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Band 159

 

Der falsche Meister

 

Rainer Schorm

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

TEIL I

1. Sud

2. Perry Rhodan

3. Sud

4. Perry Rhodan

5. Sud

6. Perry Rhodan

7. Sud

8. Sintrak: Kroum

9. Perry Rhodan

10. Rufus Darnell

11. Perry Rhodan

12. Sintrak: Karsuul

13. Sud

TEIL II

14. Perry Rhodan

15. Karsuul

16. Perry Rhodan

17. Karsuul

18. Perry Rhodan

19. Sud

20. Rufus Darnell

21. Karsuul

22. Perry Rhodan

23. Sud

24. Karsuul

25. Rufus Darnell

26. Perry Rhodan

27. Baar Lun

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit erschließt er der Menschheit den Weg zu den Sternen.

In den Weiten der Milchstraße treffen die Menschen auf Gegner und Freunde; es folgen Fortschritte und Rückschläge. Nach 2051 wird die Erde unbewohnbar, während Milliarden Menschen an einen unbekannten Ort umgesiedelt werden.

Der Schlüssel zu den seltsamen Ereignissen liegt in der Galaxis Andromeda. Dorthin bricht Perry Rhodan im modernsten Raumschiff der Menschheit auf. Anfang 2055 gelangt die MAGELLAN am Ziel an.

Mit jedem System, das die Menschen erkunden, erfahren sie mehr über die Situation in Andromeda. Insbesondere die mysteriösen Meister der Insel spielen eine zentrale Rolle. Nun dringt Perry Rhodan tief ins Machtzentrum des Thetiserreichs vor. Im Herzen einer Dunkelwolke präsentiert sich DER FALSCHE MEISTER ...

TEIL I

Erste Etappe: Gercksvira

 

1.

Sud

Das Auftauchen aus tiefem Wasser ...

 

Ja.

Genau so fühlte es sich an. Es war wie ein langsames, aber unaufhaltsames Gleiten nach oben. Der Druck, anfangs mörderisch und jenseits menschlicher Vorstellungskraft, wurde schwächer. Ein Aufatmen war plötzlich möglich. War es eben noch aussichtslos, strömte nun wieder Sauerstoff in die geplagten Lungen.

Aber in welche Lungen? Das Bewusstsein suchte nach Form. Der Eindruck war verheerend: Bruchstücke ... Teile, die nicht zusammenpassten, aber in Bewegung waren. Sich näherten, verschmolzen, fusionierten, sich wild mischten. Eine Form wuchs heran. Die Neuronen des Gehirns feuerten. Asynchron zunächst, aber mit der Zeit bildete sich neu synchronisiertes Nervenfeuer. Bewusstsein entstand.

Was ... Wer bin ich ...? Ich bin, er ist ... Sud! Ich kann atmen! Endlich!

Suds Erleichterung war grenzenlos und verschaffte sich in einem lang gezogenen Stöhnen Luft. Die furchtbare Empfindung, ersticken zu müssen, verschwand. Das Entsetzen darüber, dass das eigene Ich eher Scherben ähnelte als einer Identität, nahm zu. Das Gefühl der Zerrissenheit war kaum auszuhalten.

Aber ich atme, er atmet. Ich bin er und am Leben ... wie auch immer! Kein Ringen nach Luft. Nicht mehr. Das Gefühl des Erstickens ist weg. Nein: nicht ganz. Es lauert im Hintergrund nur auf eine Chance, sich von Neuem breitzumachen. Es greift nicht nur nach einem, es umschließt ihn und mich, durchdringt ihn und mich vollkommen und verwandelt uns in ... Verlangen! Das Verlangen, zu atmen.

Etwas irritierte Sud. Das Gefühl, aus großer, finsterer Tiefe emporzutauchen, war eindeutig. Aber das Wasser war ...

... rot! Es sieht nicht aus wie Wasser! Es ist wie ... Feuer! Eine karminrote Flamme, als würde Lithium brennen! Als bestünde die ganze Welt aus in Brand geratenem Lithium. Das Rot ist beängstigend; es wabert wie ein Dämon, der darum ringt, in die Realität einzudringen und sich dort auf ewig zu festzusetzen.

Bislang waren die Gedanken eher abstrakt; Distanz bot eine gewisse Sicherheit. Aber Sud war zumindest eins klar: Das durfte auf keinen Fall sein. Auf gar keinen Fall. Dieses Rot war falsch! Völlig falsch. Es hatte in der Realität nichts zu suchen, und die Folgen würden verheerend sein. Oder waren sie es bereits? Etwas hatte sich verändert, das spürte er oder sie mit jeder Faser seiner oder ihrer Existenz. Sud nahm die Welt seltsam bipolar wahr, wie durch zwei Paar getrennte Augen, die nicht zusammengehörten. Es war irritierend, aber gleichzeitig fühlte es sich echt an; ganz als müsse es so sein.

