, Diagnostik sowie Früh- und Sonderpädagogik und bereiten für den Einsatz in der Aus- und Weiterbildung, aber ebenso für die pädagogische Arbeit vor Ort vor. Die Lehrbuchreihe richtet sich sowohl an Studierende, die sich in ihrem Studium mit der Entwicklung und institutionellen Erziehung von Kindern befassen, als auch an die pädagogischen Fachkräfte des Elementar- und Krippenbereichs.

Der vorliegende Band „Kinder erkunden die Welt“ widmet sich einem aktuell heiß diskutierten Thema, der naturwissenschaftlichen Grundbildung im Kindergarten. Unter diesem Banner werden Kinder oftmals mit einem bunten Strauß naturwissenschaftlicher Phänomene überschüttet – zumeist ohne Bezug und Belege, was Kinder in dem Alter überhaupt an naturwissenschaftlichem Wissen verstehen und aufnehmen können. Dem stellt die Autorin Miriam Leuchter ein entwicklungspsychologisch und naturwissenschaftsdidaktisch fundiertes Konzept entgegen, wie man die frühe naturwissenschaftliche Bildung und Förderung altersangemessen konzeptualisieren und in der KiTa-Praxis nachhaltig umsetzen kann. Die Autorin ist eine der renommierten Expertinnen auf dem Gebiet der naturwissenschaftlichen Grundbildung. Sie hat als ausgebildete KiTa-Fachkraft, Fortbildnerin für KiTa-Fachkräfte und als Hochschullehrerin an der Universität Münster auf der Stiftungsprofessur „Naturwissenschaftliche Früherziehung“ und jetzt an der Universität Koblenz-Landau einen differenzierten Einblick in die aktuelle Forschung und KiTa-Praxis naturwissenschaftlicher Grundbildung.

Das Buch liefert eine überzeugende Analyse, was Kennzeichen naturwissenschaftlicher Forschung sind. Das neugierige Fragen von Kindern und das Tun und Ausprobieren sind allein noch keine naturwissenschaftlichen Tätigkeiten, auch wenn sich diese auf Naturphänomene beziehen. Vielmehr zeichnen sich genuin naturwissenschaftliche Tätigkeiten durch naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen aus, die als Anknüpfungspunkt für eine naturwissenschaftliche Grundbildung herangezogen werden können.

Es ist das große Verdienst dieses Buches, aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive die kognitiven, emotionalen und motivationalen Voraussetzungen für das Verstehen naturwissenschaftlicher Phänomene und Denkweisen systematisch zusammenzustellen und ein fundiertes Bildungskonzept zu formulieren, was Gegenstand, Inhalt und Methodik einer naturwissenschaftlichen Grundbildung für diese Altersgruppe sein können. Dazu werden altersangemessene Methoden und Unterstützungsformen sowie inspirierende Beispiele vorgestellt, wie naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen in der KiTa-Arbeit mit Hilfe des angeleiteten und freien Regel- und Konstruktionsspiels von Kindern angebahnt werden können.

Wir sehen das Buch als einen Meilenstein in der Konzeptualisierung naturwissenschaftlicher Grundbildung in KiTas. Denn es bezieht erstmals die entwicklungspsychologische, pädagogische und naturwissenschaftsdidaktische Perspektive in schlüssiger Weise aufeinander und gibt aufschlussreiche Anstöße und Orientierungen für eine interdisziplinäre Diskussion und Praxis einer altersangemessenen naturwissenschaftlichen Grundbildung.

 

Münster, Heidelberg und Freiburg im Dezember 2016
Manfred Holodynski, Hermann Schöler und Dorothee Gutknecht

 

