Erstes Kapitel.
Wie Kandid in einem schönen Schlosse erzogen wurde und wie man ihn von dannen jagte.

Inhaltsverzeichnis

Im Schlosse des Freiherrn v. Thundertentronckh in Westfalen lebte um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein junger Bursche, der von Natur die Sanftmuth selbst war. Seine Gesichtszüge waren der Spiegel seiner Seele. Er besaß eine ziemlich richtige Urtheilskraft und ein Gemüth ohne Arg und Falsch; aus diesem Grunde vermuthlich nannte man ihn Kandid. Die ältern Bedienten des Hauses hatten ihn in starkem Verdacht, der Sohn einer Schwester des Freiherrn und eines braven, ehrenwerthen Edelmannes aus der Nachbarschaft zu sein, zur Vermählung mit welchem sich das Fräulein nicht hatte entschließen können, weil er nun einundsiebenzig Ahnen aufzuweisen vermochte, und die Wurzel seines Stammbaums durch den zerstörenden Zahn der Zeit verloren gegangen war.

Der Freiherr war einer der ansehnlichsten Landedelleute Westfalens, denn sein Schloß war mit Thorweg und Fenstern versehen, ja den großen Saal zierte sogar eine Tapete. Alle Hunde seines Viehhofes machten im Nothfall eine Meute aus; die Stallknechte waren seine Bereiter, der Dorfpastor war sein Großalmosenier; sie nannten ihn alle »Gnädiger Herr« und lachten, wenn er Anekdoten erzählte.

Die gnädige Frau, die etwa 350 Pfund wog, hatte sich dadurch in hohes Ansehen gesetzt und machte bei Gelegenheit die gnädige Wirthin mit einer Würde, wodurch sie noch größere Ehrfurcht einflößte. Ihre siebenzehnjährige Tochter Kunigunde war ein frisches, üppiges, rothwangiges, reizendes Kind. Der Sohn des Freiherrn schien in allen Stücken seines Papas würdig. Der Hauslehrer Pangloß war das Orakel des Hauses, und der kleine Kandid hörte auf seinen Unterricht mit der treuherzigen Leichtgläubigkeit, die sein Alter und seine Gemüthsart mit sich brachte.

Pangloß lehrte die Metaphysikotheologokosmonarrologie. Er bewies auf unübertreffliche Weise, daß es keine Wirkung ohne Ursache gebe, und daß in dieser besten aller möglichen Welten das Schloß des gnädigen Herrn das beste aller möglichen Schlösser und die gnädige Frau die beste aller möglichen gnädigen Freifrauen sei.

»Es ist erwiesen,« sagte er, »daß die Dinge nicht anders sein können: denn da Alles zu einem Zweck geschaffen worden, ist Alles nothwendigerweise zum denkbar besten Zweck in der Welt. Bemerken Sie wohl, daß die Nasen geschaffen wurden, um den Brillen als Unterlage zu dienen, und so tragen wir denn auch Brillen. Die Beine sind augenscheinlich so eingerichtet, daß man Strümpfe darüber ziehen kann, und richtig tragen wir Strümpfe. Die Steine wurden gebildet, um behauen zu werden und Schlösser daraus zu bauen, und so hat denn auch der gnädige Herr ein prachtvolles Schloß; der größte Freiherr im ganzen westfälischen Kreise mußte natürlich am besten wohnen, und da die Schweine geschaffen wurden, um gegessen zu werden, essen wir Schweinefleisch Jahr aus, Jahr ein. Folglich sagen die, welche bloß zugeben, daß Alles gut sei, eine Dummheit: sie mußten sagen, daß nichts in der Welt besser sein kann, als es dermalen ist.«

Kandid hörte aufmerksam zu und glaubte in seiner Unschuld Alles; denn er fand Fräulein Kunigunden äußerst reizend, obgleich er sich nie erdreistete, es ihr zu sagen. Er hielt es nächst dem Glücke, als Freiherr von Thundertentronckh geboren zu sein, für die zweite Stufe der Glückseligkeit, Fräulein Kunigunde zu sein, für die dritte, sie alle Tage zu sehen, und für die vierte, der Weisheit des Magister Pangloß lauschen zu dürfen, des größten Philosophen Westfalensund folglich der ganzen Erde.