Welches Augenpaar ist meines?, fragte sich Sud.

Sofort kam die Antwort, aus zwei unterschiedlichen Richtungen, mit unterschiedlichen Stimmen: Deins!

Das war schizophren. Sud wusste es im selben Augenblick. Oder doch nicht?

Eine dritte Stimme, diesmal wohl real, sagte: »Das ergibt keinen Sinn ... Das ... ist verrückt!« Die Stimme war leise, klang gepresst, als habe der Sprechende Schmerzen oder keine Kraft.

Bin das etwa ich?, fragte sich Sud beunruhigt. Die Verwirrung wich nur langsam.

Eine andere, sanfte Stimme drang an sein Ohr. Sie klang beinahe säuselnd; einlullend, aber angenehm: »Halt durch. Es dauert nicht mehr lange. Wir haben das angepeilte Ende des Transmissionskanals beinahe erreicht. Die Halbraumwelle bricht in sich zusammen. Die Restbewegung wird uns ans Ziel tragen. Ich habe die Refraktionsphase initiiert. Du bist stärker geschädigt, als das üblicherweise der Fall ist. Bleib ruhig! ... Ganz, ganz ruhig ... Bald ist es vorüber! Im Uterus bist du sicher.«

Sud war verwirrt. Die Stimme hatte etwas Synthetisches, gleichzeitig vermittelte sie all das, was die Worte andeuteten. Es war beruhigend, ihr zuzuhören. Für einige Sekunden ließ sich Sud in dieser Welle des Geborgenseins treiben, und er oder sie fühlte sich wohl.

Wie in einem Fluss.

... einem Fluss aus Feuer!

Die Stimme flüsterte: »Es ist fast geschafft!«

Was ist geschafft?, wollte Sud fragen, dabei stieg sofort die Frage empor, ob die Antwort zu ertragen war. Angst machte sich in ihm oder ihr breit. Das Gefühl ähnelte dem des Ertrinkens so sehr, dass aus Angst Panik wurde. Das Herz holperte und schien im Hals zu sitzen.

Heiseres, hektisches Atmen pulste durch die Stille.

Es war dunkel. In einem düsteren Zwielicht zeichnete sich die Umgebung nur schemenhaft ab, vermittelte ein Gefühl der Enge. Nach wie vor war die Wahrnehmung eigenartig gespalten.

Entweder habe ich vier Augen oder mit der Wahrnehmungsverarbeitung stimmt etwas ganz und gar nicht! Das war beängstigend. Der Eindruck, sich nicht auf die eigenen Sinne verlassen zu können, löste einen neuen Panikschub aus.

Dann traf Sud der Schlag. Mit einem Mal bestand nicht nur die ganze Welt, sondern sein oder ihr ganzer Körper aus Schmerzen. Das karmesinrote Feuer brannte sich in ihn oder sie hinein, erreichte jede Zelle, jeden Zellkern. Kernschmelze in jedem einzelnen Mitochondrium: so grell, so heiß, so entsetzlich.

Sud schrie, aber was da den Mund verließ, war so schwach und jämmerlich, dass es jedem Lebewesen auf der Welt peinlich gewesen wäre: so armselig, so hinfällig. Jede einzelne Schwingung transportierte eine einzige, quälende Aussage: Opfer!

»Ruhe ... nur die Ruhe!«, sagte die fremde, synthetische Stimme leise und voller Mitgefühl. »Es geht vorbei! Die Nervenendungen nehmen ihre Arbeit auf. Wie jedes Mal ... Halt ein kleines Weilchen durch. Ich bin bei dir.«

»Was ... Was ist mit mir ... Wer sind die anderen?« Nach wie vor klangen die eigenen Worte kraftlos. Ja jämmerlich!

»Es scheint sich eine Art von Schizonexie abzuzeichnen!«, lautete die wenig hilfreiche Antwort. »Der Prozess steht wohl kurz vor dem Abschluss, dem finalen Nexus. Es ist nicht gefährlich. Deine Vitalwerte sind alarmierend, aber das ist in diesem Kontext normal. Der Transfertunnel hat schlimme Auswirkungen auf biologische Komplexitäten. Mach dir keine Sorgen. Du bist stark genug.«

Sud wollte lachen und scheiterte. Das entstehende Geräusch war in einem Maße unzulänglich, dass es kaum zu ertragen war. Dazu kam das widerwärtige Wabern, das ihn oder sie umschloss, gleichzeitig aber in die Tiefen des Körpers drang. Das Gefühl, sich in karmesinrotem Feuer aufzulösen, war entsetzlich. Das Stöhnen klang kein bisschen beeindruckender als das Lachen zuvor.

