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MICHAEL LEHOFER

MIT MIR

SEIN

Selbstliebe als Basis
für Begegnung
und Beziehung

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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2. Auflage 2017

ISBN der Printausgabe: 978-3-99100-205-5

ISBN E-Book: 978-3-99100-206-2

Inhalt

Selbstliebe verändert

Zu Anfang

Selbstwertschätzung ist die Grundlage von Selbstliebe

Loben ist nicht Wertschätzen

Selbstwert ist die Grundlage für Lebendigkeit

Selbstliebe vermindert den Selbsthass

Das Ja zu sich ist die einzig wirksame Abgrenzung

Egoismus und Narzissmus sind fehlende Selbstliebe

Begegnungen sind persönliche Berührungen

Jede Begegnung ist ein Akt von Liebe

Liebe ist kein Gefühl

Die Liebe ist unveränderbar

Die Liebe ist bedingungslos

Selbstliebe ist die Empfindung der totalen Nähe zu sich selbst

Ermutigungen zur Selbstliebe

Ermutigung, auf die Exits im Leben zu verzichten

Ermutigung zur Ordnung

Ermutigung zur Angstfreiheit

Ermutigung zum Alleinsein

Ermutigung, unserem Körper zu entsprechen

Ermutigung zur Erotik des Lebens

Ermutigung zur Selbstverantwortung

Ermutigung zur Vergegenwärtigung

Ermutigung, auf die Selbstverteidigung zu verzichten

Ermutigung zur artgerechten Selbsthaltung

Ermutigung, sich zuzumuten

Ermutigung zur Beziehungsklärung mit sich selbst

Ermutigung, nicht zu fördern und nicht zu hemmen

Ermutigung zur Demut

Ermutigung zu einem intuitiven Leben

Ermutigung, vertrauensvoll zu leben

Ermutigung zum Verzicht

Ermutigung zur Schönheit

Ermutigung zur Verlässlichkeit

Ermutigung, sich selbst in Ruhe zu lassen

Ermutigung zur Gelassenheit

Ermutigung nachzugeben

Ermutigung, in der Zeit zu sein

Ermutigung, undicht zu sein

Ermutigung, jeden Tag sein Leben neu zu beginnen

Ermutigung zur Feinfühligkeit

Ermutigung zur Reinheit

Ermutigung, weich zu bleiben

Der Weg zur Selbstliebe

Wir sollen den Nächsten lieben wie uns selbst

Liebe ist ein anarchisches Empfinden

Leben und Lieben unterscheiden sich nur durch einen Buchstaben

SELBSTLIEBE
VERÄNDERT

Zu Anfang

Die Idee zu diesem Buch entstand aus der Einsicht, dass alle Beziehungen nur an mangelnder Selbstliebe scheitern. Diese Einsicht habe ich angesichts meiner eigenen, aber auch angesichts der Beziehungen meiner Freunde und meiner Patienten gewonnen. Kein Mensch verbringt so viel Zeit mit uns wie wir selbst. Daher ist es nicht ganz unbedeutend, welches Verhältnis wir mit uns selbst haben. Es wäre sogar wünschenswert, wenn wir uns selbst gut aushalten und genießen könnten. Leider ist das eher selten der Fall. Die meisten Menschen kommen mit sich selbst nicht gut aus und wissen erstaunlicherweise oft nicht, wie schlecht sie sich mit sich selbst verstehen. Gewöhnlich sind sie mit ihren sonstigen Beziehungen beschäftigt, in denen sie häufig Probleme haben. Das verwundert nicht – sind wir doch frustriert, wenn wir keine gute Beziehung zu uns selbst haben. Daher wollen wir in diesen Beziehungen das Glück und die Zufriedenheit finden, die wir in der Beziehung zu uns selbst nicht finden können. Unser Gegenüber soll uns das bescheren, was wir uns selbst nicht schenken können. Jeder ist damit überfordert, ja, muss damit überfordert sein. Wir halten uns selbst nicht aus. Trotzdem erwarten wir, dass uns die anderen aushalten. Wie kann man mit einem Menschen auskommen, der sich selbst nicht erträgt? Wie soll man einen Menschen genießen können, der sich selbst nicht genießen kann?

Viele glauben, dass eine Beziehung mehr können muss, als dass man einander aushält. Ich aber habe in meinem Leben gelernt, dass es etwas Wunderbares ist, wenn man einen Menschen neben sich hat, der einen ohne Abwehrbewegungen aushält, ohne Wenn und Aber! Wir sollten also die Beziehung zu uns selbst als Herausforderung sehen. Wir müssen die Herausforderung annehmen, uns aushalten, genießen, ja lieben zu lernen. Etwas dazulernen bedeutet jedoch, sich zu verändern. Jede Veränderung funktioniert allerdings nur, wenn wir anerkennen, dass sich selbst zu verändern überhaupt möglich ist. Aber glauben wir das wirklich? Eher nicht, auch wenn wir anderes behaupten.