Eines Tages lustwandelte Kunigunde in einem kleinen Gehölz in der Nähe des Schlosses, das man den Park nannte, da erblickte sie im Gebüsch den Doctor Pangloß, als er gerade der Kammerjungfer ihrer Mutter, einer kleinen sehr hübschen und gelehrigen Brünette, Privatunterricht in der Experimental-Physik ertheilte. Da Fräulein Kunigunde sehr wißbegierig war, beobachtete sie mit angehaltenem Athem die wiederholten Experimente, die vor ihren Augen vorgenommen wurden. Sie sah deutlich die ratio sufficiens des Doctors, die Wirkungen und die Ursachen. Auf dem Heimwege war sie höchst aufgeregt, tiefsinnig und voll des Verlangens, ihre Kenntnisse zu bereichern, wobei sie sich dachte, daß sie wohl die ratio sufficiens des jungen Kandid und er die ihrige vorstellen könnte.

Als sie zum Schlosse zurückkam, begegnete sie ihm und erröthete; Kandid erröthete gleichfalls, sie begrüßte ihn mit unsichrer Stimme, und Kandid sprach mit ihr, ohne zu wissen, was er sagte. Am folgenden Tage nach dem Mittagessen, als man eben vom Tisch aufstand, trafen Kunigunde und Kandid sich zufällig hinter einer spanischen Wand. Kunigunde ließ ihr Taschentuch fallen; Kandid hob es auf; sie faßte ihn in ihrer Unschuld bei der Hand; der junge Mensch küßte in seiner Unschuld die Hand des jungen Fräuleins mit einer Lebhaftigkeit, einem Feuer der Empfindung, einer Anmuth, die ihm bis dahin fremd war. Ihre Lippen begegneten sich, ihre Augen glühten, ihre Kniee zitterten, ihre Hände verirrten sich. In diesem Augenblick ging der Freiherr von Thundertentronckh an der spanischen Wand vorüber, und da er jene Ursache und jene Wirkung sah, jagte er unsern Kandid mit derben Fußtritten zum Schlosse hinaus. Kunigunde fiel in Ohnmacht; mit Ohrfeigen brachte die gnädige Frau Mama sie wieder zu sich selbst; und allgemeine Bestürzung herrschte in dem schönsten und angenehmsten aller möglichen Schlösser.

Zweites Kapitel.
Wie es Kandid bei den Bulgaren erging.

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Aus dem irdischen Paradiese verjagt, wanderte Kandid eine Zeitlang fort, ohne zu wissen wohin, indem er seine thränenvollen Augen zum Himmel emporrichtete, noch öfter aber sie nach dem schönsten der Schlösser zurückwandte, wo das reizendste Freifräulein weilte. Ohne zu Nacht gespeist zu haben, legte er sich bei heftigem Schneegestöber auf offenem Felde zwischen zwei Furchen nieder.

Ganz erstarrt schleppte er sich den folgenden Tag nach dem benachbarten Flecken Waldberghoftrarbkdickdorf und blieb, da er kein Geld hatte, halb todt vor Hunger und Müdigkeit und höchst niedergeschlagen an der Thür eines Wirthshauses stehen.

Zwei blaugekleidete Männer bemerken ihn.

»Kamerad,« sprach der eine zum andern, »seht doch den hübschen, stattlichen Burschen dort! Er wird die erforderliche Länge haben.«

Sie gingen auf Kandid zu und baten ihn sehr höflich, mit ihnen zu speisen.

»Meine Herren,« erwiderte Kandid mit liebenswürdiger Bescheidenheit, »Sie erzeigen mit viel Ehre, allein ich habe nichts, um meine Zeche zu bezahlen.«

»Ei, lieber Herr,« entgegnete ihm einer der Blauen, »Leute von Ihrem Aeußern und Ihrem Verdienste bezahlen nie etwas. Messen Sie nicht fünf Fuß fünf Zoll rheinisch?«

»Allerdings, meine Herren, das ist genau mein Maß,« sprach Kandid mit einer Verbeugung.

»Vortrefflich, lieber Freund! setzen Sie Sich zu Tisch. Wir werden Sie nicht bloß freihalten, sondern auch nimmer dulden, daß es einem Manne, wie Ihnen, an Gelde fehlt. Die Menschen sind ja dazu in der Welt, sich einander beizustehen.«

»Sie haben Recht,« sprach Kandid, »das hat Doctor Pangloß mir immer gesagt; und ich sehe wohl, daß Alles aufs beste angeordnet ist.«

Man bittet ihn, einige Thaler anzunehmen. Er nimmt sie und will einen Schein darüber ausstellen, allein das giebt man nicht zu. Man setzt sich zu Tisch.

