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Martin Luther Aus dem Leben einer Legende

 

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

 

ISBN 978-3-946531-67-1

ISBN 978-3-946531-66-4 (Kindle-E-Book)

ISBN 978-3-946531-65-7 (Print Ausgabe)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Juliane Stadler | Jana Hoffhenke

Umschlaggestaltung: Detlef Klewer

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

Inken Weiand – Die Nuss

 

Du sollst nicht stehlen!« Der kleine Martin weiß das wohl. Gar zu oft hat der Herr Pfarrer das erzählt, ebenso wie die Frau Mutter oder eine der Muhmen.

Wer stiehlt, den bestraft der liebe Gott, denn der sieht alles, ungefähr so wie der Herr Vater oder die Frau Mutter.

Er ist allmächtig, dieweil er ja schließlich alles erschaffen hat, die ganze liebe weite Welt, das Kupfer, das der Herr Vater abbauen lässt, den Kohl, den die Frau Mutter im Garten erwirtschaftet, die lieben Eltern und natürlich den kleinen Martinus selber.

Und natürlich auch die Nüsse. Die Nüsse, welche die Frau Mama im Garten geerntet hat, mit den Mägden zusammen aufgesammelt, als sie alle unter dem Strauch lagen.

Dann sind sie getrocknet worden auf den großen Flechttabletts, damit sie haltbar wurden und süß und aromatisch und nicht eine verschimmelte oder zusammengeschnurrte Enttäuschung bieten, wenn man sie knackt.

Natürlich hat der Herrgott auch die Nüsse geschaffen, die jetzt dort in der Schale auf dem Bord liegen, braun und glänzend und verlockend.

Oh, was für einen Appetit der kleine Martin auf eine der Nüsse hätte!

Natürlich ist es verboten. Aber wird es denn einer bemerken, wenn eine, nur eine einzige der Nüsse fehlt?

Vorsichtig sieht er sich nach allen Seiten um. Die Mägde sind im Garten beschäftigt, die Mutter wirtschaftet in der Küche. Martin kann ihre Stimme hören, mit der sie Anweisungen für das Abendbrot gibt.

Da reckt der Kleine seine Hand nach der Schale und greift eine, nur eine der Nüsse heraus und lässt sie schnell in seiner Tasche verschwinden.

Nur eine der Nüsse, das wird keiner bemerken. Niemand. Die Mutter nicht, der Vater nicht und wohl auch nicht der Herrgott.

Martin macht, dass er hinauskommt, drückt sich im Garten hinter den Beerensträuchern herum, damit er halbwegs sicher sein kann, dass niemand ihn beobachtet.

Die Nuss liegt glatt und warm in seiner Hosentasche.

Die Vorfreude auf den Genuss mischt sich mit dem langsam aufkommenden schlechten Gewissen. Was, wenn die Frau Mutter gerade diese Nüsse für irgendetwas schon verplant hätte? Wenn der Herrgott es dennoch gesehen hätte?

Nun, jetzt ist sie einmal genommen, jetzt darf man sie auch genießen.

Vorsichtig nimmt Martin die Nuss aus der Tasche, legt sie zwischen die Backenzähne, knackt.

Er nimmt die Nuss wieder aus dem Mund, fingert die Nussschalen auseinander und lässt sie wieder in der Hosentasche verschwinden. Den süßen Nusskern steckt er wieder in den Mund, kaut, schluckt.

Süß und saftig ist die Nuss – nicht sehr oft bekommt Martin eine solche.

Doch noch während er den Geschmack genießt, wird er ihm bitter.

Was, wenn der Herrgott es jetzt doch gesehen hätte? Wenn die Frau Mutter dahinterkäme oder gar der Herr Vater?

Martins Hand greift in seine Tasche. Zwei harte, kleine Nussschalenhälften erspüren seine Finger. Scharf, kantig. Er hat sich versündigt.

Eine ganze Weile steht der Kleine, unfähig, sich irgendwie zu rühren oder einen klaren Gedanken zu fassen. Dann endlich rafft er sich auf und kehrt ins Haus zurück. Als Sünder. Als zu Bestrafender. Seine kleinen Finger umklammern ein paar Nussschalen, bis sie wehtun.

Prüfend sieht die Frau Mutter ihn an, als er in die Küche schleicht. »Bist du krank?«

Martin schüttelt den Kopf. Krank nicht, nein, aber ein Sünder.

»Was ist mit dir?«

»Ich habe … habe … eine Nuss …« Das Stammeln geht in Weinen über.

Ein Blick der Mutter zur Nussschale scheint ihr zu sagen, was geschehen ist.

Schweigend geht sie in die Kammer, kehrt zurück mit dem Stock.

Zitternd und bebend tritt der kleine Martin auf sie zu.

Während sie ihn über die Bank legt, greifen seine Finger immer noch die Nussschalen.

So ist Liebe. So sind die Eltern. So ist Gott. Fehler werden gestraft, je härter, desto besser.

Hart und härter schlägt die Mutter zu.

Schweigend erträgt der Kleine die Stäupung. Und während seine Finger vom Umklammern der Nussschalen blutig werden, blitzt nur ganz kurz ein Gedanke in ihm auf: Wie, wenn die Mutter ihm ohne Strafe verziehen hätte? Wäre das ein Zeichen mangelnder Liebe gewesen? Wäre das nicht vielmehr das Wunder der Gnade gewesen?