Inhalt

  1. Vorwort der Herausgeberin und der Herausgeber
  2. 1 Einleitung
  3. 2 Was sind Naturwissenschaften?
  4. 2.1 Vorstellungen über das Wesen der Naturwissenschaften und der naturwissenschaftlichen Arbeit
  5. 2.2 Exkurs: Grundlegende Denkprozesse wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung
  6. 2.3 Denk- und Arbeitsweisen in den Naturwissenschaften
  7. 2.4 Naturwissenschaftliche Inhalte
  8. 2.5 Drei exemplarische naturwissenschaftliche Konzepte für die KiTa
  9. 2.6 Naturwissenschaftliche Tätigkeiten – ein Definitionsversuch
  10. 2.7 Schlussfolgerungen im Hinblick auf eine Naturwissenschaftsdidaktik für die KiTa
  11. 2.8 Weiterführende Literatur
  12. 3 Fachliche und bildungspolitische Richtlinien und Ziele einer frühen naturwissenschaftlichen Bildung
  13. 3.1 Scientific Literacy als fachliche Richtlinie
  14. 3.2 Bildungspläne der Bundesländer im Vergleich
  15. 3.3 Gesellschaftliche Vorstellungen über das Kind
  16. 3.4 Die den pädagogischen Fachkräften zugedachte Rolle
  17. 3.5 Schlussfolgerungen im Hinblick auf eine Naturwissenschaftsdidaktik für die KiTa
  18. 3.6 Weiterführende Literatur
  19. 4 Individuelle Voraussetzungen früher naturwissenschaftlicher Bildung: Entwicklung von Kompetenzen und Basiswissen im Alter von null bis sechs Jahren
  20. 4.1 Exkurs: Implizites und explizites Wissen und Methoden ihrer Erfassung
  21. 4.2 Basiskompetenzen in Bezug auf Denk- und Arbeitsweisen
  22. 4.3 Bereichsspezifisches Wissen im Themenfeld Physik
  23. 4.4 Schlussfolgerungen im Hinblick auf eine Naturwissenschaftsdidaktik für die KiTa
  24. 4.5 Weiterführende Literatur
  25. 5 ‚Konzept‘ als zentraler Begriff der Naturwissenschaftsdidaktik
  26. 5.1 Entstehung von Konzepten
  27. 5.2 Stabilität von Konzepten
  28. 5.3 Schlussfolgerungen im Hinblick auf eine Naturwissenschaftsdidaktik für die KiTa
  29. 5.4 Weiterführende Literatur
  30. 6 Der Wandel von Konzepten
  31. 6.1 Konzepte und ihr Wandel bei Kindern im Vorschulalter
  32. 6.2 Bedingungen für einen Wandel von Konzepten
  33. 6.3 Schlussfolgerungen im Hinblick auf eine Naturwissenschaftsdidaktik für die KiTa
  34. 6.4 Weiterführende Literatur
  35. 7 Das konstruktivistische Verständnis des Aufbaus von Konzepten in den Naturwissenschaften
  36. 7.1 Der Aufbau von Konzepten als selbstregulierter und aktiver Prozess
  37. 7.2 Der Aufbau von Konzepten als sozial gesteuerter Prozess
  38. 7.3 Der Aufbau von Konzepten als situierter Prozess
  39. 7.4 Beschränkungen der Informationsverarbeitung von Drei- bis Sechsjährigen
  40. 7.5 Schlussfolgerungen im Hinblick auf eine Naturwissenschaftsdidaktik für die KiTa
  41. 7.6 Weiterführende Literatur
  42. 8 Naturwissenschaftsdidaktik in der KiTa: Anregen und Unterstützen des Aufbaus von naturwissenschaftlichen Konzepten bei Vorschulkindern
  43. 8.1 Diagnostik
  44. 8.2 Prinzipien der Gestaltung wirksamer Angebote
  45. 8.3 Das Modell des Cognitive Apprenticeship
  46. 8.4 Gliederung der Bildungsangebote
  47. 8.5 Schlussfolgerungen im Hinblick auf eine Naturwissenschaftsdidaktik für die KiTa
  48. 8.6 Weiterführende Literatur
  49. 9 Die Anbahnung naturwissenschaftlicher Konzepte: Beispiele
  50. 9.1 Denk- und Arbeitsweisen exemplarisch einführen: Untersuchungen am Apfel
  51. 9.2 Beobachten
  52. 9.3 Ordnungsprinzipien finden, Ordnen
  53. 9.4 Vermutungen aufstellen, überprüfen und dokumentieren
  54. 9.5 Variablen vergleichen, Experimente planen, durchführen, dokumentieren und diskutieren
  55. 9.6 Naturwissenschaftliche Bildung mit dem Bauspiel fördern
  56. 9.7 Schlussfolgerungen im Hinblick auf eine Naturwissenschaftsdidaktik für die KiTa
  57. 9.8 Weiterführende Literatur
  58. 10 Ausblick: Naturwissenschaftlicher Unterricht in der Grundschule
  59. 10.1 Schlussfolgerungen im Hinblick auf eine Naturwissenschaftsdidaktik für die KiTa
  60. 10.2 Weiterführende Literatur
  61. Literatur