Es klingt eigenartig, aber die Veränderungsbereitschaft ist tatsächlich ein Schlüssel zur Liebe zu sich selbst. Liebe hat immer etwas damit zu tun, sich auf etwas einzulassen. Und sich auf etwas einlassen heißt, sich zu verändern. Manchmal wird es besonders deutlich, dass wir uns nicht einlassen wollen. Wir wollen uns nicht verändern, auch weil wir uns vermeintlich nicht verändern können – wenn man sich beispielsweise in einer Partnerschaft über zwei Jahrzehnte immer wieder über den gleichen misslichen Charakterzug des anderen ärgern kann und nicht lernt, dass man den anderen auf diese Weise nicht ändern können wird oder dass er nicht veränderbar ist. Also wieso ärgern wir uns in einem solchen Fall? Wir ärgern uns, weil wir uns selbst als Naturereignis empfinden, das sich nicht verändern kann. Daher muss sich die Umwelt verändern. Die erlebt sich aber möglicherweise auch als Naturereignis.

Besonders deutlich wird das, wenn man wie ich – in der Rolle des Psychiaters und Psychotherapeuten – beginnt, das Selbstbild der Patienten zu verstehen. Es gibt Menschen, die sind schön, erfolgreich, sexy und alles, was man sich wünschen kann, aber haben das Selbstbild eines Vollversagers. – Warum? Weil sie es so gewohnt sind. Weil sie glauben, sie selbst seien ein Naturereignis.

Wenn es nämlich darum geht, sich zu ändern, rechtfertigen wir uns, legitimieren wir bei uns selbst noch so eigenartige, unsinnige oder leidenserzeugende Erlebens- und Verhaltensweisen. Wir müssen zugeben, dass wir uns ungern verändern. Trotzdem trifft man immer wieder Menschen, die von sich glauben, dass sie sich gerne verändern. Doch bei den meisten von ihnen stellt sich heraus, dass sie sich verändern wollen, um das, was ihnen wichtig ist, stabil zu halten. Sie verändern sich, um sich und das, was ihnen wirklich wichtig ist, ja nicht verändern zu müssen. In der Regel halten wir es für das Richtige, von anderen Veränderung einzufordern, um selbst so bleiben zu können, wie wir sind. Auch die Veränderung steht also häufig im Dienst der Nichtveränderung. Ich nehme sogar an: immer; zumindest ab dem sogenannten Erwachsensein, jenem Zustand, in dem wir uns innerlich entscheiden, dass wir in der Entwicklung fertig sind.

Die Verfestigung unserer Selbstvorstellung hat mit dem Wunsch zu überleben zu tun. Wir glauben, dass wir selbst diese Vorstellung sind. Dabei ist es nur eine Vorstellung. Wenn sie in Gefahr ist, verteidigen wir sie daher, als ginge es um unser Leben. Diesem Irrtum opfern wir sehr viel Energie. Wir glauben, dass die Selbstvorstellung mit dem, was wir als Ich empfinden, ident wäre. Wie alle Lebewesen auf der Welt wollen wir zuallererst überleben, als Individuum und als Art, wobei man anmerken muss, dass sich die Sehnsucht, als Art zu überleben, eigenartigerweise auf Gemeinschaften wie zum Beispiel Nationalitäten eingeschränkt hat. Daher führen Menschen Kriege gegeneinander.

Wir nehmen meist die Herausforderung, die das Ich darstellt, nicht an. Wir fürchten, dass wir uns dadurch selbst zu sehr infrage stellen könnten. Wir fürchten, wir könnten die Selbstvorstellung, die wir für unser Ich halten, in Gefahr bringen. Wir nehmen zwar vielleicht – scheinbar – die Herausforderung unseres Lebens an. Wir streben den Erfolg an. Wir wollen unsere Ziele verwirklichen. Wir wollen die Vorstellungen, die wir vom Leben haben, unbedingt erreichen. Wir übernehmen Pflichten, vielleicht sogar Verantwortungen, aber keine Selbstverantwortung. Denn das würde bedeuten, sich selbst infrage zu stellen.