Die Mutter ist fertig. Keuchend steht sie da, den Stock in der Hand.

Wie es von ihm erwartet wird, bedankt sich der Kleine für die Strafe.

Mit erstarrter Miene geht er hinaus, will sich unter den Apfelbaum setzen, tut es doch nicht, wegen der Schmerzen, bleibt schließlich stehen und sieht in die Krone hinauf. Ein Gedanke bleibt in seinem Herzen, wird ihn so schnell nicht loslassen. Wie bekomme ich Gnade?

 

***

 

»Meine Eltern haben mich hart gehalten, dass ich auch darüber gar schüchtern wurde; und ihr ernst und gestreng Leben, das sie mit mir führten, war eine Ursache dafür, dass ich hernach in ein Kloster lief und ein Mönch wurde. Die Mutter stäupte mich einmal um einer geringen Nuss willen, dass das Blut danach floss. Aber sie meinten’s herzlich gut.«

Aus einer Predigt von Martin Luther vom 20.08.1535

 

Über die Autorin

Inken Weiand, Jahrgang 1968, ist geboren in Wuppertal und dort auch aufgewachsen. Geschichten erdenkt sie vermutlich, seit sie denken kann. Und seit sie einen Griffel halten kann, schreibt sie diese auch auf.

Mit dem professionellen Schreiben begann sie erst nach einem abgebrochenen Mathematikstudium in Köln und einigen reinen Familienjahren. Zunächst handelte es sich um Kindergeschichten, später kamen andere Genres hinzu.

Die erste Veröffentlichung war 2006 »Wann wird denn endlich Weihnachten?«, ein Vorlesebuch für Kinder, im Johannis-Verlag, Lahr. Diverse weitere Veröffentlichungen folgten, siehe www.inkenweiand.de

Manuela Schörghofer – Wolfsliste

 

 

Vereinzelt fielen noch einige Tropfen vom Dachrand. Durch das Fenster beobachtete ein schmächtiger Junge ihren Weg zur Erde. Der kräftige Regen hatte die lehmige Straße von Mansfeld aufgeweicht und überall Pfützen hinterlassen.

Hoffnungsvoll reckte Martin den Hals, sah den schlammigen Weg entlang. Doch Nikolaus Ömler, seinen älteren Kameraden, der ihn manchmal zur Schule trug, konnte er nicht entdecken.

»Trödel nicht, sonst kommst du zu spät.« Die strenge Stimme seiner Mutter ließ Martin zusammenzucken. Hastig warf er einen Blick über die Schulter.

Margaretha Luder war nicht groß gewachsen. Ihre rauen Hände, mit denen sie so oft Holz im Wald sammelte, hielten das kleinste der Geschwister auf der Hüfte fest. Ihre Mundwinkel hingen stets ein wenig nach unten, was ihr Gesicht verhärmt aussehen ließ. Ihre Lippen waren fest zusammengekniffen, während sie ihren ältesten Sohn betrachtete.

»Ja, Mutter, ich beeile mich.« Martin öffnete die Haustür und drückte seine Schultasche fester an sich, als könnte sie ihn vor dem feuchten Wetter schützen. Seine dunklen, sorgfältig gekämmten Haare wurden von einer Mütze verdeckt, die er sich tiefer in die Stirn zog, bevor er über die Schwelle des elterlichen Hauses trat.

Vorsichtig sprang Martin über die Pfützen, darauf bedacht, nicht hineinzutreten. Schmutzige Schuhe waren der Mutter ein Gräuel und zogen Ärger nach sich. Obwohl er spät dran war, warf er – wie jeden Morgen – einen Blick auf die Burg der Grafen von Mansfeld, die hoch über der jungen Stadt thronte. Ihren Wohlstand verdankten sie den reichen Kupfervorkommen der Gegend. Martins Vater, Hans Luder, hatte von ihnen eine Hütte gepachtet, wo aus dem abgebauten Kupferschiefer Rohkupfer herausgeschmolzen wurde. Wie die Mutter, so erwartete auch der Vater gute Leistungen von seinem Ältesten. Martin seufzte, als er seinen Weg fortsetzte. Die Mansfelder Trivialschule, die durch die Großzügigkeit der Grafen errichtet worden war, lag nicht weit entfernt. Das zweistöckige Gebäude befand sich neben der St. Georgkirche, einem romanischen Gotteshaus aus einem vorherigen Jahrhundert.

Magister Schneider, ein großer hagerer Mann mit einer raubvogelartigen Nase, die stets ein wenig zitterte, wenn sein Träger zornig war, wartete mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor der Eingangstür. Er musterte die Schüler, die sich in Zweierreihen aufgestellt hatten.

»Hallo Hans«, murmelte Martin, als er neben seinen besten Freund, Hans Reineke, huschte. Er war ebenfalls der Sohn eines Hüttenmeisters, hatte etwa Martins Größe, war aber von kräftigerer Statur. Die Haare standen ihm immer ein wenig wirr vom Kopf ab, so sehr er sich auch bemühte sie glattzukämmen.

Magister Schneiders Blick wanderte streng über die Schüler, bis kein Laut mehr von ihnen zu hören war. Erst dann ließ er die Jungen eintreten. Der Klassenraum war karg und überschaubar. Die Pulte standen in drei Reihen geordnet. Von der gekalkten Wand auf der rechten Raumseite schaute der Gekreuzigte zur Fensterfront gegenüber.