 

1          Einleitung

Naturwissenschaftliche Bildung soll bereits im frühen Kindesalter beginnen, diese Forderung wird in den letzten Jahren vermehrt geäußert. Argumente, mit welchen das frühere Einführen von naturwissenschaftlichen Bildungsinhalten begründet wird, sind die Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudien Third International Mathematics and Science Study (TIMSS) und Programme for International Student Assessment (PISA), bei denen die deutschen Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe 1 im unteren Mittelfeld abgeschnitten haben. Frühe naturwissenschaftliche Bildung soll nun dabei helfen, der hochtechnisierten Industrie fähigen Nachwuchs zu stellen. Weiter wird die verstärkte Technisierung der Gesellschaft als häufiger Grund für die Fokussierung auf die frühe naturwissenschaftliche Bildung angeführt: Mit der Technik werden bereits sehr junge Kinder konfrontiert, und für die Technik bilden die Naturwissenschaften im weitesten Sinn die Grundlagen. Das Bildungsdefizit in den oberen Stufen soll also aufgefangen werden, indem in den unteren Stufen, am besten schon beim ersten Kontakt mit institutionalisierter Bildung, naturwissenschaftliches Wissen aufgebaut wird.

Diese gesellschaftlichen Forderungen sind durchaus kritisch zu diskutieren, ist es doch auffallend, dass die Debatte zur fehlenden naturwissenschaftlichen Bildung in der Sekundarstufe eine Verlagerung der Problematik auf die ersten Bildungsjahre vornimmt. Generell wird erhofft, dass die Einführung von naturwissenschaftlichen Bildungsinhalten bereits ab drei Jahren für eine Verbesserung von naturwissenschaftlichen Leistungen in späteren Bildungsstufen sorgt (Leuchter & Möller, 2014). Zu bedenken ist, dass diese Argumente aber zu einem fehlgeleiteten Bild naturwissenschaftlicher Bildung im frühen Kindesalter führen können, indem Inhalte der Primar- und Sekundarstufe in den Bereich der Vorschule vorverlegt werden. Das anschlussfähig aufzubauende naturwissenschaftliche Wissen und die dahinterstehenden intellektuellen Anforderungen an die drei- bis sechsjährigen Kinder werden in vielen vorgeschlagenen naturwissenschaftlichen ‚Experimenten‘ und Spielen zudem kaum berücksichtigt.

Die Euphorie, mit der momentan ungeprüft allerlei naturwissenschaftliche Inhalte in die KiTa hineingebracht werden, hat auch damit zu tun, dass die Ausgangslage für frühe naturwissenschaftliche Bildung zunächst einmal bestens scheint: Drei- bis sechsjährige Kinder zeigen ein stark ausgeprägtes Interesse und spontane Neugierde (Conezio & French, 2002), sie beschäftigen sich gerne mit Phänomenen der Natur und stellen diesbezüglich viele Fragen.

Dennoch ist die Vorstellung, Wissensdefizite am Ende des Schulalters könnten mit der frühen Bildung aufgefangen werden, ein Trugschluss, wenn nicht geklärt ist, welche Bildungsziele sinnvollerweise mit drei- bis sechsjährigen Kindern angebahnt werden können und erreicht werden sollen. Es ist durchaus so, dass drei bis sechsjährige Kinder im Erleben der Umwelt auf naturwissenschaftliche Phänomene aufmerksam werden, Fragen dazu generieren, Wissen dazu erwerben und weiterentwickeln können. Eine sinnvolle Unterstützung in ihrem Erleben und Lernen muss aber altersadäquat und inhaltlich überzeugend geschehen.

Dieses Buch widmet sich den Fragen, was Kinder zwischen drei und sechs Jahren lernen können, wie die Neugierde erhalten, die Formulierung von Fragen gefördert und das Entdecken der Welt unterstützt werden können – im weitesten Sinn: was sie wissen können. Dabei wird der Begriff ‚Wissen‘ in verschiedenen Zusammenhängen verwendet. Pragmatisch wird in diesem Buch Wissen in einem breiten Sinn verstanden: Wird im Folgenden von ‚Wissen‘ gesprochen, umfasst dieser Begriff Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten im Sinne von ‚Können‘ im weitesten Sinn. Wissen wird hier also weder als ‚schulbezogen‘ noch als ‚abstrakt‘ oder als nur sprachlich verfügbar verstanden, es kann sich auch in Handlungen äußern.