»Lieben Sie nicht zärtlich...?«

»Ach, ja wohl!« erwiderte er, »ich liebe Fräulein Kunigunden zärtlich!«

»Nein!« fällt einer der beiden Herren ihm ins Wort, »wir fragen, ob Sie den König der Bulgaren nicht zärtlich lieben?«

»Durchaus nicht,« entgegnet er, »ich habe ihn in meinem Leben nicht gesehen.«

»Wie! es giebt keinen scharmantern König in der Welt! Wir müssen einmal auf seine Gesundheit trinken!«

»O, mit dem größten Vergnügen, meine Herren;« und er trinkt.

»So! das genügt,« heißt es darauf; »jetzt sind Sie die Stütze, der Stab, der Vertheidiger, der Held der Bulgaren. Ihr Glück ist gemacht, Ihr Ruhm fest begründet.«

Ohne weitere Umstände wird er an Händen und Füßen geschlossen und so zum Regiment transportirt. Hier heißt es: »Schwenkt euch rechts! – schwenkt euch links! – schultert's Gewehr! – Gewehr beim Fuß! – legt an! – Feuer! – Dublirtritt, marsch!!« – und man giebt ihm dreißig Stockprügel. Den andern Tag exercirt er nicht ganz so schlecht und empfängt nur zwanzig Hiebe. Den dritten Tag bekommt er nur zehn und wird von seinen Kameraden wie ein Wunderthier angestaunt.

Ganz betäubt, wie er war, konnte Kandid noch immer nicht recht begreifen, wie er dazu gekommen, ein Held zu werden. An einem schönen Frühlingsmorgen fiel es ihm ein, einen Spaziergang zu machen. Ganz arglos ging er der Nase nach, da er es für ein Privilegium der menschlichen wie der thierischen Gattung hielt, sich der eignen Beine nach Belieben zu bedienen. Er hatte aber noch keine zwei Stunden Weges zurückgelegt, als plötzlich vier andere, sechs Fuß lange Helden ihn einholen, binden uns ins Gefängniß schleppen. Man fragte ihn von Rechtswegen, was er lieber wolle: sechsunddreißigmal durch das ganze Regiment Spießruthen laufen oder sich auf einmal zwölf bleierne Kugeln durchs Hirn jagen lassen. Es half ihm nichts, daß er sich auf die Freiheit des Willens berief und erklärte, er wolle weder das Eine noch das Andre. Er mußte eine Wahl treffen, und kraft des göttlichen Geschenks, das man Freiheit nennt, entschloß er sich, sechsunddreißigmal Spießruthen zu laufen: Zweimal hielt er die Promenade aus. Das Regiment bestand aus 2000 Mann. Er empfing demnach 2000 Spießruthenstreiche, die ihm vom Genick bis zum Kreuzbein alle Muskeln und Nerven bloßlegten. Als man zum dritten Gang schreiten wollte, konnte Kandid nicht weiter und bat, man möge die Gnade haben, ihm den Hirnkasten zu zerschmettern. Diese Vergünstigung wurde ihm bewilligt. Man verbindet ihm die Augen und läßt ihn niederknien. In diesem Augenblick kommt der König der Bulgaren vorüber. Er erkundigt sich nach dem Verbrechen des armen Sünders, und da dieser König ein großes Genie war, wurde ihm aus Allem, was er über Kandid erfuhr, klar, daß derselbe ein junger Metaphysiker, in den Angelegenheiten dieser Welt aber sehr unerfahren sei, und mit einer Huld und Milde, die alle Zeitungen und alle Jahrhunderte nicht genug preisen können, begnadigte er ihn. Ein tüchtiger Feldscheer heilte Kandid in drei Wochen mit erweichenden Aufschlägen nach der Vorschrift des Dioskorides. Er hatte schon wieder ein wenig Haut und konnte marschiren, als der König der Bulgaren dem Könige der Avaren eine Schlacht lieferte.

Drittes Kapitel.
Wie Kandid aus den Händen der Bulgaren entkam und was weiter aus ihm wurde.