Sud fühlte ein Aufbäumen: Der eigene Körper bog sich verkrampft nach oben.

Werden Muskeln zu sehr angespannt, können sie Knochen brechen!, erinnerte sich Sud. Bei epileptischen Anfällen kommt das vor. Der Körper zerstört sich selbst. Genauso fühle ich mich und er sich: Einzelne Teile, die zuvor ein Ganzes waren ... Was bin ich jetzt?

Etwas massierte den malträtierten Körper. Entspannung brachte das kaum, aber zumindest nahm die Verhärtung nicht weiter zu. Der Mund fühlte sich trocken an; staubig, ja ausgedörrt.

»Was war ... Woher ... Wohin fliegen wir?«, stöhnte Sud. »Und wer bin ich, zum Teufel?« Kein Wunder, dass meine Stimme klingt wie abgenütztes Sandpapier!

»Wir sind beinahe am Ziel!«, lautete die Antwort. »Es ist Gercksvira, die Ruine!«

»Gercksvira?«, ächzte Sud fragend.

Für einen kurzen Moment schwieg die Stimme. Sud kam es wie Stunden vor, ausgefüllt mit quälendem Rot. Rot ist keine Einheit zur Zeitmessung. Es ist eine Farbe, wenn auch eine fürchterliche! Ich muss halluzinieren! Werde ich wahnsinnig? Oder bin ich's längst?

»Gercksvira«, setzte die sanfte Stimme an, »... das ist die Tiefste aller Niederungen. Ein unheilvoller Name. Aber das sollte dich nicht weiter kümmern oder beunruhigen. Du darfst dich nicht aufregen. Dein kardiovaskuläres System ist äußerst labil. Das entspricht dem restlichen Befund. Nichts Außergewöhnliches. Die biologischen Parameter sind allesamt im akzeptablen Bereich während eines Transfers. Kümmere dich nicht um Gercksvira!«

»Wieso ... dauert das so lange?«, fragte Sud gequält. »So ... lange!«

»Die Transferzeit ist subjektiv gestreckt!«, antwortete die sanfte Stimme.

Das ist die »Amme«!, schoss es Sud durch den Kopf, während rote, brennende Schlieren durch seine oder ihre Gedanken trieben. So hat sie sich genannt: die Amme! Wie konnte ich das vergessen?

»Wieso gestreckt?«, wollte Sud wissen. Der linke Arm fühlte sich taub an, als sei er nicht mehr vorhanden, aber spürbar. Phantomschmerz. Seine oder ihre Schläfe brannte wie das Feuer, in dem beide schwammen. Sud hörte Zischen, spürte Injektionen. Die Hitze im Arm wich angenehmem Frost.

»Die neuralen Prozesse sind während eines Transfers beschleunigt«, sagte die Amme nachsichtig. Vielleicht hatte Sud diese Frage ja bereits zu einem früheren Zeitpunkt gestellt? Vielleicht mehrmals? »Das liegt zum Teil an den instabilen Verhältnissen der Halbraumzone. Dieselbe Labilität, die uns über große Distanzen bewegt, hat ihre Auswirkungen auf neuronale und allgemein biologische Prozesse. Dazu kommt der Versuch deines Körpers, diese Labilität durch eine höhere Aktivität zu kompensieren. Also kommen dir Sekundenbruchteile wie Minuten vor. Oder vielleicht sogar Stunden. Leider ist deine Qual durchaus nicht subjektiv oder eingebildet. Die Schäden, die dein Organismus erleidet, federe ich ab, so gut ich kann, und du tust das Deine dazu. Ohne Zelldusche wärst du längst verstorben!«

Soll mich das jetzt beruhigen?, fragte sich Sud verblüfft. Und was für eine Zelldusche?

Ein neuer Schwall glühenden Rots durchdrang den Körper und setzte jede einzelne Nervenendung in Brand. Sud schrie seine oder ihre Qual in die Dunkelheit, die beide umgab. Dass rotes Feuer und Finsternis kaum zusammenpassten, fiel ihm oder ihr nicht auf. Derzeit war beides möglich.