Schweigend gingen die Kinder zu ihren Plätzen. Der Lehrer schloss die Tür und stellte sich vor die Klasse. »Salvete«, grüßte er die Schüler, die ihm im Chor antworteten, bevor sie sich setzen durften. Auf Lateinisch befahl der Lehrer ihnen, ihre Fibeln aufzuschlagen, über die – Dank der gräflichen Stiftung – jedes Kind verfügte. Er trat neben Ulf in der mittleren Reihe und wies ihn an, einen Satz zu lesen und zu übersetzen.

Während Ulf sich redlich mühte, das Prädikat im Satz zu finden, wurde Martins Blick von einer Amsel angezogen, die auf dem Fenstersims gelandet war. Der Vogel spreizte einen seiner Flügel und begann sich zu putzen. Der Lehrer nahm den nächsten Schüler an die Reihe. Martin betrachtete weiterhin die Amsel, die sich kurz schüttelte, bevor sie den Kopf verdrehte und ihm das Gefühl gab, ihn ebenfalls zu beobachten.

»Martin!« Magister Schneider stand direkt neben seinem Pult. Seine hellen Augen funkelten ihn an. Martin zuckte zusammen, sprang auf, als hätte die Bank plötzlich Feuer gefangen.

»Konjugiere mir das Prädikat mittere

Für einen Augenblick starrte der Junge seinen Lehrer sprachlos an. Er musste sich verhört haben. Das hatten sie bisher noch nicht durchgenommen.

»Maneo – ich warte«, erinnerte ihn Magister Schneider, während die Spitze seiner Raubvogelnase erbebte.

»Sed … – Aber …«, setzte Martin an, verstummte jedoch augenblicklich. Hatte er gerade gewagt seinem Lehrer zu widersprechen?

Magister Schneider trat einen Schritt zur Seite, deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger nach vorne. »Wer nicht arbeitet, versündigt sich an Gott. Du hast nicht gelernt, also werde ich dich bestrafen, damit das nicht noch einmal vorkommt.«

Martins Knie begannen zu zittern. Er schleppte sich so mühsam vor die Klasse, als würden seine Füße in tiefem Sand versinken. Seine Finger umklammerten den Rand des Lehrerpultes und er beugte sich darüber. Sein Mund wurde trocken, als Magister Schneider auf die Ecke zuschritt, in welcher der Rohrstock auf seinen Einsatz wartete. Der Lehrer ließ den Stock fauchend durch die Luft zischen, wie jedes Mal vor einer Bestrafung, was Martin den Schweiß auf die Stirn trieb. Bisher hatte er nur selten den Stock zu spüren bekommen. Er war kein übermäßig fleißiger Schüler, aber sehr gewissenhaft.

»Quindecim plagae.«

Was? Fünfzehn Schläge? Noch ehe Martin das Ausmaß seiner Strafe vollkommen erfasst hatte, sauste der Stock auf sein Hinterteil nieder.

»Uno!« Zischend atmete Martin aus.

»Duo!«

Ein weiteres Mal traf ihn der Schlag, fast genau an derselben Stelle. Martins Zähne knirschten ein wenig, so fest biss er sie zusammen. Beim fünften Hieb schossen ihm die Tränen in die Augen, beim zehnten begann er zu schluchzen.

»Quindecim!«

Geschafft. Doch Martin konnte sich nicht sofort wieder aufrichten. Sein ganzer Körper brannte: Sein Hintern von den Schlägen, sein Gesicht vor Scham und sein Herz von der ungerechten Bestrafung.

Er wischte sich mit den Handrücken über die Augen, ehe er mit gesenktem Kopf zu seinem Platz zurückschlich. In der Klasse war es still. Sein Freund Hans sah ihn mitleidig an, als Martin sich vorsichtig auf der Bank niederließ. Auf den anderen Gesichtern bemerkte er Häme, Gleichgültigkeit, aber auch Erleichterung, weil es vorbei war.

Wider besseres Wissen sah Martin zu Hermann Schellenbach hinüber, dem stärksten Schüler der Klasse, der in der mittleren Reihe hinter Ulf saß. Alles an dem Jungen war breit: das Gesicht, die Hände, der Körper und die Füße. Die vollen Lippen verzogen sich zu einem gemeinen Lächeln. Demonstrativ ließ er seine Finger über den Federkiel gleiten.

Hitze kroch über Martins Nacken und seine Ohren wurden rot. Diese Woche führte Hermann die Wolfsliste. Alle Schüler, die deutsch sprachen, fluchten oder sich schlecht benahmen, wurden auf ihr eingetragen. Ende der Woche wurden die Namen Magister Schneider vorgelegt, der dann die Bestrafungen durchführte. Mal mit dem Rohrstock, mal Strafarbeiten aufgab oder demütigende Tätigkeiten von den Delinquenten verlangte. Doch Martin hatte seine Hiebe bereits erhalten. Hermann würde ihn doch wohl nicht auf die Liste setzen? Vorsichtshalber warf er seinem Klassenkameraden einen weiteren Blick zu. Doch der hatte seine Aufmerksamkeit wieder dem Grammatikunterricht zugewandt und die Feder lag neben der Fibel. Aufmunternd nickte Hans seinem Freund zu. Martin gelang ein verkniffenes Lächeln.

»Das war ungerecht«, versuchte Hans ihn später in der Pause zu trösten. »Niemand von uns hätte das gewusst.«

»Ja, aber mich hat es getroffen«, murmelte Martin und rieb sich verstohlen die Kehrseite.