Verbreitete Vorstellungen von Naturwissenschaften und naturwissenschaftlicher Bildung haben oft nur wenig mit der Arbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und mit Naturwissenschaften zu tun. Deshalb wird in Kapitel 2 (image Kap. 2) die Frage gestellt, wodurch Naturwissenschaften definiert werden und welche naturwissenschaftlichen Tätigkeiten von Kindern zwischen drei und sechs Jahren aufgrund ihres kognitiven Entwicklungsstandes überhaupt möglich sein können. Es wird aufgezeigt, dass allein Tun und Ausprobieren, auch wenn sich diese auf Naturphänomene beziehen, noch keine naturwissenschaftlichen Tätigkeiten sind. Vielmehr wird hier die Auffassung vertreten, dass genuin naturwissenschaftliche Tätigkeiten durch naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen ausgezeichnet werden.

Da Bildung immer im Spannungsfeld zwischen individuellen Voraussetzungen und gesellschaftlichem Anspruch steht, wird in Kapitel 3 (image Kap. 3) herausgearbeitet, welche übergreifenden Ziele für die gesamte naturwissenschaftliche Bildungsbiographie in den Blick genommen werden müssen und welche bildungspolitischen Richtlinien und Ziele für drei- bis sechsjährige Kinder daraus abgeleitet werden sollten. Dazu wird das Konzept Scientific Literacy vorgestellt sowie eine Auswahl von Bildungsplänen der Bundesländer miteinander verglichen.

Soll die Umsetzung dieser Bildungsziele gelingen, müssen entwicklungspsychologische Grundlagen früher naturwissenschaftlicher Bildung berücksichtigt werden. Dies wird in Kapitel 4 (image Kap. 4) darlegt. Hier geht es insbesondere um die Entwicklung von Basiskompetenzen im Bereich der Denk- und Arbeitsweisen sowie um die Entwicklung von bereichsspezifischem naturwissenschaftlichem Wissen, wobei exemplarisch der physikalische Wissensbereich ausgewählt worden ist. Beides ist eine wichtige Grundlage für die Planung und Durchführung naturwissenschaftlicher Bildungsangebote.

Im 5. Kapitel (image Kap. 5) liegt der Fokus darauf, wie – aus naturwissenschaftsdidaktischer Sicht – Wissen entsteht und welchen Bedingungen es unterliegt. Wissen tendiert dazu, träge und veränderungsresistent zu sein, so dass eine nachfolgende Umstrukturierung von wissenschaftlich falschem Wissen eine große Herausforderung darstellt. Kapitel 6 (image Kap. 6) zeigt auf, unter welchen kognitiven, motivationalen sowie situationsspezifischen und sozialen Bedingungen naturwissenschaftliches Wissen aus der Sicht der Naturwissenschaftsdidaktik verändert werden kann.

Im 7. Kapitel (image Kap. 7) wird ein konstruktivistisches Verständnis des Lernens als selbstregulierter und aktiver, sozialer und situativer Prozess dargestellt sowie auf Einschränkungen der Lernfähigkeit von Kindern im KiTa-Alter hingewiesen, die durch das sich entwickelnde Arbeitsgedächtnis hervorgerufen werden. Daraus werden jedoch keine direkten Schlussfolgerungen für die Lernunterstützung gezogen. Vielmehr werden die Grundlagen des Lernens naturwissenschaftsdidaktisch interpretiert.

In Kapitel 8 (image Kap. 8) werden insbesondere die Handlungsorientierung sowie der Einsatz von Variationen und Wiederholungen als didaktische Merkmale herausgearbeitet. Anschließend werden auf Grundlage des Modells Cognitive Apprenticeship materiale und verbale Unterstützungsmaßnahmen erörtert, die Kindern dabei helfen, ihr Lernen selbstständig zu steuern. Das Kapitel schließt mit Überlegungen zur Organisation von Lernangeboten für drei- bis sechsjährige Kinder und führt zur Ausarbeitung von konkreten Beispielen für Angebote in der KiTa.