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Nichts in der Welt war so schön, so zierlich, so glänzend, so wohlgeordnet, wie die beiden Heere. Der Zusammenklang der Trommeln und Pfeifen, Trompeten, Hoboen, Mörser und Kanonen bildete eine Harmonie, wie man sie in der Hölle nicht besser wünschen kann. Das schwere Geschütz raffte gleich im Anfang der Schlacht etwa sechstausend Mann auf jeder Seite hinweg; sodann beseitigte das Kleingewehrfeuer noch ungefähr neun bis zehntausend Schurken aus der besten Welt, deren Oberfläche sie vergifteten. Das Bajonett war gleichfalls »der zureichende Grund« (ratio sufficiens) des Todes von einigen Tausend Menschen. Im Ganzen mochte sich die Zahl der Gefallenen auf 30,000 Seelen belaufen. Kandid zitterte wie ein Philosoph und versteckte sich während der heldenhaften Metzelei so gut er konnte.

Endlich, während jeder der beiden Könige in seinem Lager das Tedeum singen ließ, faßte er den klugen Entschluß, sich aus dem Staube zu machen und anderswo über Ursache und Wirkung zu philosophiren. Ueber Haufen von Todten und Sterbenden führte ihn sein Weg in ein benachbartes Dorf. Es lag in Asche. Es war ein avarisches Dorf, das die Bulgaren nach den Gesetzen des Völkerrechts in Brand gesteckt hatten. Hier sahen Greise, von hundert Stichen durchbohrt, wie ihre erwürgten Weiber, die sterbenden Kinder an den blutigen Brüsten, sich in Todeszuckungen wanden. Dort hauchten Mädchen, denen man den Leib aufgeschlitzt, nachdem sie die natürlichen Bedürfnisse einiger Helden gestillt hatten, ihre letzten Seufzer aus. Andere, die halb verbrannt waren, flehten winselnd, man möge ihnen den Gnadenstoß geben. Zerschmetterte Hirnschalen lagen in buntem Gemisch mit abgehauenen Armen und Beinen auf dem Boden umher.

Kandid floh, so schnell er konnte, in ein andres Dorf. Es gehörte den Bulgaren, und die avarischen Helden hatten darin nicht schlechter gehaust. Eine geraume Strecke weit mußte Kandid über zuckende Menschenglieder und durch Schutt und Trümmer sich Bahn machen, bis er endlich, mit einigem Mundvorrath im Tornister und Fräulein Kunigundens Andenken im Herzen, die Grenzen des Kriegsschauplatzes hinter sich hatte. Sein Vorrath ging ihm aus, als er nach Holland kam. Da er indessen gehört hatte, daß es hier nur reiche Leute gebe, und daß es ein christliches Land sei, zweifelte er nicht, man werde ihn so gut behandeln, wie einst im freiherrlichen Schlosse, ehe er wegen Fräulein Kunigundens schönen Augen fortgejagt wurde.

Er sprach verschiedne Leute von ehrenfestem Ansehen um Almosen an, doch alle bedeuteten ihm, wenn er dies Gewerbe ferner treibe, werde man ihn in ein Zuchthaus sperren, um ihn Lebensart zu lehren.

Er wandte sich hierauf an einen Mann, der in einer großen Versammlung eine Stunde lang ganz allein über die christliche Nächstenliebe gesprochen hatte. Der Redner sah ihn über die Achseln an und fragte: »Was wollt Ihr hier? Seid Ihr hier für die gute Sache (pour la bonne cause)?«

»Es giebt keine Wirkung ohne Ursache (sans cause),« erwiderte Kandid bescheiden; »Alles steht mit einander in nothwendiger Verkettung und ist aufs beste geordnet. Ich mußte aus Fräulein Kunigundens Nähe fortgejagt werden, mußte Spießruthen laufen und muß jetzt mein Brot betteln, bis ich es verdienen kann. Dies Alles konnte nur so und nicht anders kommen.«

»Mein Freund,« fragte der Redner weiter, »glaubt Ihr, daß der Papst der Antichrist sei?«

»Ich habe noch nichts davon gehört,« antwortete Kandid, »doch mag er es sein oder nicht, ich habe kein Brot.«

»Du verdienst keins zu essen!« fuhr jener ihn an; »fort, Schurke! pack Dich, elender Wicht! komm mir nie wieder unter die Augen!«

Die Frau des Redners sah eben zum Fenster hinaus, und da sie einen Menschen gewahrte, der noch zweifelte, ob der Papst der Antichrist sei, begoß sie ihn von oben bis unten mit einem vollen... Gerechter Himmel! wie weit geht doch der Religionseifer bei den Damen!