»Wirst du es daheim erzählen?«

»Auf keinen Fall.« Martin schüttelte sich. »Mutter würde mir nicht glauben und mich ebenfalls schlagen, weil ich nicht gelernt habe. Oder sie fürchtet sich, weil sie denkt, es wäre das Hexenwerk der alten Liese.«

»Eurer Nachbarin?« Hans riss den Mund auf. »Hat deine Mutter ihr nicht Suppe gekocht und sie umsorgt, als sie im Frühjahr so krank war?«

Martin winkte ab. »Aus Angst, nicht aus Nächstenliebe. Mutter befürchtet, Liese könnte uns Kindern etwas antun. Deshalb ist sie immer besonders freundlich zu ihr, um der Alten keinen Grund zu liefern, sich an uns zu rächen.«

»Glaubst du, dass eure Nachbarin eine Hexe ist?« Hans hielt den Atem an.

»Mutter ist davon überzeugt.« Martin zögerte. »Sie erzählt uns viele Geschichten über den Teufel und Dämonen. Satan ist der schlimmste Feind des Menschen und hat seine Helfer überall. Er verbirgt sie hinter einem freundlichen Gesicht oder in einer hübschen Gestalt. Mutter ermahnt uns ständig, auf der Hut zu sein.«

»Wird wohl stimmen«, meinte Hans achselzuckend. »Aber der Hermann ist weder nett noch schön, den hat der Teufel wohl vergessen. Denn sein Gehilfe ist er bestimmt, so wie der sich jedes Mal freut, wenn er uns eins auswischen kann.«

»Psst, versuche Satan nicht«, zischte Martin, während er sich hastig umschaute, als ob der Leibhaftige plötzlich neben ihm stünde.

In dem Augenblick kündigte Magister Schneider mit dem Läuten der Glocke das Ende der Pause an. Erleichtert wandte sich Martin ab und ging voran. Jetzt hatten sie Musik, sein Lieblingsfach. Meist übten sie die Stücke für den Chor, da die Schüler bei den Messen mitsingen mussten.

Als sie die Klasse betraten, blieb Martin abrupt stehen. Etwas hatte ihn in die Wade gebissen. Er bückte sich und kratzte an dem Flohstich.

Hans stieß mit ihm zusammen »Pass doch auf!«, rief er auf Deutsch. »Warum gehst du nicht weiter?«

Martin fuhr herum und legte den Zeigefinger an die Lippen – doch es war zu spät. Hermann Schellenbach grinste die beiden Freunde mit hochgezogenen Augenbrauen an, als er seinen Federkiel hob und Hans’ Namen auf die Wolfsliste setzte.

Martins Kopfhaut begann zu kribbeln, seine Nackenhaare stellten sich auf. Er sah seinen Freund um Verzeihung bittend an. »Mea culpa – meine Schuld.« Hans presste die Lippen zusammen, bevor er knapp nickte und zu seinem Platz ging.

Es fiel Martin schwer, dem Unterricht zu folgen. Immer wieder musste er zu Hermann hinübersehen, der betont eifrig die Kirchenlieder mitsang – mehr laut als richtig. Mechanisch bewegte Martin die Lippen, doch kaum ein Ton kam heraus.

Morgen war der letzte Schultag der Woche, an dem Hermann Magister Schneider die Wolfsliste übergeben musste. Neben der Strafe erwartete Hans der hölzerne Esel. Die Tierfigur wurde dem schlechtesten Schüler der Klasse um den Hals gehängt, in der Regel dem schmächtigen Titus, der sie dieses Mal an Hans weiterreichen durfte, weil er deutsch gesprochen hatte.

Tränen brannten hinter Martins Lidern. Angestrengt blinzelte er sie fort. Er musste etwas unternehmen – seinem Freund die Schande ersparen. Doch was könnte das sein? Mit Hermann zu reden wäre vergeblich. Es war ihm zuzutrauen, Martins Namen ebenfalls aufzuschreiben. Er konnte Hermann die Liste auch nicht entwenden. Der Verdacht würde sofort auf Hans fallen und die Strafe entsprechend hoch sein. Martin biss sich auf die Unterlippe.

Herr, bitte schicke mir einen Einfall, wie ich meinen Freund vor der Schmach schützen kann, betete er stumm, während die Klasse ein weiteres geistliches Lied anstimmte.

Eine Bewegung auf dem Fenstersims veranlasste Martin den Kopf zu wenden. Wieder saß eine Amsel davor, dieses Mal einen Regenwurm im Schnabel, der sich wild kringelte. Während Martin den Vogel mit seiner Beute beobachtete, der ihn an Hermann und Hans erinnerte, landete neben ihr eine zweite Amsel. Sie griff die erste sofort an, flatterte hektisch auf und ab, hüpfte vor und zurück. Die erste ließ den Wurm fallen, um sich zu verteidigen. In diesem Augenblick stürzte eine dritte Amsel herbei, schnappte sich die Beute und flog sogleich davon.

Der Zeigestock des Lehrers tippte ermahnend auf das Pult. Mit einem leichten Lächeln wandte Martin den Blick wieder nach vorne und dankte Gott still für die Hilfe. Nun wusste er, was zu tun war.

 

»Du musst ihn fortlocken«, erklärte Martin seinem jüngeren Bruder.

Jakob zog ein Gesicht. »Und wenn er misstrauisch wird?«

»Gib dir Mühe. Alles hängt von dir ab.« Seufzend fügte sich der Kleine.