Im 9. Kapitel (image Kap. 9) werden ausgehend von den beschriebenen naturwissenschaftlichen Denk- und Arbeitsweisen Angebote skizziert, mit denen anhand von in der KiTa vorhandenen Materialien frühe naturwissenschaftliche Bildung unterstützt werden kann. Anschließend werden Vorschläge ausgeführt, wie das Bauspiel als naturwissenschaftliche Lerngelegenheit genutzt werden kann. In einem kurzen Exkurs werden diagnostische Aspekte der Naturwissenschaftsdidaktik skizziert. Das Kapitel schließt mit einem Hinweiskatalog für die eigene Planung von naturwissenschaftlichen Angeboten und einer kritischen Diskussion von einigen verbreiteten Vorschlägen für die naturwissenschaftliche Bildung in der KiTa.

In Kapitel 10 (image Kap. 10) wird abschließend ein Ausblick auf den naturwissenschaftlichen Unterricht in der Grundschule gegeben und auf mögliche Herausforderungen bei der Umsetzung von stufenübergreifenden naturwissenschaftlichen Projekten in KiTa und Grundschule hingewiesen.

 

2          Was sind Naturwissenschaften?

Sollen Naturwissenschaften charakterisiert werden, stimmen Laien und Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler meist nicht überein. Dies hat nur teilweise mit dem unvollständigen Wissen der Nicht-Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zu tun, vielmehr werden bei Laien tief verwurzelte Überzeugungen, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten und wie Wissen zustande kommt, identifiziert (Lederman, Abd-El-Khalick, Bell & Schwartz, 2002). Fragen wie „Ist naturwissenschaftliches Wissen über alle Zeit beständig und muss einfach nur ‚entdeckt‘ werden, oder ist es veränderlich und entwickelt sich langsam weiter?“ bzw. „Wird naturwissenschaftliches Wissen von Autoritäten weitergegeben, oder wird es sozial konstruiert?“ sind dabei meist nicht eindeutig zu beantworten. Auch Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler selbst sind sich nicht einig darüber, wie ihre Arbeit am besten beschrieben werden kann. Daher soll im Folgenden auch kein Versuch unternommen werden zu klären, was Wissenschaften oder Naturwissenschaften SIND, sondern dazu angeregt werden, darüber nachzudenken, was man sich unter Wissenschaft vorstellen kann und wie über Wissen und Wissenschaft gesprochen wird.

Die Vorstellungen über die Struktur des Wissens und des Wissenserwerbs beeinflussen sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen das Wahrnehmen sowie das Lehren und Lernen von Naturwissenschaften. Deshalb müssen die Fragen nach den eigenen Überzeugungen und nach dem eigenen Wissen von pädagogischen Fachkräften geklärt werden, bevor naturwissenschaftliche Bildungsinhalte geplant und durchgeführt werden. Angemessene Vorstellungen über das Wesen der Naturwissenschaften zu erwerben und zu wissen, wie sie ‚funktionieren‘, gehört zudem zur naturwissenschaftlichen Grundbildung. Im Folgenden werden zunächst Vorstellungen über das Wesen von Naturwissenschaften vorgestellt (image Kap. 2.1), um danach grundlegende Denkprozesse zur Gewinnung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse darzustellen (image Kap. 2.2). Darauf aufbauend werden naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen (image Kap. 2.3) und naturwissenschaftliche Inhalte (image Kap. 2.4) beschrieben, um exemplarische naturwissenschaftliche Konzepte für die Bildung im Kindergarten vorzuschlagen (image Kap. 2.5). Das Kapitel schließt mit einem Definitionsversuch naturwissenschaftlicher Tätigkeiten (image Kap. 2.6).

2.1       Vorstellungen über das Wesen der Naturwissenschaften und der naturwissenschaftlichen Arbeit

Vorstellungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zum Wissen und zur wissenschaftlichen Arbeit im naturwissenschaftlichen Bereich wurden und werden mit unterschiedlichen Untersuchungsmethoden analysiert. Folgende Fragen und Antworten sind an ein Interview angelehnt, mit dem bei Kindern der dritten Grundschulklasse Vorstellungen über das Wesen von Naturwissenschaften (image Thema 1) und das Denken und Arbeiten von Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern (image Thema 2) erfasst wurden (Grygier, 2008). Anhand der Antworten lassen sich gängige Vorstellungen einander gegenüberstellen und in eine Niveau-Ordnung (0 bis 2) bringen: ‚0‘ ist dabei definiert als eine naive bzw. unwissenschaftliche Vorstellung, ‚1‘ als eine Zwischenvorstellung und ‚2‘ als annähernd wissenschaftlich.