Viele Menschen klagen etwa über chronischen Stress, den sie angeblich haben. Aber was ist das? Überforderung? Warum sind wir überfordert? Letztlich, weil wir es nicht für möglich halten, uns zu verändern. Faktum ist, dass kein Mensch chronischen Stress aushalten müsste. Wir müssten auf den Stress nur adäquat reagieren, indem wir Selbstverantwortung übernehmen und den Selbstanspruch reduzieren. Wir könnten uns etwa eine andere Arbeitsstelle suchen oder zumindest in der Arbeit etwas verändern oder aber versuchen, vielleicht überhöhte Ansprüche an uns selbst zu beeinflussen. Wenn das nicht möglich ist, was selten der Fall sein wird, könnten wir das Selbsterleben bei der stresserzeugenden Aufgabe reduzieren, indem wir das Unvermeidbare entspannt angehen. Angespanntheit macht den Stress giftig, weil wir dadurch das Leben zu ernst nehmen. Wir tun so, als ob es immer um das Überleben ginge. Indem wir das Leben überernst nehmen, nehmen wir uns selbst leider ganz und gar nicht ernst.

Jeder von uns weiß hoffentlich, dass wir uns in der Einschätzung anderer irren können. Man kann immer neue Seiten an einem anderen entdecken – wenn man es zulässt, wohlgemerkt. Am schwierigsten ist es aber, sich einzugestehen, dass man sich selbst noch nicht wirklich kennenlernen konnte, trotz der vielen gemeinsamen Jahre. Wir verstehen nicht, dass das Ich eine Herausforderung darstellt. Vielleicht ist es die größte Herausforderung unseres Lebens, der wir uns stellen sollten. Sie besteht sicherlich darin, dass wir durch die Starrheit unseres Ichs den Anforderungen des Lebens nicht gerecht werden, nicht gerecht werden können. Das Konzept des eigenen Ichs hindert mich daran, mir selbst zu begegnen.

Wenn wir uns behandeln, als ob wir ein Naturereignis wären, haben wir keine Chance, uns der Herausforderung unseres eigenen Ichs zu stellen, und erklären uns zum Opfer unseres eigenen Lebens. Das erzeugt nicht nur Leid und Frustration, sondern ist auch eine fundamentale Fehleinschätzung. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Herausforderung, die das eigene Ich darstellt, immer zu bewältigen ist. Man muss sich ihr nur stellen – viele tun dies ihr ganzes Leben lang nicht. Sie haben eine Wehmut im Herzen, wenn sie imstande sind, sich das einzugestehen.

Es gibt so viele Menschen, die immer wieder das Gefühl haben, falsch zu leben, nicht ihr richtiges Leben zu leben, noch nicht wirklich mit dem Leben angefangen zu haben. Wir wachen aus einer Trance auf, wenn wir die Herausforderung des eigenen Ichs annehmen. Wir erwachen zum Leben. Wir küssen uns quasi zärtlich in die Lebendigkeit, zu der wir berufen sind. Wir sehen dann ein, dass wir selbst, neben anderen, die große Liebe unseres Lebens sind.

Diese Herausforderung bedarf großen Ernstes, denn sie bedeutet nicht zuletzt, alte Muster zu überwinden, Überlebensmuster, die uns schützen sollen. Dieser Akt macht natürlich Angst, bedarf also großen Mutes. Und trotzdem: Wir müssen – endlich – ernst machen mit der Beziehung zu uns selbst. Für Halbherzigkeit gibt es keinen Platz. Der größte Ernst ist allerdings der, bei dem man am Schluss auch wieder darüber lachen kann. Alles für das Wichtigste im Leben tun und dann darüber lachen: Mit einem größeren Ernst kann man nichts betreiben. Warum soll man am Ende über das Ernste lachen? Die Einsicht in die Relativität, die alle Angelegenheiten in der Welt haben, sollte uns dazu bringen. Es ist doch alles relativ auf der Welt – außer der Liebe. Der Liebe entspricht ein Ja, eine Bejahung der Existenz, des Daseins, dem kein Nein gegenübersteht. Die Liebe ist ein Ja ohne Polarität, ein Paradoxon. Das Leben ist ein Spiel. Ein Spiel macht nur Spaß, wenn man es ganz ernst spielt, immer wissend, dass es doch nur ein Spiel ist. Das wiederum weiß jedes Kind. Welches Kind will schon mit jemandem spielen, der das Spiel nicht ernst nimmt oder nicht anerkennen kann, dass das Spiel nur ein Spiel ist? Jedem Spiel liegt ein implizites dialektisches Verständnis von gleichzeitigem Ernst und Unernst zugrunde.