Gemeinsam gingen die Brüder durch die Straßen von Mansfeld. Kurz bevor sie Hermanns Elternhaus erreichten, das am Stadtrand lag, blieb Martin stehen. »Frag ihn, ob er dir nicht unten an der Wipper ein paar von seinen Rauftricks zeigen will. Das ist weit genug weg. Tu so, als würdest du ihn bewundern. Los, nun geh’ schon.« Gehorsam machte sich Jakob auf den Weg.

Von seinem Platz aus, halb verdeckt durch eine Hauswand, lugte Martin um die Ecke. Er sah wie Berta Schellenbach, Hermanns stämmige Mutter, die Tür öffnete, einige Worte mit seinem Bruder wechselte und schließlich den Kopf schüttelte. Jakob deutete eine Verneigung an und kam zu Martin zurück.

»Hermann ist mit seinen Freunden im Wald«, eröffnete er ihm und sah erleichtert aus.

»Großartig.« Martin rieb sich die Hände. »Lauf dorthin und beo­bachte ihn. Sobald er nach Hause will, rennst du zurück und klopfst erneut bei Schellenbachs. Sollte ich schon fertig sein, komme ich dir entgegen.«

Tief holte Jakob Luft, dann nickte er ergeben. »Ja, Martin. Der Herr sei mit dir.« Er drehte sich um und war bald darauf Martins Blicken entschwunden.

»Schon wieder ein Luder?«, wurde er von Hermanns Mutter begrüßt, nachdem sie die Tür geöffnet hatte.

Martin räusperte sich, trat von einem Fuß auf den anderen. »Guten Tag Frau Schellenbach. Ich würde gerne zu Hermann.«

»Der ist nicht da«, erklang die barsche Antwort und die Tür schloss sich ein Stück.

»Verzeihung, ich glaube, Hermann hat versehentlich meine Fibel eingesteckt und ich brauche sie für die Hausaufgaben.« Martin neigte den Kopf und versuchte sich an einem bittenden Hundeblick.

»Meinetwegen«, gab Hermanns Mutter nach. »Komm rein.«

Die Frau füllte den schmalen, dunklen Flur beinahe aus, durch den sie Martin zu einer düsteren Kammer mit drei Betten, einem Tisch und einer Truhe führte. »Schau selbst nach, da liegt Hermanns Schultasche. Ich muss zurück in die Küche.« Mit einem Schnaufer drehte sie sich um und ließ Martin in dem Raum mit dem kleinen quadratischen Fenster allein, den sich Hermann mit seinen jüngeren Geschwistern teilen musste.

Mit fliegenden Fingern griff Martin nach der Ledertasche und öffnete sie. Die Liste fand er sofort. Er legte sie vorsichtig auf den Tisch und holte unter seiner Jacke ein Radiermesser, seine Schreibfeder, sein Tintenfass und seine Fibel hervor, um sie später Hermanns Mutter zu zeigen.

Flink und vorsichtig zugleich kratzte er die Tinte von dem Pergament. Martin begann zu schwitzen. Nur kein Loch in das Blatt stechen. Er zuckte zusammen. War da ein Geräusch? Kam einer der Schellenbachs ins Zimmer? Angestrengt lauschte er, hörte jedoch nur die Hausherrin in der Küche werkeln. Mit klopfendem Herzen wischte er sich die Finger an der Hose ab. Erneut nahm er den Federkiel zu Hand und ahmte so gut er konnte Hermanns Schrift nach. Dabei ersetzte er Hans’ Namen durch einen anderen und änderte das Vergehen.

Zufrieden lehnte er sich zurück und betrachtete sein Werk. Seine Schuld war getilgt. Sein Mitschüler würde nichts bemerken. Hermann schaute sich die Liste bestimmt nicht nochmals an, und sobald er sie an Magister Schneider übergeben hatte, erhielt er sie auch nicht zurück. Der Lehrer würde die aufgeschriebenen Namen nicht in Frage stellen, und Hans käme ungeschoren davon.

Mit einem Lächeln auf den Lippen verstaute Martin seine Arbeits­utensilien wieder unter der Jacke, nur das Buch behielt er in der Hand. Vergnügt schwenkte er die Fibel, als er die Küche erreichte. »Hermann hatte sie tatsächlich.«

»Natürlich«, brummte Frau Schellenbach, während sie ununterbrochen in einem großen Suppenkessel über der Feuerstelle rührte. »Ich kenne doch meinen Ältesten, das war Absicht. Aber der kann was erleben, wenn er nach Hause kommt.«

Der Duft von Gemüse stieg in Martins Nase und sein Magen knurrte. Vor Aufregung hatte er bisher nichts essen können. Was hatte Hermanns Mutter gerade gesagt?

»Nein, Frau Schellenbach – bitte – Hermann trifft wirklich keine Schuld. Wir sind unglücklich ineinander gelaufen und dabei sind unsere Bücher aus den Taschen gefallen. Er hat meine Fibel nicht in böser Absicht eingepackt. Bitte, Frau Schellenbach, bestrafen sie ihn nicht. Er ist wirklich unschuldig.« Wieder sah Martin die Hausherrin flehend an.