Die Finsternis warf Wellen. Sie schwappten wie zähflüssiger Teer durch das Karminrot. Wo sie gewesen waren, wurde das Feuer schwächer. Es flackerte.

Ich will weg hier! Und sie auch!, dachte Sud sehnsuchtsvoll.

Funken stoben durch die Finsternis, als habe jemand eine Wunderkerze entzündet. Die grellen Lichtpunkte verglommen so schnell, wie sie gekommen waren. Das Rot wurde dunkler, blutiger und immer schwächer.

»Wir sind fast da!«

Sud glaubte, etwas wie Erleichterung in der Stimme wahrzunehmen. Eigentlich ist das nicht möglich, oder? Die Amme ist synthetisch; eine Positronik, allerdings eine extrem leistungsfähige. Der Gedanke war belanglos, aber Sud genoss das bisschen Trost, das vom Mitgefühl der Amme herrührte.

»Austritt!«, informierte die Positronik dann. Das Rot erlosch. Es versickerte in der Schwärze der normalen Raum-Zeit.

Vor Suds geistigen Auge erschien ein Ring. Ein Kreis aus rotem Feuer, der nun verflackerte wie eine Kerze mit zu kurzem Docht.

Sud atmete auf. Diese Wunde, diese Ader war nun geschlossen, und das war gut so. Ohnehin war es verwirrend, dass im Innern dieses Gefährts Eindrücke von außen wahrnehmbar waren. Es handelte sich keinesfalls um Projektionen. Das war Sud jedoch gleichgültig: Es war vorbei!

Die Erleichterung überschwemmte Sud erneut. Gleich darauf allerdings stellte sich eine Erkenntnis ein, die weniger angenehm war: Die Schmerzen blieben.

»Hört das ... irgendwann wieder auf?«, krächzte Sud gepeinigt.

»Oh ja!«, versicherte die Amme. »Die Biorefraktion hat begonnen. Allerdings wird es bis zur Wiederherstellung länger als gewöhnlich dauern. Mir scheint, seit der Zelldusche ist viel Zeit vergangen. Du solltest sie möglichst bald auffrischen. Die Tiefste aller Niederungen beschleunigt die Schizonexie.«

Aus dem Schwarz wurde in Bruchteilen von Sekunden Blau. Ein intensives, helles Blau.

»Blau beruhigt die Nerven!«, sagte die Amme. Sie projizierte ein Bild, sodass Sud endlich sah, wohin der Transferkanal ihn gebracht hatte.

Blau beruhigt!, dachte Sud entsetzt. Aber das da tut es ganz bestimmt nicht!

»Das ist Gercksvira!«, verkündete die Amme. »Wir haben die Tiefste aller Niederungen erreicht.«

2.

Perry Rhodan

Das Geheimnis des äußeren Rings

 

Die MAGELLAN schien sich aufzubäumen. Die Absorber ließen gerade so viel von der Erschütterung durch, wie dem Organismus zuzumuten war. Ein pulsierendes, tiefes Wummern lag in der Luft: Die Vibrationen der Wände und der Zelle gaben den Impuls an die Atmosphäre weiter. Einige Besatzungsmitglieder taumelten, die meisten wurden jedoch durch Sperrfelder oder Haltegurte gesichert. Lose Gegenstände flogen umher. Die 50 Meter durchmessende Kuppel der Zentrale verwandelte sich übergangslos in einen hektischen Bienenkorb. Die Alarmpfeifen erzeugten zusätzlich ein akustisches Chaos.

Perry Rhodan krallte sich in seinen Pneumosessel, der in der Mitte der Zentrale auf einer beweglichen Rundbühne montiert war. Von dieser etwas erhöhten Position aus konnte Rhodan die zehn Meter hohe Zentrale komplett überschauen. Ohne die von der Hauptpositronik rechtzeitig aktivierten Sicherheitsfelder wäre er allerdings niemals imstande gewesen, sich zu halten.

Ein Notstopp?, dachte Rhodan überrascht. Aber in diesem Hexenkessel musste so etwas ja früher oder später passieren!

»Die Beschleunigung wird abgebrochen!«, verkündete die Positronik laut genug, dass man es durch das Meer aus Lärm hören konnte. »Die vorgesehene Transition findet nicht statt.«

Renaya Dalva de Vasconcelos schimpfte farbig und mit der ganzen Heftigkeit ihres brasilianischen Temperaments. Frustriert warf die Pilotin der MAGELLAN sich gegen die Sessellehne.