Es hat keinen Sinn, sich der Herausforderung des Lebens zu stellen und sich dabei zu vergessen. Umgekehrt ist es so, dass die Bewältigung der Herausforderung, die man für sich selbst ist, gleichsam schon die Grundlage, vielleicht sogar mehr als das, zur Lebensbewältigung darstellt. Wir müssen uns also einerseits oft vielen Herausforderungen im Leben stellen, vermeiden jedoch andererseits die eigentliche, die zentrale, die wichtigste Herausforderung, die wir uns selber sind. Wir vermeiden sie, weil wir glauben, uns ständig stabilisieren zu müssen, und weil wir uns selbst als ein unveränderbares Naturereignis vorstellen. Wenn wir uns nicht uns selbst stellen, werden wir uns unser ganzes Leben lang im Weg stehen, und das ganze sogenannte Lebensglück, der Lebenserfolg, das Schöne im Leben wird uns zwar sichtbar, aber leider nicht spürbar werden.

Veränderung stabilisiert uns, ganz entgegen dem, was wir vermuten. Sie ist kein Selbstzweck, sondern sollte ausschließlich dazu dienen, der Selbstentfremdung zu entkommen. Die Selbstentfremdung entsteht durch den Versuch, sich zu erhalten. Veränderung dient dazu, sich zu entsprechen. Wir müssen nur einmal damit beginnen, unsere eigene Veränderung ehrlich nicht nur für möglich zu halten, sondern sie zu begrüßen. Dann steht zu unserer großen Verwunderung der eigenen Verwandlung nichts im Wege. Das Leben ist – so gesehen – ein Wunder, und wir selbst sind die Zauberer.

Selbstwertschätzung ist die Grundlage von Selbstliebe

Die eigene Wertschätzung stellt die Grundlage der Selbstliebe dar. Warum tun wir uns eigentlich so schwer damit, uns selbst wertzuschätzen? Dort, wo ich aufgewachsen bin, gilt es als unfein, sich selbst zu loben. Eigenlob stinkt, sagt man. Dementsprechend schwer tun sich meine Patienten, wenn ich ihnen vorschlage, sie sollten sich selbst wertschätzen. Meine Aufforderung, drei oder gar sechs eigene Eigenschaften aufzuzählen, die sie als positiv erleben, wird geradezu als sadistisch erlebt. Interessanterweise wird es immer leichter, je mehr Eigenschaften ausgesprochen sind: Die vierunddreißigste positive Eigenschaft geht überraschenderweise viel leichter von den Lippen als die dritte. Dies werte ich als Hinweis darauf, dass es ein inneres Verbot gibt, sich selbst zu loben. Das Verbotene fällt von Mal zu Mal leichter, je häufiger wir es übertreten haben. So kann man sich an das Betrügen, Stehlen, sogar an das Morden gewöhnen. Wenn man anfängt, seinen Mann, seine Frau zu betrügen, geht das beim zweiten und dritten Mal schon deutlich einfacher. Und mit der Zeit verschwindet das schlechte Gewissen fast ganz. Das ist auch der Grund, warum potenziell korrupte Politiker mit einer gewissen Zeit, ohne es zu spüren, den Bogen überspannen und sich so selbst in Gefahr bringen. Daher ist es besser, etwas, das wir nicht tun sollten, aber irgendwie tun wollen, ganz sein zu lassen, als es ein wenig zu tun.

Wir haben also ein inneres Verbot, uns selbst wertzuschätzen. Wenn wir diese Regel übertreten, plagt uns das Gewissen. Das darfst du nicht, sagt die strenge innere Stimme. Welchen Sinn könnte ein derartiges Verbot haben? Warum dürfen wir uns nicht selbst wertschätzen? Wir müssen uns von Kindheit an der Gemeinschaft anpassen. Wir sollen uns vom frühkindlichen Egoisten zum sozial kompatiblen Mitmenschen entwickeln. Diese Anpassung nennt man Sozialisation. Sie ist die Legitimation der sogenannten Erziehung und die Entwicklung des Gemeinschaftsgefühls, allerdings nur im besten Sinne.

Wir dressieren uns gegenseitig zu Gemeinschaftswesen. Leider verstehen viele darunter, dass der andere so werden soll, wie es dem Dresseur passt. Das erzeugt Verletzung und Hass und macht uns zu psychisch behinderten Wesen. Der Machtkampf der Kindheit setzt sich das ganze Leben lang fort: Kannst du mich dressieren oder dressiere ich dich? Wir sehen ihn in unseren privaten und beruflichen Beziehungen. Die destruktiven und sinnlosen gegenseitigen Erziehungsversuche hören nie auf. Ist das nicht verrückt, beschämend?