Frau Schellenbach hatte das Rühren eingestellt und die Suppe begann zu blubbern. Ihr Mund öffnete sich, doch es brauchte eine kleine Weile, bis Worte über ihre Lippen kamen. »Bist du sicher, dass wir von dem selben Hermann sprechen?«

Martin nickte heftig. »Es wäre sehr nett, wenn Sie ihm nicht erzählen würden, dass ich hier war. Ich möchte nicht, dass er ein schlechtes Gewissen wegen des Buches bekommt.«

Die Hausherrin starrte den Besucher an, dann zuckte sie mit den Schultern. »Du bist ein guter Junge, also schön, ich sage nicht, dass du da warst und werde Hermann auch nicht schlagen.«

Erleichtert stieß Martin die Luft aus. »Danke, möge Gott Ihnen Ihre gute Tat vergelten.«

»Ja, ja, schon gut.« Ein Suppenspritzer traf Frau Schellenbach am Arm und erinnerte sie wieder an ihre Pflichten. »Verschwinde jetzt, ich habe noch zu tun.« Damit drehte sie Martin den Rücken zu.

Der Junge huschte hinaus und zog hinter sich die Tür ins Schloss. Am liebsten hätte er gepfiffen, als er sich Richtung Wald wandte, um Jakob von seinem Wachposten zu erlösen.

 

»Du wirst heute nicht bestraft«, begrüßte Martin seinen Freund am nächsten Morgen, als er auf ihn wartete. Gemeinsam legten sie den Schulweg zurück, während die Sonne zwischen den Wolken hervorbrach.

»Was hast du gemacht?«, wollte Hans wissen.

»Lass dich überraschen«, antwortete Martin betont munter, darauf hoffend, dass das Schwanken seiner Stimme unbemerkt blieb. »Du wirst jedenfalls nicht mit dem hölzernen Esel geschmückt.« Hans runzelte die Stirn.

Martin sah seinem Freund an, dass er zwischen Hoffnung und Unglauben schwankte. So ganz konnte er es ihm nicht verdenken. Nachdem Martin eine Nacht darüber geschlafen hatte, kam ihm sein Einfall gar nicht mehr so genial vor. Doch jetzt war es zu spät. Nun blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als auf Gott zu vertrauen und den Dingen ihren Lauf zu lassen.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als der Lehrer vor Hermann stand und mit ausgestreckter Hand die Wolfsliste forderte. Der junge Schellenbach kramte in seiner Tasche, stand auf und übergab das Pergament mit einer leichten Verbeugung.

Bedächtig schritt Magister Schneider zurück zu seinem Pult und rieb seine Nase. Er legte die Liste offen vor sich hin, begann die Namen darauf vorzulesen und setzte gleichzeitig das Strafmaß fest. Immer heftiger klopfte Martins Herz, je mehr Namen Magister Schneider nannte.

»Titus Metzler – nicht nur der letzte der Klasse, sondern auch einen Handstand auf der Schulbank durchgeführt. Solch groben Unfug dulde ich nicht. Bis Montag schreibst du den Text auf Seite vierzehn deiner Fibel fünfmal ab. Kommen wir nun zum letzten Delinquenten.«

Der Lehrer stockte und Martin glaubte, sein Herz müsse jeden Augenblick zerspringen. Er presste seine Fingernägel so fest in die Handinnenflächen, dass sie halbmondförmige Male hinterließen.

»Martin Luder – fehlerhaftes Konjugieren.«

Hans’ Kopf flog herum. Mit weit aufgerissenen Augen sah er seinen Freund an. Marin erhob sich, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und starrte vor sich auf das Pult.

»Nein, Hermann, Martin hat seine Strafe schon erhalten«, sagte Magister Schneider bestimmt. Der Angesprochene stand auf. Martin wagte kaum zu atmen. Unter gesenkten Lidern schielte er nach vorne zu seinem Mitschüler, der jetzt tief Luft holte. »Verzeihung, Magister, aber ich habe seinen Namen nicht …«

»Ruhe und widersprich nicht!« Die Augenbrauen des Lehrers zogen sich drohend zusammen. »Du hast einen Fehler gemacht.« Sein Zeigefinger deutete auf die Liste. »Das ist verzeihlich, nicht aber ihn zu leugnen. Ihr seid hier um zu lernen, Verantwortung für euer Handeln zu übernehmen.«

Sein Blick wanderte von Hermann zum Rohrstock und wieder zurück. Der Junge schluckte nervös. »Wenn du es nicht im Guten lernen willst, so werde ich es dir auf eine andere Weise beibringen müssen.«

»Erravi – ich habe mich geirrt«, stieß Hermann hastig hervor. Er atmete sichtlich erleichtert auf, als Magister Schneider ihm mit einer Handbewegung erlaubte, sich wieder zu setzen.

»Das gilt auch für dich, Martin.« Der strenge Blick wurde etwas weicher. »Eine doppelte Bestrafung ist eine ungerechte Bestrafung.«

Sofort gehorchte Martin, während er sich in die Innenseite der Wange biss, um seinen Triumph nicht zu zeigen. Er hatte nicht damit gerechnet, ungeschoren davon zu kommen, war bereit gewesen, erneut die Schläge über sich ergehen zu lassen. Was hätte er auch tun sollen? Hans’ Namen einfach nur zu löschen, wäre wahrscheinlich aufgefallen, die radierten Stellen zu überschreiben weniger. Hermanns hätte er auch nicht aufschreiben können. Da wäre selbst der Lehrer misstrauisch geworden. Der Junge, der die Wolfsliste führte, schrieb selten seine eigenen Vergehen auf, und zu Hermanns Charakter passte das überhaupt nicht. Hätte Martin jedoch den Namen eines unschuldigen Mitschülers anstelle dem seines Freundes auf die Liste gesetzt, hätte er sich für den Rest seines Lebens geschämt. Er sah nur die Möglichkeit, seinen eigenen Namen hinzuschreiben. Immerhin trug er an der Situation eine Mitschuld. Einmal hatte er in dieser Woche schon Prügel bezogen, dieses Mal wäre es dann wenigstens halbwegs gerechtfertigt gewesen. Doch so war es natürlich viel besser.