Die Aufregung ringsum war spürbar, lief aber in geordneten Bahnen ab. Die Zentralebesatzung arbeitete diszipliniert. Neben Rhodan saßen Conrad Deringhouse und Reginald Bull. Die Stationen der Kontrolloffiziere waren alle besetzt, die Reserve war verständigt. Das geschah automatisch.

Der Holodom, der den Eindruck hervorrief, man blicke durch eine gläserne Kuppel direkt in den Weltraum, produzierte übergangslos reines, grelles Weiß. Rhodan kniff instinktiv die Augen zusammen. Selbstverständlich filterte die Positronik alles auf ein Niveau herab, das niemandem schadete, aber der Eindruck von greller Helligkeit war offenbar wesentlich und gewollt.

Die Belastung war spürbar, aber nicht gefährlich. Trotzdem war sie beunruhigend. Die Andruckabsorber waren wesentlich für die Reise zwischen den Sternen. Die Belastungen durch Beschleunigung und Bremsmanöver wären ohne Kompensation tödlich gewesen. Die Hauptpositronik war in der Lage und berechtigt, minimale Stöße durchzulassen. Dass sie das tat, war ein deutliches Zeichen dafür, dass die Schirme der MAGELLAN an ihrer absoluten Leistungsgrenze arbeiteten. Die Alarmsysteme des Schiffs arbeiteten auf höchster Stufe – und die Sicherungsfelder für die Besatzung speisten sich aus lokalen Speichern, die lediglich eine kurze Leistungsspitze abfedern mussten ... und konnten!

Rhodan richtete sich auf. Niemand schien verletzt zu sein. Davon konnte man bei Betriebswerten, wie sie beim Beschleunigen einer Masse wie der MAGELLAN zum Tragen kamen, nicht automatisch ausgehen. Glück gehabt, wie's aussieht!, dachte Rhodan.

Die meisten akustischen Warnsequenzen hatte Kommandant Deringhouse mittlerweile desaktiviert, um nicht ständig davon irritiert zu werden. Die Frauen und Männer der Ersatzschicht verließen ihre Bereitschaftsräume, um Ausfälle so schnell wie möglich kompensieren zu können.

Bull fluchte laut und ganz ohne Hemmungen. Er fuhr sich durch das kurze, rote Haar, als wolle er dort etwas vertreiben. Deringhouse zeigte seine Bestürzung nicht derart deutlich. Rhodan kannte die Körpersprache seines alten Freunds gut genug. Der hagere Mann mit den grauen Bartstoppeln neigte nicht zu Gefühlsausbrüchen. Alles, was darauf hindeutete, dass er sich in Alarmstimmung befand, war, dass er mit den Fingerspitzen über die alte Narbe an seinem Hals fuhr.

»Was ist das?«, keuchte Gabrielle Montoya, die Erste Offizierin der MAGELLAN. Sie starrte nach oben, wo der Holodom nach wie vor nur Weiß zeigte.

»Wenn ich das wüsste«, sagte Deringhouse schmallippig. »Ich warte auf die Meldungen. Warum dauert das so lange?«

Eric Leyden, der norwegische Hyperphysiker, stolperte aus dem Lift. Obwohl er sich festhalten musste, merkte man ihm die Begeisterung an. »Grandios!«, sagte er. »Wunderbar.«

»Der hat mir gerade noch gefehlt«, reagierte Bull knurrig. »Möchte wirklich wissen, was es da zu jubeln gibt.«

»Ist das nicht wunderbar?«, wiederholte Leyden. Sein blondes Haar war die übliche Katastrophe – und wie üblich interessierte ihn das nicht im Geringsten.

»Könnten Sie uns armseligen Geistern verraten, was Sie dermaßen erfreut?«, fuhr Bull ihn an. »Wir alle machen uns gerade in die Hosen, und Sie schnappen beinahe über vor Freude.«

Leyden stutzte. Er musterte den stämmigen Bull vorwurfsvoll. Anschließend setzte er sich auf den nächsten freien Platz. »Beherrschen Sie sich, Mister Bull. Ich bitte Sie.« Das wummernde Brummen verklang. »Ah!«, machte Leyden. »Induzierte Schallwellen. Wunderbar!« Er wischte über ein vor ihm schwebendes Kommunikationsholo. Ein Bild erschien, das ein elektromagnetisches Spektrum abbildete.

»Was wollen Sie uns zeigen?«, verlangte Bull zu erfahren. »Soll das die Erklärung dafür sein, dass wir um ein Haar als organisches Mus an den Wänden geklebt hätten? Dass die Hauptpositronik eine Beschleunigungsphase so kurz vor der Transition abbricht, ist nicht normal.«

Kurz klang etwas wie ein Nachhall des Wummerns auf. Rhodan glaubte für den Bruchteil einer Sekunde, der Boden unter seinen Füßen bewege sich.