Tab. 1: Das Wesen der Naturwissenschaften (Thema 1).

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FrageAntwort

Tab. 2: Denken und Arbeiten von Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern (Thema 2).

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Die hier zusammengestellten Antworten auf Niveau 2 sind nicht abschließend als ‚richtig‘ anzusehen, sie spiegeln jedoch ein informiertes Verständnis der Naturwissenschaften und ihrer Methoden im Allgemeinen wider. Naturwissenschaftsdidaktiker nehmen mit ihren Einschätzungen zum Wesen der Naturwissenschaften folgende Perspektiven ein – auch diese sind jedoch nicht als definitiv anzusehen, sondern werden ständig diskutiert und überprüft (vgl. auch Neumann & Kremer, 2013; Osborne, Collins, Ratcliffe, Millar & Duschl, 2003):

  Vorläufigkeit: Naturwissenschaftliches Wissen ist nicht abgeschlossen, sondern entwickelt sich ständig weiter. So ermöglichen neuere Erkenntnisse zu Krankheiten und über pflanzliche/chemische Wirkstoffe die Entwicklung von passgenaueren Medikamenten.

  Empiriebasierte Evidenz: Naturwissenschaftliche Einsichten können nur durch Erfahrungen gewonnen werden. Untersuchungen werden durchgeführt, um zuvor definierte Zustände oder Prozesse und deren Veränderungen beobachten zu können. Die dabei gewonnenen Ergebnisse werden anschließend nach definierten Kriterien interpretiert. Beobachtungen und Schlussfolgerungen werden getrennt. Durch reines Nachdenken allein können demnach keine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse gewonnen werden.

  Wissenschaftliche Gütekriterien: Naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse müssen methodisch abgesichert und in einer Testreihe kritisch geprüft werden. Eine einzige Untersuchung ergibt noch keine sicheren Erkenntnisse, sondern Untersuchungen müssen mehrere Male wiederholt werden und jeweils zu vergleichbaren Resultaten führen. Erst dann lassen sie sich von Zufallsbefunden unterscheiden. Daher muss die Untersuchungsmethode klar dargestellt und so festgehalten werden, dass die Untersuchung jederzeit wiederholbar ist und auch von anderen Forschenden wiederholt werden kann.

  Erkenntnisgewinn: In den Naturwissenschaften werden Fragen gestellt und theoriegeleitet Vermutungen formuliert, um Phänomene vorherzusagen und zu erklären – im Bewusstsein, dass dieser Erkenntnisgewinn vorläufig ist. Ohne Theorie kann keine Vermutung aufgestellt werden, auch nicht bei der einfachsten Untersuchung. Wird also z. B. die Vermutung aufgestellt, dass alle Dinge, die ein Loch haben, im Wasser sinken, liegt dieser Vermutung vereinfacht gesagt eine Theorie zu Löchern, Wasser und Objekten zugrunde – auch wenn sie nicht explizit formuliert wird. Um einen Erkenntnisgewinn zu erzielen, ist es wichtig, dass die Theorie bewusst gemacht und geäußert wird, d. h. in unserem Beispiel die vermuteten Beziehungen zwischen Gegenständen, Löchern und Wasser ausformuliert und auch möglichst schriftlich fixiert werden. Nur so kann – sollte eine Untersuchung die Vermutung widerlegen – anschließend auch die Theorie (die vermuteten Beziehungen zu Löchern, Wasser und Objekten) überarbeitet werden.

  Kreativität: Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler arbeiten kreativ und folgen nicht immer vorgegebenen Pfaden. Zwar wird häufig entlang eines sog. ‚Erkenntniszirkels‘ geforscht (image Kap. 2.3), doch nicht immer werden zwingend alle Schritte dieses Zirkels vollständig durchlaufen.

  Soziale Eingebundenheit: Kooperation und Austausch sind für die Entwicklung naturwissenschaftlichen Wissens zentral. Naturwissenschaftliche Erkenntnis wird heute mehr denn je im Team gewonnen. Aber auch in früheren Jahrhunderten standen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in regem Austausch und pflegten eine intensive briefliche Korrespondenz (Janich, 1997).