Während Magister Schneider nun bedächtig den hölzernen Esel unter seinem Pult hervorholte, um ihn Titus Metzler umzuhängen, reckte Hans heimlich den Daumen nach oben. Ein leichtes Lächeln umspielte Martins Lippen, als er die Hände faltete und ein stilles Dankgebet an den Herren sandte.

Ein zartes Klopfen ließ ihn zum Fenster blicken. Dort saß eine Amsel, legte das Köpfchen schief und blinzelte. Martin war sicher, dass sie ihm zuzwinkerte.

 

***

 

Über die Autorin

Manuela Schörghofers Wiege stand im Rheinland. Heute lebt sie zusammen mit Familie und Samtpfoten glücklich in einem idyllischen Örtchen im Süden des Bergischen Landes. Am liebsten schreibt sie mittelalterliche Abenteuer, gewürzt mit Verbrechen, fantastischen Begebenheiten oder einer Prise Humor.

Näheres über die Autorin und ihre Veröffentlichungen erfahrt ihr auf ihrer Homepage: www.schörghofer.de

Martin Beyerling – Vom Teufel geritten, von Gott gelenkt

 

Ich gebe nicht viel auf das Geschwätz junger Studiosi mit heißem Kopf«, sagte der Prokurator des Erfurter Generalgerichts. Er saß in erwartungsvoller Pose hinter einem Schreibpult und hob mahnend die Feder. »Doch mir sind Klagen zu Ohren gekommen. Ungeheuerliche Vorwürfe, Herr Luder. Und ich gedenke sie zu prüfen, bevor ich die Klage an die Richter weitergebe. Daher hielte ich es für angebracht und ratsam, die Geschehnisse aus deinem Munde zu hören.«

Martin Luder, ein hagerer Bursche mit stechendem Blick, rückte auf dem Schemel hin und her. Es war ihm augenscheinlich unwohl zu Mute. Er schien die Worte abzuwägen, legte eines zurecht, verwarf ein anderes, kam jedoch zu keinem festen Entschluss. Der Prokurator klopfte zur Mahnung auf das Pult: »Ich beschwöre dich zu reden. Der Pöbel wetzt das Messer, die Gerichtsbarkeit wälzt Papier. Nicht lange und du wirst zur Verantwortung gezogen. Allzumal du bereits auffällig wurdest bei einem verbotenen Duell mit einem gewissen Cornelius Wigant.«

»Conradus Wigant, Herr Prokurator«, berichtigte Luder und brach damit sein Schweigen. »Es tut mir noch immer in der Seele weh, doch es war ein böses Unglück, bei dem wir beide zu Schaden kamen. Der Degen traf meine Schlagader, dem Conradus erging es nicht viel besser. Ich habe bereut und gebeichtet.«

»Und dir wurde vergeben!«, fügte der Prokurator an. »Der Fall steht nun aber anders. Man bezichtigt dich des Mordes. Du hast hohe Fürsprecher, Herr Luder. Allein, sie nutzen dir nichts, wenn die Schuld auf der Hand liegt. Ich würde gern behilflich sein, nur weiß ich nicht wie. Also rede endlich!«

Sofort brach es aus dem Studenten heraus: »Ich weiß, Herr, dass man mir ans Leben will. Jedoch widersprech ich dem Vorwurf.«

»Du warst es also nicht? Warst nicht derjenige, der das Messer führte?«

»Doch, doch, der war ich wohl, dennoch lag keine böse Absicht dahinter.«

»Es war also wie beim Conradus Wigant ein Unglück? Ein Versehen?«, fragte der Prokurator und brachte mit sicherer Hand einige Zeilen zu Papier.

»Nein, das nun nicht«, stellte Luder klar. »Ein Versehen müsste man es nennen, wenn ich gestürzt wäre und ihn dabei verwundet hätte. Ich führte das Messer. Und doch wieder nicht. Es kam wie eine Urgewalt über mich.«

Der Prokurator blickte misstrauisch zu Luder herüber: »Es kam über dich? Was wird das gewesen sein?«

Luder schwieg. Die Antwort lag ihm offenbar auf der Zunge, doch getraute er sich nicht, seinen Verdacht auszusprechen. Dann, nach weiteren Beschwichtigungen und Drohungen des Prokurators, sprach er: »Der Teufel war’s«

»Der Teufel?«

»Ich hatte wohl wenig an ihn geglaubt und ich meine, das war sein Einfallstor. Seit dem Duell mit Conradus hatte er auf eine Gelegenheit gelauert und fand sie nun, als der Hieronimus Buntz zu laut wurde.«

 

Das Reinboth’sche Haus stank nach Schweiß, Urin und kaltem Rauch. Also wie ganz Erfurt. Dennoch konnte dieses Wirtshaus als ein Konzentrat des städtischen Lebens gelten. Nicht nur die Studenten der Erfurter Universität nahmen hier Platz und kippten, was immer der Wirt auf die Tische schob, auch Handwerker und Kaufleute traf man hier. Es kam jedoch selten zu Verbrüderungen zwischen diesen Herren, sodass sich der Schankraum nach wie vor in Berufsgruppen einteilen ließ.