Wahrscheinlich reine Einbildung, dachte er grimmig. Menschliche Wahrnehmung ist so unglaublich unzuverlässig.

»Ein Gammablitz!« Das war die Stimme von Mischa Petuchow, dem diensthabenden Ortungs- und Funkoffizier.

»Exakt«, freute sich Eric Leyden.

Rhodan warf dem Chefwissenschaftler einen warnenden Blick zu. »Doktor. Bitte.«

»Ja gut«, fuhr Leyden fort und vergrößerte nicht nur das Spektrum, sondern baute ein zweites Bild auf. »Das ist, nein, das war der Übeltäter, meine Herren«, sagte er.

Zu sehen war ein weißblau glühender Stern. Ein Gigant. Ein Warnsymbol, das neben den Stern projiziert wurde, machte Rhodan sofort klar, dass mit dieser Sonne etwas nicht stimmte. Im äußeren Zentrumsring von Andromeda tummelten sich blaue Riesensterne ohnehin in einer Dichte, die beeindruckend war – und gefährlich.

»Supernova?«, fragte Rhodan beunruhigt. Er beobachtete, wie ein auf der Fläche seiner Arbeitskonsole abgelegter Schreibstift wackelte und zu rollen begann. Rhodan fing ihn auf, als er über die Kante glitt.

Keine Einbildung. Das ist echt ... und ernst!

Die Hauptpositronik hatte offenbar die Kontroll- und Reparaturroutinen aktiviert. Kleine Roboter huschten durch die Zentrale. Einige klebten bereits wie Zecken an Konsolen und Maschinenblöcken, die wichtig waren. Es war eine prophylaktische Prozedur, die selten ablief. Der Bordrechner schien die Belastung, der die MAGELLAN ausgesetzt gewesen war, für gefährlich zu halten, also kamen die externen Prüfmaschinen zum Einsatz. Danach würden zusätzlich die Selbstreparaturmechanismen greifen. Bei Gewaltmanövern wie diesem waren strukturelle Schäden naheliegend.

Das Wummern klang erneut auf. Tiefer als zuvor. Sogar die besten Absorber der Welt konnten in einem derart gewaltigen Körper wie der MAGELLAN nicht alle Resonanzen und Bewegungen abfedern. Das war unmöglich.

Leyden tauchte förmlich in eine Wolke unterschiedlichster Hologramme ein. Seine Stimme zeigte durch ihren abwesenden Tonfall, dass andere Dinge ihn stärker beschäftigten. »Ja. Wir sind direkt in einen abgestrahlten Gammablitz hineingeflogen. Er hat uns eigentlich nur gestreift, aber die gemessene Energie ist grandios.« Er unterbrach sich kurz und lachte gepresst. »Unglaublich ... über vierhundertfünfzig Kiloelektronenvolt.«

Er drehte sich zu den anderen um und trat aus der Bildwolke heraus. »Das war der Schlag, den die MAGELLAN erhalten hat. Kein Wunder, dass die Hauptpositronik sämtliche verfügbaren Energien in den Libraschirm geleitet hat. Ein Volltreffer ...« Er unterbrach sich kurz und räusperte sich. »Diese Abstrahlungen sind so stark wie die Energieabstrahlung unserer Heimatsonne über einen Zeitraum von hunderttausend Jahren.«

Bull war bleich. »Ach du Schei... Aber woher kommt das? Die Beschleunigungsstrecke war frei, sonst hätte die Positronik den Sprung niemals zugelassen.«

Petuchow musterte de Vasconcelos, die wütend versuchte, einen Knoten in ihre pechschwarze Haarmähne zu schlingen.

Sie bemerkte den Blick des Funk- und Ortungschefs offenbar.

»Das ist verdammt noch mal nicht meine Schuld!«, fauchte die Pilotin. »Als ob ich solche astrophysikalischen Abartigkeiten riechen könnte!«

Bull winkte ab. »Wissen wir, de Vasconcelos.« Er versuchte augenscheinlich, in dem holografischen Chaos, das Leyden umschwirrte, etwas Sinnvolles zu erkennen, und scheiterte. »Ich erinnere mich an Berichte der astronomischen Institute. Darin hieß es, diese Gammablitze seien meist zu schwach, um die Erdatmosphäre komplett zu durchdringen. Die Schäden beträfen die obere Atmosphäre und deren Stabilität. Also eine sekundäre Wirkung, so verheerend sie auch wäre. Wie kann so etwas die MAGELLAN in Schwierigkeiten bringen?«

Leyden sah Bull für einen kurzen Moment verständnislos an, dann nickte er. »Die Gammaausbrüche, von denen Sie da reden, fanden in großen, häufig sehr großen Entfernungen statt. Dieser nicht!«

»Wie weit?«, wollte Rhodan wissen.