Viele Beziehungen sind von einem Machtkampf geprägt. Es geht immer nur darum, was einem der andere schuldet. So kann keine Beziehung glücklich werden. Glückliche Beziehungen funktionieren nach dem gegenseitigen Motto: Was kann ich für dich tun, statt: Was sollst/musst du für mich tun.

Was sich leider noch nicht herumgesprochen hat, ist die Tatsache, dass Erziehung ein Begegnungsakt ist und dass sie auf gegenseitiger Veränderung beruht. In der traurigen Realität soll der Erzogene dem Erziehenden nie über den Kopf wachsen. Eigentlich wäre der Sinn der Erziehung, dass der Schüler den Lehrer übertreffen möge.

Anpassung ist natürlich per se nichts Schlechtes, aber sie wird zur Entfremdung, wenn damit nicht gleichzeitig eine Selbstbestärkung verbunden ist. Selbstbestärkung passiert bei einer Erziehung, die sich als Begegnung begreift. Das Resultat eines solchen Erziehungsprozesses ist allerdings, dass die Anpassung zeitlebens ein freiwilliger Akt bleibt. Anpassung und Freiheit sind in diesem Fall kein Widerspruch, ganz im Gegenteil. Es ist eine bestechende, wenn auch eine diabolische Idee, Menschen zu zähmen und gleichzeitig ihren Hunger nach Selbstbestätigung systematisch nie zu stillen. Sie werden daher der Verheißung danach nachrennen, sagen wir, wie der Hund der Wurst. Ein tragikomischer Gedanke ist das – nicht wahr –, dass wir alle Hunde wären, die der Wurst unserer persönlichen Verheißungen nachjagen. Ich erinnere mich an Hunderennen in Irland, bei denen die Windhunde sinnlos im Kreis den Kunsthasen nachdüsen. Keiner von ihnen hat jemals einen Hasen erwischt, auch die Sieger nicht. – Wie wir Menschen! Auch bei den Erfolgreichsten von uns erfüllen sich die Verheißungen, denen wir nachhetzen, nicht. Das, wonach wir streben, ist nämlich nicht das, worum es uns wirklich geht. Wir streben nach Bewunderung und sehnen uns nach Bindung, wir streben nach Erfolg und sehnen uns nach Selbstwirksamkeit. Das Resultat von Abhängigkeit und mangelnder Freiheit ist ebendiese fatale Verwechslung zwischen tatsächlichem Streben und eigentlichem Sehnen.

Nicht außer Acht zu lassen ist, dass wir uns anpassen wollen. Wir wollen dazugehören, ein Teil der Gemeinschaft sein. Wir wollen also auch dressiert werden, sogar einseitig. Wir wollen das schönste Pferd im Zirkus sein und vergessen dabei, dass es auch schön wäre, inmitten der eigenen Herde über die Savanne zu galoppieren. Erhalten wir uns trotz aller Anpassung die Sehnsucht nach der Freiheit! Das ist kein Widerspruch.

Es fällt uns also nicht leicht, uns selbst wertzuschätzen. Die Wertschätzung der eigenen Person ist ein Akt, bei dem wir unsere eigene Identität stärken. Sie ist eine Möglichkeit der Nachreifung angesichts eines misslungenen, einseitigen Reifungsprozesses. Sie ermöglicht letztlich Beziehungen auf Augenhöhe und ein Wiederfinden der uns allen angeborenen Liebe zu uns selbst. Wir müssen sie nur üben, wenn wir sie beherrschen wollen.

Loben ist nicht Wertschätzen

Lob und Wertschätzung sind für viele Synonyma. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass sie etwas ganz Unterschiedliches auslösen. Lob hat meist etwas Manipulatives, etwas Suggestives, etwas Steuerndes. Viele Menschen sind daher zu Recht skeptisch gegenüber Lob. Denn Lob ist immer auch eine Bewertung. Daher stellt sich der Lobende auch immer über den Gelobten. Es wird ja allgemein angemerkt, dass zu wenig gelobt wird. Faktum ist, dass einem das Lob anderer sehr unangenehm sein kann. Manchmal ist dieses unangenehme Gefühl allerdings auf die mangelnde Selbstakzeptanz zurückzuführen. Das ist dann etwas anderes. Das einzig Positive am Lob scheint zu sein, dass man dadurch von einem Mächtigen, von einem Vorgesetzten informiert wird, in seinem Sinne zu handeln. Zudem muss einem Vorgesetzten die Bewertung zugestanden werden. In diesem Fall hat Bewertung etwas Strukturimmanentes, nichts Abwertendes.