Die Studenten saßen heut wie alle Tage am langgezogenen Eck links der Eingangspforte an einem wahrhaft mächtigen Eichentisch, der so manches hatte ertragen müssen. Wie der gepeitschte Rücken eines Tagediebes war er übersät von Kanten und Kerben. Gerade trieb der Studiosus Luder einen weiteren Schnitt ins Holz.

Sein Kommilitone Hans Mühlherr ermahnte ihn sogleich: »Das Messer wird bald stumpf. Dann wirst du dein Brot mit der Handkante schneiden müssen.«

»Dazu reicht mir mein messerscharfer Verstand«, scherzte Luder. Sie lachten und prosteten sich zu. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung unter dem guten Dutzend Studenten. Sie hatten alle Prüfungen vollendet und waren nun honorierte Magister, denen das weitere Studieren und die weite Welt offenstand. Man trank auf das Leben, auf den Landesherrn, auf die sieben freien Künste, auf Brot und Wasser, auf Asseln und Ratten, auf alles, bis die Köpfe hochrot glänzten und das Kerzenlicht überstrahlten.

In diesem Überschwang kam eine rege Diskussion über den Abschluss und die sich nun eröffnenden Möglichkeiten in Gang. Johann Schwarzer, ein lumpig gekleideter Studiosus mit Hasenscharte, vermeinte an der Universität nichts Weltdienliches gelernt zu haben. Sein Magister artium tauge als Wandbild, nicht aber um der Christenheit oder der Stadt Erfurt oder sonstwem irgendeinen Vortrieb zu leisten. Einige andere stimmten in diesen Klagechor ein und bald fand sich eine breite Front von Schwarzmalern und Skeptikern. Martin Luder indes schmeckte diese unheilige Einigkeit nicht.

»Dann wärst du doch Fischer oder Küfner geworfen, wenn du nichts Gescheites darin findest!«, polterte er und erntete harsche Widerworte. Das ursprüngliche Ansinnen des Studierens sei das eine, die tatsächliche Lehre aber das andere. Man habe die Leisetreter von Professoren nicht erahnen können, als man sich einschrieb. Es gäbe zwar einen Weg in den Geist, doch keinen Weg in die Welt und dergleichen mehr. Man ereiferte sich über alle Maßen. Luder hörte sich die Hasstiraden geduldig an, gleichwohl es ihn immer wieder sichtlich juckte, wenn er einem unpassenden Wort stattgeben musste. Sein Freund Hans gesellte sich schließlich auf Martins Seite und gab zu Bedenken: »So ihr nun abgeschlossen habt, seid ihr doch allesamt frei, Gutes in die Welt zu tragen.«

Und Luder fügte an: »Seht das Studium doch nicht als Wegweiser, seht es als Proviant für diese Reise.«

Zwar hatte er alle angesprochen, doch insbesondere Hieronimus Buntz, ein wilder Geist mit schütterem Haar und vollem Bart, fühlte sich provoziert.

»Dann nimmst du also Wackersteine zur Wegzehrung«, fragte er rhetorisch, »und meinst, man könne damit irgendwo hingelangen?«

Luder war empört: »Was du Wackersteine heißt, nenne ich das Pflaster zum Himmel. Wer die vielgestaltigen, manchmal irreführenden Wege zur Erkenntnis verleugnet, begibt sich auf den Pfad der Einfalt.«

Herr Buntz funkelte Luder an, als wollte er ihn verspeisen. »Das ganze Studium ist ein Pfad der Einfalt. Und du, Martin Luder, bist die Vogelscheuche am Wegesrand!«

Das war zu viel. Die Diskussion wandelte sich zum persönlichen Streit.

»Ich will es nur sicher wissen«, begann Luder mit einem bedrohlichen Klang in der Stimme, »du schimpfst mich eine Vogelscheuche?«

»Keinesfalls«, entgegnete Buntz und lächelte wieder. »Du bist wohl aus Fleisch und Blut, allein im Schädel findet sich das Stroh.«

Diese Äußerung sorgte für Gelächter und dem ein oder anderen erschien es bereits, als hätte der Scherz die Lage entspannt. Dem war nicht so. Martin Luder machte keine Sekunde ein vergnügliches Gesicht. Er schnitt sich ein Stück Käse ab und biss darauf, als müsse er es töten. Hans Mühlherr wirkte beruhigend auf ihn ein, befahl dem Wirt, die Luft aus den Krügen zu lassen, doch auch als die Kehlen wieder feucht und die meisten Köpfe kühl geworden waren, blieb der Luder verstimmt. Buntz bemerkte dies und sprach ihn schließlich an: »Nun kau nicht so unwirsch, Herr Magister. Du sprachst doch vom Pfad zum Himmel. Ich behaupte nicht zu wissen, wie man dahin gelangt, doch sicher nicht durch ungezügelten Zorn.«

»Und ebenso wenig durch offenen Spott«, sagte Martin Luder und spuckte ein Stück Käse beiseite. Er hatte die Kränkung nicht verwunden. »Wenn ich nun wirklich Stroh hinter der Stirn hätte, wie ist es möglich, dass mein Magister glanzvoller ausfiel als der deine?«