Leyden machte eine ausladende Geste. »Ein paar lächerliche Lichtwochen ... Eins Komma drei, um genau zu sein. Direkt nebenan sozusagen. Wir sind im Zentrum Andromedas. Diese Galaxis ist größer als die Milchstraße. Das supermassereiche Schwarze Loch im Zentrum ist gewaltig; die Sternendichte ist erheblich kompakter als im Bereich der Spiralarme. Sogar im äußeren Zentrum stehen die Sonnen häufig bloß ein paar Lichttage oder sogar -stunden auseinander.«

De Vasconcelos mischte sich ein. »Es hat ja wohl seinen Grund, warum wir eher hüpfen als springen. Die letzten drei Transitionen waren kaum der Rede wert. Kein Wunder, dass wir nicht vorankommen. Aber bei diesem Flug müssen wir ständig sich schnell bewegenden Hindernissen ausweichen. Die Sonnen haben Geschwindigkeiten, wie wir das aus den Spiralarmen nicht kennen.«

Leyden schaute einen Moment lang auf ihren schief geratenen Haarknoten. Er entschied sich wohl gegen eine Bemerkung. Ein Streit mit de Vasconcelos wäre anstrengend. Also fuhr er fort: »Außerdem kriechen wir förmlich durch einen Ring aus Blauen Riesen, wie ich sie mir bisher niemals vorgestellt habe. Die Aktivität ist enorm und die normale Strahlenbelastung ist sehr viel höher, als wir das gewohnt sind. Der explodierte Stern entsprach dem Bild, das ich Ihnen gerade gezeigt habe. Wir verfügen über einige astronomische Grundlagen über Andromeda, wie Sie wissen. Der Art der Blitzes nach zu schließen, ist der Blaue Riese mit einem kleinen Schwarzen Loch zusammengestürzt, das ihn umkreist hatte. Die anderen Messwerte unterstützen diese These.« Er seufzte leise. »Ich hätte das gern aus der Nähe beobachtet.«

Bull keuchte. »Näher? Mir reichen die eins Komma drei Lichtwochen.«

»Man wird ja wohl noch träumen dürfen? Ich meinte das metaphorisch, Mister Bull«, murmelte Leyden. Er war längst mit etwas anderem beschäftigt. Der Hyperphysiker winkte ein Astroholo zu sich. Ein Hertzsprung-Russel-Diagramm baute sich auf.

Rhodan und die anderen sahen sich mit einer Ballung gewaltiger blauer Sterne konfrontiert. Sterne wie Alnitak, Deneb, Rigel oder Bellatrix in der Milchstraße kamen Rhodan in den Sinn. In Andromeda zog sich ein vom menschlichen Verstand kaum fassbarer Ring aus solchen Giganten um das Kerngebiet. Blaue Riesen führten ein sehr kurzes, wildes Leben und ihr Tod war grundsätzlich katastrophal. Wie viele Supernovae es in diesem Blauen Ring durchschnittlich geben mochte? Rhodan fragte sich, warum sich diese Umgebung erst nun derart bemerkbar machte. Leydens Aussage zufolge war einer dieser Sterne in einer Supernova explodiert – in viel zu großer Nähe.

Leyden beobachtete ihn offenbar. Außerdem schien er Rhodans Frage zu erraten. »Wir nähern uns dem Zentrum von außen – mit ziemlich niedriger Geschwindigkeit; Sprungrate, sollte ich wohl sagen. Diese Phänomene werden an Häufigkeit zunehmen, dessen dürfen Sie sich sicher sein! Das war nur ein Warnschuss.«

Wie um Leydens Worte zu unterstreichen, war erneut das dumpfe Wummern zu hören; nur ein paar Sekunden lang, beinahe wie ein Echo.