Ein Mensch, der nicht getauft war, ein ehrlicher Wiedertäufer, Namens Jakob, war Augenzeuge der grausamen und schimpflichen Behandlung, die man einem seiner Brüder, einem zweifüßigen Wesen ohne Federn, das eine Seele hatte, angedeihen ließ. Er nahm ihn mit in sein Haus, reinigte ihn, gab ihm Brot und Bier, schenkte ihm überdies zwei Gulden und wollte ihn sogar in seinen Manufacturen persischer Seidenstoffe, die in Holland fabricirt werden, als Lehrling annehmen.

Kandid warf sich ihm beinahe zu Füßen, indem er ausrief: »Magister Pangloß hatte doch Recht, wenn er sagte, daß Alles in dieser Welt aufs beste bestellt ist, denn Ihre außerordentliche Großmuth rührt mich unendlich mehr, als die Härte jenes Herrn im schwarzen Mantel und seiner Frau Gemahlin.«

Den andern Tag begegnete er auf dem Spaziergange einem Bettler voller Eiterbeulen, mit todten Augen, zerfressener Nasenspitze, schief gezogenem Munde und schwarzen Zähnen, der durch die Kehle sprach, von einem heftigen Husten geplagt war und, so oft ihn derselbe befiel, einen Zahn ausspie.

Viertes Kapitel.
Wie Kandid seinem alten Lehrer in der Philosophie, dem Doctor Pangloß, begegnete und was weiter geschah.

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Kandid, bei dem das Mitleid über den Abscheu die Oberhand gewann, gab dem scheuslichen Bettler die beiden Gulden, die er von dem braven Wiedertäufer erhalten hatte. Das Gespenst faßte ihn scharf ins Auge, brach in Thränen aus und fiel ihm um den Hals. Kandid fährt entsetzt zurück.

»Ach!« spricht der eine Elende zum andern Elenden, »ach! so kennst Du Deinen lieben Pangloß nicht mehr?«

»Was hör' ich? Sie, mein theurer Lehrer! Sie in diesem schauderhaften Zustande! Welches Unglück hat Sie denn betroffen? Warum sind Sie nicht mehr im schönsten der Schlösser? Was ist aus Fräulein Kunigunden geworden, aus ihr, der Perle der Mädchen, dem Meisterwerke der Natur?«

»Ich kann nicht mehr,« sprach Pangloß.

Ohne Verzug führte Kandid ihn in den Stall des Wiedertäufers, wo er ihn etwas Brot zu sich nehmen ließ. Als Pangloß sich ein wenig gesammelt hatte, wiederholte er seine Frage: »Nun? Kunigunde

»Sie ist todt,« erwiderte jener.

Bei diesem Worte wurde Kandid ohnmächtig. Sein Freund brachte ihn mit etwas schlechtem Essig, der sich zufällig im Stalle fand, wieder zum Bewußtsein.

Kandid schlägt die Augen auf. »Kunigunde todt! O! beste Welt, wo bleibst Du! – Aber an welcher Krankheit ist sie gestorben? Aus Schmerz vielleicht, weil sie sehen mußte, wie mich ihr Herr Vater mit furchtbaren Fußtritten aus seinem schönen Schlosse fortjagte?«

»Das nicht,« erwiderte Pangloß; »bulgarische Soldaten schlitzen ihr den Leib auf, nachdem ihr auf die brutalste Weise alle nur denkbare Gewalt angethan war. Dem Freiherrn schlugen sie den Schädel ein, als er sie vertheidigen wollte; die gnädige Frau wurde in Stücken gehauen, mein armer Zögling genau so behandelt, wie seine Schwester, und was das Schloß betrifft, so blieb kein Stein davon auf dem andern; keine Scheune, kein Schaf, keine Ente, kein Baum blieb übrig. Doch wir wurden tüchtig gerächt, denn die Avaren machten es mit einer benachbarten Herrschaft, die einem bulgarischen Edelmanne gehörte, ganz eben so.«

Während dieses Erzählung verlor Kandid abermals die Besinnung, nachdem er aber wieder zu sich gekommen war und Alles gesagt hatte, was unter den Umständen zu sagen war, erkundigte er sich nach der Ursache und der Wirkung und dem zureichenden Grunde, wodurch Pangloß in einen so kläglichen Zustand versetzt sei.