  Zusammenspiel mit der Technik: Technik und Naturwissenschaften sind untrennbar miteinander verbunden. Werkzeuge und Messinstrumente spielen nicht erst heute eine wichtige Rolle in den Naturwissenschaften. Beispielsweise ermöglichte der Einsatz des Werkzeugs ,Teleskop‘ schon seit dem 17. Jahrhundert Erkenntnisse in der Astronomie. Werkzeuge und Messinstrumente sind technische Instrumente, die stets geeicht sein müssen, denn ihre Korrektheit hat einen starken Einfluss auf die Ergebnisse von Untersuchungen und damit eine große Bedeutung für die Erkenntnisse in den Naturwissenschaften (Steinle, 1997). Umgekehrt üben Erkenntnisse, bei denen zunächst nur ihr naturwissenschaftlicher Aspekt verstanden wurde, einen großen Einfluss auf technische Errungenschaften aus (z. B. können durch das Verständnis der Atomstruktur chemische oder physikalische Reaktionen gesteuert und neue Werkstoffe gewonnen werden).

  Naturwissenschaften im Gefüge von Gesellschaft und Kultur: Naturwissenschaftliche Erkenntnisse werden vom historischen und sozialen Umfeld geprägt. Religiöse Vorstellungen haben die Möglichkeiten zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis und zu derer Verbreitung lange geprägt. So ist z. B. das Weltbild, in dem die Erde den Mittelpunkt des Planetensystems bildet, lange aus religiösen Gründen unangreifbar gewesen, nun aber seit Kopernikus überholt (image Kap. 5.2).

  Vielfältigkeit: Methoden und Ziele der Naturwissenschaften sind mehrdimensional. In erster Linie werden je nach Fragestellung und Ziel unterschiedliche Methoden benötigt – die Untersuchung des Planetensystems kann u. a. durch die Beobachtung mit Teleskopen geschehen, die Untersuchung von chemischen Eigenschaften eines Stoffes durch Laborexperimente. Mit verschiedenen Fragestellungen und Zielen (und demnach auch unterschiedlichen Methoden) können die gleichen Gegenstände untersucht werden. Beispielsweise können Pflanzen aus einem botanischen Interesse bezüglich des Verständnisses der Arten untersucht werden oder aus einem pharmakologischen Interesse auf der Suche nach einem Wirkstoff.

In den Naturwissenschaften geht es also darum, vorläufige Erklärungen zu finden, welche mit einer Untersuchung geprüft werden. D. h. aufgrund von bereits bestehenden Theorien werden Vermutungen aufgestellt, die so formuliert werden müssen, dass sie durch eine Untersuchung bestätigt oder widerlegt werden können. Dazu müssen Untersuchungen so angelegt und beschrieben werden, dass sie (von anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern) wiederholt werden können. Auf diese Weise werden Theorien durch die Ergebnisse von Untersuchungen verfeinert, bestätigt oder widerlegt. Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler gehen also in ihrer Arbeit Fragen auf den Grund, indem sie aus Theorien abgeleitete Vermutungen in Untersuchungen prüfen, ihre Ergebnisse mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern diskutieren und das Wissen so weiterentwickeln. Dieser Prozess ist jedoch nicht geradlinig. Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler weichen in ihrem Forschungsprozess manchmal von ihren zunächst beschlossenen Vorgehensweisen ab oder machen Fehler, welche zu unvorhergesehenen Ergebnissen führen, oder ihr Experiment widerlegt ihre aufgestellten Vermutungen, so dass die eigenen Theorien überdacht und neue Vermutungen formuliert werden müssen.

In Bezug auf eine frühe naturwissenschaftliche Bildung ist häufig von Kindern als ‚intuitiven Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern‘ die Rede. Diese Metapher ist jedoch irreführend, da bei Kindern zwischen drei und sechs Jahren die Fähigkeit nicht voll ausgebildet ist, Theorien (oder einfacher: Vermutungen) und Beobachtungen systematisch zusammenzuführen (siehe Beispiel unten). Dies wird jedoch als entscheidendes Kennzeichen der wissenschaftlichen Tätigkeit angesehen (Schnotz, 2001).

Beispiel: Kinder können Theorien und Beobachtungen nicht systematisch zusammenführen

Kinder können der Überzeugung sein, dass alle Dinge mit Loch sinken. Anhand eines hölzernen Vorhangrings, den sie ins Wasser legen, können sie zwar beobachten, dass ihre Theorie, dass alle Dinge mit Löchern sinken, falsch ist und der Vorhangring schwimmt. Dennoch können sie durchaus noch weiter daran festhalten, dass Dinge mit Löchern sinken und auf ihrer Theorie beharren.