Deringhouse rieb sich den kurzen, grauen Bart, sodass es leise raschelte. »Sieht aus, als hätten wir Glück gehabt, wie?«, fragte er mit kratziger Stimme. »Aber woher kommen diese merkwürdigen Vibrationen?«

»Restvibrationen«, lieferte Tim Schablonski die Antwort. Der Chefingenieur der MAGELLAN hatte die Zentrale kurz nach Leyden betreten. An diesem Ort liefen die Schadensmeldungen sehr viel schneller und konzentrierter ein als anderswo im Schiff. Eine Weiterleitung wäre möglich gewesen, aber Schablonski zog die Zentrale vor. Er hatte sich eine Übersicht verschafft und wirkte einigermaßen zufrieden. »Die Schadensmeldungen sind komplett. Ein paar Gläser sind zu Bruch gegangen, könnte man sagen, aber die vitalen Systeme arbeiten einwandfrei. Die Schäden könnte man beinahe kosmetisch nennen. Die MAGELLAN hält sich wacker, das muss man sagen. Die FERNAO hat ebenfalls Klarschiff gemeldet. Kommandant Rainbow lässt gerade die Kopplungsmechanik testen, rechnet aber nicht mit Schwierigkeiten.« Schablonski deutete auf die Holos der Außenbeobachtung. »Wir werden nach wie vor von Strahlung förmlich bombardiert. Die Plasmadichte ist deutlich erhöht, aber nicht nur das. Sieht aus, als absorbiere das interstellare Medium einen beträchtlichen Teil der abgestrahlten Energie. Wie haben einiges abbekommen, aber nicht annähernd so viel, wie das möglich gewesen wäre. Wir nähern uns der Uklan-Dunkelwolke, ganz wie Baar Lun sagte. Diese Suppe stammt nicht ausschließlich von den Supernovae, die es in diesem Umfeld ohne Frage wie Sand am Meer gibt. Es war Pech, dass wir sozusagen in einen akuten Ausbruch hineingeflogen sind.«

Petuchow feixte. »Der Mann macht gerade meinen Job, aber wo er recht hat, hat er recht. Ich habe da nichts hinzuzufügen!«

Leyden war nach wie vor begeistert. »Sie sagen es, alle beide, Sie sagen es überdeutlich. Ist das nicht toll? Nach diesen Messdaten leckt sich jeder irdische Wissenschaftler die Finger. Und wenn ich's recht überlege, wahrscheinlich auch jeder arkonidische!«

»Aber nicht jeder liduurische?«, fragte Bull missmutig.

Leyden kicherte. »Aber nicht doch. Die Liduuri können Sonnentransmitter nutzen, und vielleicht sind sie in der Lage, selbst welche zu bauen. Für die ist das kalter Kaffee.«

»Haben Sie gefrühstückt?«, erkundigte sich Deringhouse ironisch. »So gut gelaunt sind Sie selten.«

Leyden brummte etwas Unverständliches. Einige der dargestellten Messergebnisse schienen ihn zu beschäftigen, er war wieder abgelenkt. »Die Teilchendichte nimmt beunruhigend schnell zu! Schablonski hat völlig recht.« Der Hyperphysiker wischte mit der Hand durch die Luft, als könne er damit etwas daran ändern.

Bull grinste, Deringhouse hingegen verzog keine Miene. Der Kommandant der MAGELLAN kannte den Hyperphysiker und dessen Eigenheiten ebenso wie alle anderen.

Leyden konzentrierte sich allerdings auf etwas anderes. »Das könnte für uns einen Vorteil bedeuten!«, sagte er.

Vor den Männern schwebte eine astronomische Projektion, auf der sie die weitere Umgebung des Raumschiffs sahen. Eine dunkelrote Linie zog sich verschlungen durch das Sternengewirr. Die MAGELLAN bewegte sich seit einiger Zeit mit reduzierter Geschwindigkeit durch den äußeren Zentrumsring Andromedas. Baar Lun hatte ihn als den »Blauen Ring« bezeichnet. Damit bezog sich der Modul auf die ungewöhnlich hohe Population blauer Riesensterne, von deren Gewalttätigkeit die MAGELLAN gerade eben Zeuge geworden war. Weiter innen änderte sich das Bild, und alte, rote Sterne dominierten. Eine Erklärung hatte der Modul dafür nicht. Der Kurs legte Zeugnis davon ab, wie schwierig die Navigation in einer derart aktiven Gegend war. Das energetische Chaos und die Sternendichte zwangen die Piloten zu extrem kurzen Transitionen, gefolgt nicht nur von den üblichen Refraktionsphasen, sondern gleichzeitig von intensivster Ortungsarbeit. Kaum etwas war in diesem Hexenkessel dauerhaft oder stabil. Dass die Pilotin nicht gerade begeistert war, verstand sich von selbst.

»Ein Vorteil?«, erkundigte sich Bull, dem Leydens Äußerung offenbar nicht einleuchten wollte.