»Ach!« sprach dieser, »es ist die Liebe; die Liebe, die Trösterin des Menschengeschlechts, die Erhalterin des Weltalls, die Seele aller empfindenden Wesen, die zarte Liebe.«

»Ach!« sprach Kandid, »ich kenne sie, die Liebe, die Beherrscherin der Herzen, die Seele unserer Seele. Mir hat sie weiter nichts eingebracht, als einen Kuß und zwanzig Fußtritte. Wie konnte aber diese schöne Ursache bei Ihnen eine so abscheuliche Wirkung hervorbringen?«

»O mein theurer Kandid!« antwortete Pangloß, »Sie kannten Pakette, die niedliche Zofe unserer verehrungswürdigen Gnädigen. In ihren Armen schmeckte ich die Wonne des Paradieses, die ich jetzt mit diesen Qualen der Hölle bezahle, wovon Sie mich verzehrt sehen. Pakette war von dem Uebel ergriffen, sie ist vielleicht daran gestorben. Sie verdankte dies Geschenk einem sehr gelehrten Franziskaner, der es an der Quelle aufgesucht hatte; denn er war von einer alten Gräfin damit begabt worden, diese hatte es von einem Rittmeister empfangen, der es einer Marquisin verdankte, welcher es an Page mitgetheilt, der es von einem Jesuiten bekommen, auf den es noch zur Zeit seines Noviziats in gerader Linie von einem der Gefährten des Christoph Columbus verpflanzt worden war. Ich werde es Niemanden weiter mittheilen, denn mit mir geht es zu Ende.«

»O Pangloß!« rief Kandid aus, »welch' eine merkwürdige Genealogie! Sollte nicht der Teufel der wahre Stammvater davon sein?«

»Keineswegs,« entgegnete der große Mann; »es war ein unerläßliches Ding in der besten Welt, ein nothwendiges Ingrediens; denn hätte Columbus nicht auf einer amerikanischen Insel diese Krankheit erwischt, wodurch die Quelle der Zeugung vergiftet und oft die Zeugung selbst verhindert wird, und die offenbar dem großen Zwecke der Natur widerstrebt, so würden wir weder Chocolate noch Cochenille haben. Es ist noch bemerkenswerth, daß auf unserer Hemisphäre wir Europäer uns bis jetzt dieser Seuche ausschließlich rühmen, wie der theologischen Controverse. Die Türken, die Inder, die Perser, die Chinesen, die Siamesen und die Japaner kennen sie noch nicht; allein es giebt eine Ratio sufficiens, daß im Verlauf der Jahrhunderte an alle diese Völker die Reihe kommen wird, sie gleichfalls kennen zu lernen. Mittlerweile hat sie bei uns bewundernswürdige Fortschritte gemacht, und zwar vor Allem in jenen großen Heeren ehrenwerther, wohlgezogener Söldlinge, in deren Händen das Geschick der Staaten ruht. Es ist ausgemacht, daß, wenn dreißigtausend Mann in Schlachtordnung einer gleichen Zahl von Truppen gegenüber stehen, auf jeder Seite etwa zwanzigtausend mit jener Seuche behaftet sind«.

»Das ist freilich höchst bewundernswürdig,« sprach Kandid; »allein Sie müssen sich heilen lassen.«

»Ach! wie kann ich das?« versetzte Pangloß; »ich habe keinen Heller, und in der ganzen weiten Welt ist weder ein Aderlaß noch ein Klystier zu haben, wenn man nicht dafür bezahlt oder einen Andern findet, der sich dazu versteht.«

Diese letzten Worte bestimmten Kandid's Entschluß. Er warf sich seinem barmherzigen Wiedertäufer Jakob zu Füßen und schilderte ihm den Zustand seines Freundes mit so rührenden Worten, daß der gute Mann kein Bedenken trug, auch den Doctor Pangloß bei sich aufzunehmen. Er ließ ihn auf seine Kosten heilen. Pangloß verlor bei der Kur nur ein Auge und ein Ohr. Er schrieb gut und verstand die Rechenkunst aus dem Fundament. Der Wiedertäufer machte ihn zu seinem Buchhalter. Nach zwei Monaten mußte er in Handelsgeschäften nach Lissabon reisen. Er nahm die beiden Philosophen in seinem Schiffe mit sich. Pangloß setzte ihm auseinander, wie Alles in der Welt so vortrefflich eingerichtet sei, daß man es sich nicht besser denken, noch wünschen könne. Jakob wollte dieser Ansicht nicht beipflichten.

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